De facto Abtreibungsverbot in Polen - Abtreibung per Paketdienst

Seit vergangener Woche gibt es in Polen de facto ein Abtreibungsverbot. Es beruht auf einem Urteil des Verfassungsgerichts, das Frauen sowie Ärzte verunsichert und illegalen Abtreibungen neuen Schwung gibt.

Polnische Demonstranten protestieren gegen de facto Abtreibungsverbot / dpa
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Thomas Dudek kam 1975 im polnischen Zabrze zur Welt, wuchs jedoch in Duisburg auf. Seit seinem Studium der Geschichts­­wissen­schaft, Politik und Slawistik und einer kurzen Tätigkeit am Deutschen Polen-Institut arbei­tet er als Journalist.

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Eigentlich hätte das umstrittene Abtreibungsurteil des polnischen Verfassungsgerichts vom 22. Oktober vergangenen Jahres, laut dem Schwangerschaftsabbrüche bei irreparablen Schäden des Embryos gegen die polnische Verfassung verstoßen, spätestens am 3. November im Gesetzesblatt veröffentlicht und somit Inkrafttreten müssen.

So sieht es jedenfalls die polnische Gesetzgebung vor, laut der Urteile des Verfassungsgerichts spätestens zwei Wochen nach ihrer Verkündung im Gesetzesblatt veröffentlicht werden müssen. Doch wohl auch wegen der landesweiten Proteste gegen das Urteil ließ man sich Zeit. Erst am Mittwoch vergangener Woche, mit einer Verspätung von drei Monaten, veröffentlichte das Verfassungsgericht seine Urteilsbegründung. Kurz darauf erschien diese auch im Gesetzesblatt.

De facto Abtreibungsverbot

Damit herrscht nun in Polen, das schon mit der als „Kompromiss“ bekannten Regelung von 1993 eines der schärfsten Abtreibungsgesetze in Europa hatte, de facto ein Abtreibungsverbot. Erlaubt sind nur noch Schwangerschaftsabbrüche bis zur 12. Woche bei Vergewaltigung, Inzest und einer Gefahr für die Gesundheit der Mutter. Gründe, die in der Praxis jedoch kaum eine Rolle spielten. Von den rund 1.100 offiziellen Abtreibungen, die es 2019 gab, wurden 1.074 wegen irreparablen Schäden des Embryos durchgeführt.

Wie schon die Urteilsverkündung, sorgte auch die Veröffentlichung des Urteils für landesweite Proteste, auch wenn diese nicht die Ausmaße hatten, wie noch vor drei Monaten. Diskussionen gibt es auch um die Urteilsbegründung selbst. Diese befassen sich nicht nur mit der Argumentation des Verfassungsgerichts, sondern auch mit der Frage, ob das Urteil überhaupt von einem legitim zusammengesetzten Verfassungsgericht gesprochen wurde und somit rechtskräftig ist. Nachdem die nationalkonservative PiS im November 2015 an die Regierung kam, brachte sie das Verfassungsgericht durch Doppelbesetzung von Richterposten unter ihre Kontrolle.

Weitreichende Folgen für Schwangere

Doch all die Diskussionen um die Argumentation und die Legitimität des Verfassungsgerichts ändern nichts an der Tatsache, dass das Abtreibungsurteil für die betroffenen Frauen weitreichende Folgen hat, die bereits mit den medizinischen Untersuchungen während der Schwangerschaft beginnen. „Die Patientinnen können das Interesse verlieren, pränatale Untersuchungen durchzuführen“, warnte Ende vergangener Woche Mirosław Wielgoś, Chefarzt der gynäkologischen Klinik an der Warschauer Medizinischen Universität, in einem Interview mit der Fachzeitschrift Menedżer Zdrowia „Einige Frauen werden Angst haben, dass sie keinen Einfluss auf den weiteren Verlauf der Schwangerschaft haben werden, wenn sie von irreparablen Schäden der Embryos erfahren“, so der Mediziner. Was nach Meinung von Wielgoś fatale Folgen für das Kind und die Mutter haben könnte. „Damit berauben sie sich, wenn diese möglich ist, einer Behandlung des Embryos innerhalb der Gebärmutter und der in solchen Situationen benötigten Versorgung während der Schwangerschaft.“

Das Urteil des Verfassungsgerichts könnte aber auch dazu führen, dass Ärzte aus Angst vor Konsequenzen Pränataltherapien verweigern, wie Wielgoś in dem Interview ebenfalls einräumen musste. „Wir wollen zukünftig sicherlich nicht das Gefühl haben, dass über unseren Köpfen schon der Staatsanwalt schwebt“, erklärte der Hochschulmediziner und verwies dabei auf mögliche Komplikationen, die bei solchen Eingriffen auftreten und als Beihilfe zum Schwangerschaftsabbruch gedeutet werden könnten. Ähnlich äußerten sich in den letzten Monaten und Wochen auch andere Gynäkologen und Ärztevereinigungen.

Unterstützung für Betroffene

Wie groß die Angst der Ärzte in Polen bereits in den vergangenen Wochen war, noch bevor die umstrittene Entscheidung des Verfassungsgerichts im Gesetzesblatt veröffentlicht wurde, zeigen die jüngsten Erfahrungen der in Berlin ansässigen und seit 2015 tätigen Organisation „Ciocia Basia“ (Tante Basia), die polnischen Frauen hilft, Abtreibungen entweder in der deutschen Hauptstadt oder anderen europäischen Staaten wie den Niederlanden durchzuführen. „Im Januar haben wir 16 Frauen geholfen. Ein Drittel der Frauen hätte theoretisch den Schwangerschaftsabbruch auch noch legal in Polen durchführen können, da an den Föten irreparable Schäden festgestellt wurden“, berichtet Urszula Bertin, Mitarbeiterin von „Ciocia Basia“, gegenüber Cicero.

Fraglich ist, zumindest bis jetzt, wie der polnische Staat die vom Urteil betroffenen Mütter und Väter zukünftig unterstützen wird. Obwohl das Verfassungsgericht bereits vor drei Monaten sein Urteil gesprochen hat, haben die regierenden Nationalkonservativen bis heute kein Projekt vorgestellt, welches sich mit der Hilfe für die Eltern schwerbehinderter und missgebildeter Kinder beschäftigt. Das Justizministerium hat zwar angekündigt, ein eigenes Projekt vorzustellen, doch bisher ist lediglich bekannt, dass dieses eine besondere Betreuung in Krankenhäusern und Hospizen vorsieht. Dabei wäre ein weitreichendes Hilfsprogramm auch ohne das de facto-Abreibungsverbot durch das Verfassungsgericht schon seit Jahren notwendig. In Polen bekommen Eltern behinderter Kinder monatlich lediglich um die 450 Euro als Unterstützung. Auf den Kosten für teure Therapien, spezieller Kinderwagen oder Betten, bleiben die Eltern sitzen.

Ob aber auch ein staatliches Unterstützungsprogramm die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche reduzieren wird, darf jedoch bezweifelt werden. Laut Schätzungen werden in Polen jährlich zwischen 100.000 und 150.000 illegaler Abtreibungen durchgeführt. Entweder unter Aufsicht von Gynäkologen, nicht selten auch von Quacksalbern, häufig aber auf eigene Faust. „Viele Frauen bestellen sich über das Internet einfach die Abtreibungspille“, erzählt Urszula Bertin. Und wer es sich leisten kann, fährt für eine Abtreibung ins Ausland. Es ist jedenfalls ein boomendes und lukratives Geschäft. Rund 100 Millionen Euro sollen so nach Meinung von  Experten jährlich umgesetzt werden. Und daran wird auch das Urteil des Verfassungsgerichts nichts ändern.

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