Corona-Krise und Geopolitik - Es geht um die Zukunft Europas!

Gnadenlos legt Corona die Schwäche Deutschlands und der EU offen. Wir befinden uns mitten in einer Systemkrise. Wenn die Politik das nicht begreift und entsprechend handelt, werden andere über unsere Zukunft bestimmen.

Rückzug aus dem Irak: Die Verteidigungsministerin schickt die Bundeswehr aus Sorge vor Corona nach Hause / picture alliance
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Autoreninfo

Erich Vad war General der Bundeswehr, langjähriger militärpolitischer Berater der Bundeskanzlerin und ist jetzt Unternehmensberater und Dozent an mehreren Universitäten im In- und Ausland.

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Deutschland wird ein weitgehend funktionierendes Krisenmanagement in der Corona-Pandemie attestiert. Dennoch hat man in dieser Krise den Eindruck, dass die Bundesrepublik meist nur bei den Nachbarländern abguckt, was als Nächstes zu tun ist. Hauptsache „kein Sonderweg“! Dieses politische Mantra eines in seiner Geschichte oft gescheiterten Landes kann den Blick auf die tatsächliche Lage und seine Erfordernisse verstellen – national wie international. Deswegen wirken viele getroffene und beabsichtigte Maßnahmen so korrekt, so stark von den Medien getrieben – und weniger sach- und situationsorientiert.

Insbesondere ist ein gewisses politisches Absicherungsdenken mit Blick auf bisweilen widersprüchliche Äußerungen unserer TV-Virologen unverkennbar. Sie wirken wie Hohepriester, inszeniert in einem medialen Hochamt. Aber verfassungsrechtlich und politisch sind diese Experten nicht legitimiert zu sagen, wie und wohin es weitergeht. Das muss Sache der politischen Entscheidungsträger bleiben, kontrolliert von einem Parlament, das Mühe hat, in dem Szenario seine verfassungsgemäße Rolle zu spielen. Dabei verhindert der bisweilen gebannte, medial getriggerte und zum Teil hysterisch wirkende Fokus auf Corona den Überblick. Er lässt die sich unaufhörlich weiter entwickelnde internationale Gesamtlage weitgehend außen vor.

Nato-Manöver vor dem Aus

Die nicht-gesundheitlichen, aber gleichwohl existentiellen Folgen und Nebenwirkungen von Corona drohen aus dem Blickfeld zu geraten: Das Nato-Manöver „Defender 2020“, bei dem es um die Bündnisverteidigung nach Artikel V des Nato-Vertrags geht, läuft seit Ende Januar mit circa 20.000 Soldaten. Es ist das größte Nato-Manöver seit Ende des Kalten Krieges und ist ein gerade für die osteuropäischen Bündnisstaaten wichtiges politisches Signal transatlantischer Geschlossenheit. Da sich der kommandierende US-General Christopher Cavoli bei einer Nato-Konferenz mit Corona infiziert hat, steht der weitere Verlauf des Manövers zur Disposition. Auch andere internationale und bilaterale Militärübungen der Nato stehen wegen Corona vor dem Aus.

Die Bundeswehr, die – wie der letzte Bericht des Wehrbeauftragten aufzeigt – nicht mehr zur Landesverteidigung befähigt ist, zieht vorsichtshalber wegen Corona ihre Soldaten aus dem Irak ab. Die Begründung auch hier: Der Schutz der Gesundheit der Soldaten habe oberste Priorität. Aber wer schützt unserer Land, wenn die eigene Armee nicht mehr funktioniert? Wie steht es um die Glaubwürdigkeit unserer nationalen Sicherheit in Europa, wenn unsere Soldaten schon bei Corona-Verdacht nach Hause geschickt werden? Wie wird der russische Generalstab in Moskau das interpretieren? Und welche Schlussfolgerungen wird man daraus ziehen müssen?

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Putin hat das Vakuum genutzt

Mit Blick auf Syrien einigen sich derweil der türkische Präsident Erdogan und Russlands Staatschef Putin über alle Köpfe hinweg bilateral über das weitere Vorgehen. Putin und der Kreml haben dabei das Heft des Handels in der Hand. Er schreibt dem Nato-Mitglied Türkei vor, was zu tun ist; die beabsichtigte Rückeroberung der Region Idlib durch die Türkei hat zu unterbleiben.

Millionen weiterer Syrer können dadurch nicht in ihre Heimat zurück. Sie werden zu Flüchtlingen im syrisch-türkischen Grenzgebiet; Corona beginnt auch hier sich auszubreiten. Ein Potential, das die europäische Flüchtlingskrise weiter verstärken wird. Es steht außer Zweifel: Putin hat das vor Jahren geschaffene geopolitische Vakuum im Mittleren Osten erfolgreich für sich genutzt.

Haupteinfallstor Libyen

Libyen dürfte folgen. Die Berliner Konferenz vom Januar hatte zwar die externen Konfliktparteien an den runden Tisch gebracht. Aber die EU hat absehbar nicht die Kraft, das beschlossene Waffenembargo zu unterbinden, geschweige denn den ungehinderten Zustrom von Waffen und Munition an tausende islamistische Kämpfer sowie an den durch Russland unterstützten Warlord General Haftar. Libyen ist das Haupteinfallstor für illegale Migration nach Europa – und es wird nicht durch uns kontrolliert. Abgesehen von wohlfeiler diplomatischer Rhetorik der Europäer wird Russland auch hier zum geopolitischen Türsteher oder Türöffner – je nach Belieben des Kreml.

Wie gehen wir Europäer mit diesem geostrategischen Dominospiel Russlands um? Lassen wir das alles, quasi vor unserer europäischen Haustür, weiterlaufen? Wann erkennen wir, dass die nordafrikanische Küstenlinie eine vitale europäische Interessensphäre ist? Unterdessen verschärft sich – auch aufgrund von Corona – die Lage im griechisch-türkischen Grenzgebiet.

Die Türkei hetzt Flüchtlinge gegen die EU auf 

Hier „motiviert“ die Türkei auf vielfältige Weise, die Flüchtlinge in überfüllten, menschenunwürdigen Lagern, sich auch mittels Gewalt und militanter Ausschreitungen ihren Weg nach Europa zu bahnen. Es ist absehbar, dass die überforderten Griechen und die gut bezahlten, aber dafür nicht befähigten EU-Polizisten von Frontex das nicht stoppen können. Noch dazu drohen in Europa wegen der wirtschaftlichen Auswirkungen der aktuellen Krise soziale Unruhen – und zwar nicht nur in Süditalien. Erste Plünderungsaktionen sind bereits im Gange.

Sind wir darauf, auch in Deutschland, vorbereitet ? Wann fangen wir an, unsere europäischen Außengrenzen effektiv zu schützen? Unsere alte Führungsmacht für die Sicherheit Europas, die USA, hat sich abgemeldet – politisch wie militärisch. Nach dem massiven Abbau der US-Präsenz in Europa und der Reduzierung der 6. US-Flotte im Mittelmeer dürfen die Europäer hier kein weiteres strategisches Vakuum entstehen lassen. Im Gegenteil: Die EU muß sich hier viel aktiver einbringen als bisher.

Systemwettbewerb zwischen USA und China 

Statt unrealistischen Visionen wie der von einer europäischen Armee hinterherzulaufen, sollten die Europäer und auch wir Deutsche uns den Sicherheitsaufgaben widmen, die uns unmittelbar betreffen. Zum Schutz des Schengen-Raums und der EU-Außengrenzen braucht die Europäische Union dringend eine gemeinsame, multinationale Grenzschutztruppe, die zu Lande, zu Wasser und in der Luft zum Einsatz kommt.

Auf der großen geopolitischen Bühne findet derzeit auch hinsichtlich Corona ein regelrechter Systemwettbewerb zwischen den USA und China statt. Das schillernde, widersprüchliche internationale Krisenmanagement des US-Präsidenten und die Endzeitstimmung verbreitenden Bilder der Corona-Seuche in New York stehen im scharfen Kontrast zu den geordneten, internationalen Unterstützungsmaßnahmen Chinas zur Eindämmung der Pandemie. Ganz offensichtlich spielt sich China als das vorbildliche, erfolgversprechende politische Modell für die Welt auf, das den Umgang mit internationalen Krisen wie Corona zu meistern versteht. Das internationale Image Chinas profitiert definitiv von Corona. Bereits während der Finanzkrise von 2008 präsentierte sich China als handlungsfähige und führungsstarke Nation. Bei Corona ist es ähnlich. Es ist absehbar, dass China am Ende auf der geopolitischen Gewinnerseite steht.

Die EU ist besser für Schönwetterlagen geeignet

Müsste sich da nicht insbesondere auch Europa als internationaler Akteur und als „Friedensmacht“ von seiner besten Seite zeigen? Immerhin betrifft die Pandemie doch die europäische Zivilgesellschaft im Kern. Stattdessen stellt EU-Europa auch im Corona-Krisenmanagement seine Macht- und und Gestaltungslosigkeit unter Beweis. Von europäischer Solidarität ist wenig zu spüren, auch wenn Deutschland mitunter durchaus vorbildlich agiert. Tatsächlich scheint die EU weniger für akute Krisen als vielmehr für politische Schönwetterlagen oder utopische Visionen wie einen „Green Deal“ oder eine eigenständige Verteidigungsunion geeignet zu sein.

Ähnlich wie in der Finanzkrise 2008 geht es hier faktisch nur um finanzielle Um- und Lastenteilung, wobei viele das reiche, alte und in machtpolitischer Hinsicht schwache Deutschland im Blick haben. Die Menschen in der EU schauen auf die Akteure in den nationalen Hauptstädten. Wenn es in der EU in den nächsten Wochen zu dauerhaften Unternehmensschließungen und Massenarbeitslosigkeit kommt, dann steht das viel beschworene europäische Friedensprojekt Europa zur Disposition. Es wird jetzt mit aller Dringlichkeit darauf ankommen – und zwar auch aus deutschem Interesse heraus –, dieses Szenario zu verhindern.

Kritische Zeit nach Corona

Was bedeuten diese Entwicklungen für Deutschland? Wir müssen trotz starker Fokussierung auf die Corona-Krise unser internationales Umfeld und die neue Zeit nach Corona im Auge behalten. Wir werden national wie international in schweres Fahrwasser geraten. Dafür müssen wir uns rechtzeitig fit machen und vor allem den Umgang mit Risiken und ein gesamtstaatliches Krisenmanagement neu lernen. Wir brauchen dringend eine ressortübergreifende Gesamtstrategie für Deutschland und entsprechende Institutionen wie einen Nationalen Sicherheitsrat, um uns als Bundesrepublik je nach Lage und angesichts der internationalen Entwicklungen immer neu aufzustellen beziehungsweise neu zu justieren.

Dazu gehört eine gesamtstaatliche, ressortübergreifende (und nicht nur eine gesundheitliche) Exit-Strategie für die kritische Zeit nach Corona. Vor allem müssen wir – gerade in einer Krise wie der jetzigen – mehr Führungsstärke in und für Europa zeigen. Es reicht nicht aus, die internationalen Entwicklungen einfach nur mit Betroffenheit zu kommentieren und ansonsten laufen zu lassen. Entweder, wir Europäer gestalten die Entwicklungen maßgeblich mit. Oder unsere Zukunft wird von anderen gestaltet.

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