Warum ist die Infektionsrate in Tschechien so hoch? - Nur jeder zweite Infizierte bleibt zu Hause

In kaum einem anderen Land der Welt sind so viele Menschen mit Covid-19 infiziert wie in Tschechien. Experten führen das auf das Versagen der Regierung zurück. Innerhalb eines halben Jahres hat sie schon zum dritten Mal den Gesundheitsminister gewechselt. Und dann ist da noch der Ischgl-Effekt.

Bei Grenzkontrollen an den Übergängen zu Tschechien und Tirol sind in der letzten Woche fast 16.000 Menschen zurückgewiesen worden /dpa
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Helena Truchla lebt in Tschechien und arbeitet als Journalistin für die Zeitungen aktualne.cz und Hospodarske noviny daily newspaper.

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Es war das Ende eines heißen und sorglosen Sommers. „We are best in Covid“, lobte am 31. August 2020 der tschechische Premierminister Andrej Babiš die pandemische Lage. Seine zweideutige Behauptung ist mittlerweile ein Klassiker. Anfang Januar hatte Tschechien die höchste 7-Tage-Inzidenz weltweit. Jetzt liegt das Land zwar nur noch auf Platz drei, hinter Andorra und Montenegro. Doch die Lage spitzt sich jetzt wieder zu. 

Die Zahl der Patienten, die in Krankenhäusern mit schwerem Verlauf des Covid-19 behandelt werden, erreichte letzte Woche einen Höhepunkt. Ärzte aus vielen Regionen, einschließlich der Hauptstadt Prag, berichten über Knappheit der Intensivbetten. In einem Land mit zehn Millionen Einwohnern melden die Behörden seit fast einer Woche mehr als 10.000 Neuinfektionen pro Tag. 19.000 Menschen sind an Covid-19 gestorben. Mitte Februar schloss Deutschland seine Grenzen zu Tschechien fast luftdicht. 

Eine milde erste Frühlingswelle

Gerade in dem Land, wo die erste Frühlingswelle des vergangenen Jahres im Vergleich zu Westeuropa so mild war. Wo die Bevölkerung seit März massenweise Masken zu Hause genäht hat, um sie dann auch draußen in Parks zu tragen. Was ist passiert mit Tschechien, wo bald schon eine vierte Corona-Welle droht? 

„Es ist schon einige Zeit her, als die Geschichte anfing. Im Oktober begannen wir die zweite Welle zu bremsen. Aber dann gab es im Dezember vorzeitige Lockerungen“, sagt Jan Kulveit, ein tschechischer Experte der Oxford Universität. Im Herbst 2020 beteiligte er sich an der Schaffung eines Systems, mit dem das Gesundheitsministerium die notwendigen Maßnahmen bestimmen wollte. Die Regierung wich jedoch bald von diesem System ab, als sie trotz Warnungen von Experten beschloss, vor Weihnachten Geschäfte und Restaurants zu öffnen.

Schneller, tödlicher und ansteckender 

Kulveit verglich die Lage damals mit dem Tachometers in einem Fahrzeug. Obwohl das Auto bereits viel zu schnell fährt, schaut der Fahrer nicht mehr auf die Geschwindigkeit. „Es verursachte eine dritte Welle im Januar. Jetzt droht schon eine weitere“, erklärt er gegenüber Cicero. Die erwartete vierte Welle wird aber anders: Die hochansteckende britische Variante des Coronavirus wird für das maßgebend. Nach den neuesten Angaben des Gesundheitsministeriums beträgt der Anteil der B.1.1.7 Variante an den landesweit festgestellten Corona-Infektionen schon heute etwa 40 Prozent. In den Regionen entlang der deutschen Grenze liegt ihr Anteil aber nachweislich bereits bei über 80 Prozent, weitere Städte melden Werte gut über 50 Prozent. 

„Man kann es sich als zwei überlappende Epidemien vorstellen. Jetzt haben wir eine Epidemie der britischen Variante. Und die Maßnahmen, die vorher ausreichend waren, werden nicht mehr genügen. Deshalb hat sich der rückläufige Trend von Neuinfektionen umgekehrt“, fügt Kulveit hinzu. Nach den neuesten Erkenntnissen britischer Wissenschaftler breitet sich der B.1.1.7 Mutant bis zu 45 Prozent schneller aus, er ist wahrscheinlich auch tödlicher, und infizierte Mensch bleiben länger ansteckend.

Ein Land der Märchen

Mit seinem Schwerpunkt auf die neue Mutation weicht Kulveit von dem Mehrheitsbild ab. Ein Bild, das diejenigen sehen, die regelmäßig Nachrichten verfolgen und der Regierung zuhören. Die Politiker beteuern, dass die Maßnahmen nicht funktionieren, weil viele Menschen sich an sie nicht halten. „Die Lösung ist ein bewusster Ansatz von jedem von uns, nicht neue Einschränkungen“, sagte Gesundheitsminister Jan Blatný (von der ANO-Bewegung des Premierminister Babiš) auf einer der letzten Pressekonferenzen. Er ist erst seit Ende 2020 im Amt. Auf dem Höhepunkt der Krise löste er den von Babiš geschassten Roman Prymula ab, der seinerseits nur fünf Wochen im Amt war. 

„Es gibt jedoch nicht viele Daten, die belegen, dass die Regeln in Tschechien weniger eingehalten würden als zuvor“,  sagt Kulveit. Ihm zufolge dürfte die Einhaltung von Beschränkungen auch nur relativ geringer sein als „an vielen Orten in Europa“, was aber allein die verschlechternde epidemiologische Situation der letzten Wochen nicht erklärt. Er bezieht sich auf soziologische Daten, die bestätigen, dass die Menschen jetzt ungefähr so viele Kontakte haben wie im November. 

Land ohne Regeln 

Das Medienimage eines Landes ohne Regeln wird jedoch durch eine Reihe anekdotischer Beweise aus den Skigebieten gestützt. „Januar und Februar sind die Monate, in denen Menschen in die Berge fahren. Ich habe mehrere Bekannte, die Gäste unterbringen, und sie sind komplett besetzt. Offene Kneipen werden immer häufiger, es finden immer mehr Hauspartys statt“, sagt Matěj Hollan, einer der Initiatoren der Corona-Flächentests in der zweitgrößten Stadt Tschechiens, Brünn. Restaurants sowie nicht-essentielle Geschäfte und Hotels, aber auch Ski-Ressorts müssten aber eigentlich geschlossen bleiben. 

Die Daten von Mobilfunkbetreibern stimmen mit den Behauptungen von Hollan überein. Sie zeigen, dass die Menschen im Januar tatsächlich in größeren Mengen als zuvor die günstigen Schneebedingungen ausgenutzt haben. Der Ischgl-Effekt. Viele beliebte Ferienorte gehören zum nordböhmischen Bezirk Trutnov, der seit dem 12. Februar aufgrund der schlechten epidemischen Lage isoliert ist. Die dortige 7-Tage-Inzidenz überstieg deutlich 1.000 Fälle. Eines steht aber doch fest: Laut Statistik infizieren sich die meisten Menschen nicht im Urlaub, sondern bei der Arbeit. Und das betrifft Arbeitskräfte in Werkstätten und Warenhäusern wie auch Mitarbeiter in Büros.

Strategielosigkeit der Regierung 

Kulveit und Hollan wie auch viele andere Experten sind sich in einer Sache einig: Die tschechische Coronavirus-Katastrophe ist größtenteils auf das Versagen der tschechischen Regierung zurückzuführen. „Sie sollten sich selbst die Frage stellen, was das Ziel ist. Beispielsweise, dass wir bis Ende April eine Millionen Menschen aus Risikogruppen geimpft haben möchten, um die Epidemie auf das Niveau des letzten Frühlings bringen. Aus Expertensicht wären dafür zuerst noch strengere Einschränkungen notwendig“, sagt Kulveit. Dagegegen hat die tschechische Regierung aber bis letzte Woche über eine Lockerung nachgedacht, und zwar wollte sie sogar alle Geschäfte wieder öffnen. Am Ende ist dies nicht geschehen, und gefährdet ist jetzt sogar auch die geplante Rückkehr der Schüler in Schulen im März.

Und die Strategielosigkeit herrscht weiter. Obwohl sich die Vorschläge mit denen in der Krise überraschend ähneln: „Die Regierung sollte große Unternehmen dazu bringen, massenhaft zu testen. Zum Beispiel der Autohersteller Škoda tut es jetzt schon freiwillig“, sagt Kulveit. Er erwähnt auch eine unzureichende Entschädigung für den Einkommens- oder Gewinnverlust von Arbeitnehmern und Unternehmern. 

Hoffnung durch neues Pandemiegesetz 

Genau der Meinung sind auch drei Experten des Nationalen Wirtschaftsrates, die die Regierung in Zeiten der Pandemie beraten. „Finanzielle Anreize für Selbstisolierung, Einführung von Pflichttests – insbesondere in Industrie-, Lager- und Produktionsanlagen. Einlösung eines positiven PCR-Tests, Kontrolle der Einhaltung der Quarantäne, Einführung einer klareren Entschädigung für geschlossene Restaurants“, forderten die Soziologen und Ökonomen letzte Woche.

Der Grund ist klar. Laut einer Umfrage vom Januar bleiben nur weniger als die Hälfte der Tschechen mit Symptomen von Covid-19 zu Hause. Einer der Hauptgründe dafür ist laut Soziologen die Angst vor der finanziellen Belastung durch die Quarantäne. Ihre Einhaltung wird von den Behörden kaum kontrolliert. Zumindest teilweise könnte sich dies ab Ende Februar verbessern, wenn ein neues Pandemiegesetz in Kraft tritt. Es wird den wiederholt verlängerten Ausnahmezustand in der Tschechischen Republik ersetzen. Darauf hat sich Premierminister Andrej Babiš mit der Opposition letzte Woche geeinigt. 

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