Corona-Öffnungsstrategie in der Schweiz - „Es gibt nicht richtig oder falsch“

In der Schweiz ist die Inzidenz viel höher als in Deutschland. Trotzdem wird das öffentliche Leben wieder hochgefahren. Der Schweizer Infektiologe, Manuel Battegay, erklärt im Interview, wie eine geregelte Öffnung funktionieren kann.

Die Außengastronomie in der Schweiz darf wieder besucht werden / dpa
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Autoreninfo

Sina Schiffer studiert an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn Politik und Gesellschaft und English Studies. Derzeit hospitiert sie bei Cicero. 

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Manuel Battegay ist seit knapp 20 Jahren Chefarzt der Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene am Universitätsspital Basel und Professor für Infektiologie und Innere Medizin an der Universität Basel. Seit April 2020 beriet er, insbesondere im Rahmen der Schweizerischen Covid-19 Science Taskforce, Bundesrat, Bund und Kantone der Schweizerischen Eidgenossenschaft.

Herr Battegay, die Schweiz hat am 19. April bei hohen Corona-Fallzahlen unter anderem Kinos, Theater, Fitnesscenter Restaurant-Terrassen, Museen und Freilichtbühnen geöffnet. Nun liegen aktuelle Inzidenzwerte in der Schweiz bei über 200. Dennoch hat der Schweizerische Bundesrat am Mittwoch neue Lockerungen für Ende Mai angekündigt: Sogar Innenräume von Restaurants sollen besucht werden dürfen. Wie lässt sich das Vorgehen rechtfertigen?

Lockerungsschritte bei sinkender Fallzahl sind aktuell möglich, da die epidemiologische Situation sich bessert und Sicherungen eingebaut sind. Es muss weiterhin das Ziel sein, schwere Erkrankungen, post-akutes Corona-Syndrom und Todesfälle einzuschränken. Für die Sicherung gelten hauptsächlich drei Punkte: schnelle und weitere Verimpfungen, (Selbst-)Testen und – was noch zu sehr vernachlässigt wird – eine gezielte Information, vor allem durch die Ärzteschaft.

Nicht-Geimpfte sollten bis zu ihrer eigenen vollständigen Impfung sehr vorsichtig sein und den Besuch von Restaurant-Innenräumen sorgfältig abwägen und ebenso private, größere Treffen in Innenräumen. Dies gilt vor allem für alle Über-Fünfzigjährigen und alle  Menschen mit gesundheitlichen Risikofaktoren, die noch nicht geimpft sind – unabhängig des Alters. 

Wann wird über die Lockerungen entschieden? 

Der Bundesrat wird am 26. Mai über die Lockerungen entscheiden, wenn die Stellungnahme in den Kantonen erfolgt ist, und falls es die Situation dann erlaubt. Wenn die drei Sicherungspunkte befolgt werden, kann es klappen. Es ist wichtig, dass sich die Bevölkerung an die Basismaßnahmen hält. Das Vorgehen ist aus meiner Sicht unter Beachtung dieser Konditionen rechtfertigbar. Und eventuell hilft, wie im letzten Frühjahr/Sommer, der saisonale Effekt.

Einige Experten warnen jetzt, dass es zunehmend zu sogenannten „Fluchtmutationen“ kommen kann. Was versteht man  darunter und wie ist diese Warnung einzuschätzen?

Ein Virus ändert sich ständig, das heißt täglich. Fluchtmutationen von Sars-CoV-2 entstehen in Co-Evolution mit dem Menschen. Oft sind sie gar nicht lebensfähig. Die lebensfähigen entweichen in Teilen einer gezielten Abwehr gegen das Virus, sie werden also entsprechend selektiert. Es war von Beginn an klar, dass Mutationen und wahrscheinlich auch Fluchtmutationen auftreten werden. Bei den meisten Fluchtmutationen ist eine deutliche Einbuße an Fitness vorhanden.

Was heißt das konkret? 

Das heißt, das Virus ist oft nicht mehr so ansteckend oder die Krankheitsschwere lässt nach. Es ist auch für mich erstaunlich, dass nach anderthalb Jahren, in denen das Virus in die menschliche Laufbahn gekommen ist und nach sechs Monaten der Impfstoff-Verabreichung, noch keine Virusvariante gefunden wurde, die der Wirksamkeit der Impfstoffe stark entwichen ist.

Wie schätzen Sie das ein? 

Das ist ein gutes Zeichen. Es ist ein Indiz dafür, dass Sars-CoV-2 auf lange Zeit recht wenig Potenzial für gefährliche Variationen hat. Trotzdem ist es gut, dass bereits im Februar dieses Jahres neue Impfstudien gegen Virusvarianten initiiert wurden. Die Warnung ist also ernst zu nehmen, und deshalb ist alles, was die Variantenausbreitung reduziert, gut. Nun ist vor allem eine schnelle Verimpfung wichtig.

Wie weit sind Sie mit den Impfungen in der Schweiz?

Die Hoffnung ist groß, denn die Impfwirkung gegen schweres Covid-19 ist ausgezeichnet – deutlich über 90 Prozent. Und auch die Reduktion einer asymptomatischen Infektion und damit einer Weitergabe beträgt knapp 90 Prozent. Rund ein Viertel der Bevölkerung,  vor allem ältere Menschen und Menschen mit dem höchsten Risiko an Covid-19 zu erkranken, sind in der Schweiz mindestens einmal geimpft. Nach anfänglichen Schwierigkeiten ist die Anzahl täglicher Verimpfungen hoch. Die nächsten Wochen werden für die Impfkampagne entscheidend. Wir müssen schnell auf 70 bis 80 Prozent Immunität gelangen.   

Ist eine Wirkung schon feststellbar?

Ohne Zweifel ja, die Zahl an erkrankten älteren Menschen nahm hochsignifikant ab. Die schnelle Verimpfung in den nächsten Wochen und Monaten ist mit Abstand das Wichtigste, um diese Pandemie zu bewältigen und schrittweise eine normale Situation zu erreichen.

Manuel Battegay /
Universitätsspital Basel

Ist dies eine einheitliche Regelung oder entscheiden die Kantone für sich selbst?

Der Bundesrat schickt diese Vorschläge nun den Kantonen, den zuständigen Parlamentskommissionen und den Sozialpartnern zur Stellungnahme zu. Nur während der ersten Welle 2020 war die Schweiz in einer „außerordentlichen Lage“. Seit Juni 2020 gilt die „besondere Lage“. Die Kantone können zusätzliche Maßnahmen ergreifen, wenn die Fallzahlen auf ihrem Gebiet steigen, ein Anstieg der Fallzahlen droht oder weitere Indikatoren auf eine problematische Entwicklung hindeuten.

Zum Beispiel? 

Dies war zum Beispiel im Kanton Wallis der Fall, als beschlossen wurde, im Herbst 2020, beim Anstieg der 2. Welle, Maßnahmen einzuführen. Die Maßnahmen können sich deshalb von Kanton zu Kanton unterscheiden, aber de facto sind die Maßnahmen schweizweit seit geraumer Zeit praktisch identisch. Große Unterschiede gibt es bei der Umsetzung, bei den Teststrategien und nun auch bei den Verimpfungen. Einige Kantone haben die Altersbeschränkung bereits aufgehoben.

Die Schweiz hat, im Gegensatz zu Deutschland, schon früh gelockert, obwohl die Inzidenzen teilweise deutlich höher waren als bei uns. Trotzdem stehen die Schweizer jetzt genauso gut da wie die Deutschen. Ist also die ganze Lockdownerei überhaupt zielführend?

Das geht von einem „Ja“ bei schweren Situationen bis zu einem Punkt, wo ein Mehr an Maßnahmen wie Ausgangssperren – die es in der Schweiz nie gab – kontraproduktiv sein können. In der zweiten Welle im Herbst hätte man früher eingreifen sollen, wie es die Experten forderten. Grundsätzlich gilt aber, dass, je mehr Menschen Basismaßnahmen sehr diszipliniert befolgen, desto weniger behördliche Maßnahmen nötig sind.

Und was gilt für die Schweiz? 

Für die Schweiz ist gut dokumentiert, dass in der ersten Welle, bereits Tage vor behördlichen Maßnahmen, das Verhalten aufgrund der individuellen Risikowahrnehmung signifikant geändert wurde. Auch an Weihnachten und Neujahr befolgte ein Großteil der Bevölkerung die Maßnahmen und war bei Treffen offensichtlich sehr vorsichtig. Deshalb waren während der gesamten Pandemie Verharmlosungen extrem kontraproduktiv. Ich halte einen pragmatischen Weg für den besten.

Sie meinen also, dass Eigenverantwortung funktioniert?

Der Appell an die Eigenverantwortung hat, so wie ich und viele Kollegen uns dies initial vorstellten, nicht optimal funktioniert – ich hatte mir mehr erhofft. „Sich und andere schützen“ ist bei einer Infektionskrankheit der passendere Wert. Theoretische Überlegungen und Appelle kommen bei der Bevölkerung kaum an. Es fehlen häufig konkrete Verhaltensanweisungen. 

In Deutschland hat sich noch vor der „Corona-Notbremse“ ein Flickenteppich aus unterschiedlichen Entscheidungen und Öffnungsstrategien entwickelt. Jedes Bundesland hat sein eigenes Süppchen gekocht. Gab es in der Schweiz auch solche Probleme?

Unsere Demokratie ist ja mit den vielen Abstimmungen, Stellungnahmen in Bund, Kantonen und Gemeinden für viele in Europa fast Folkore – aber nicht für mich und wohl den größten Teil der Schweizer. Wir haben natürlich auch kritische Erfahrungen mit föderalistischen Vorgehensweisen gemacht.

Wann haben Sie denn kritische Erfahrungen gemacht? 

Insbesondere in der zweiten Welle, als unterschiedliche kantonale Regimes die Lebensrealität der Menschen ungenügend abbildeten. Und so beispielsweise den überregionalen Restaurant- und Shoppingtourismus aus stark betroffenen Regionen ankurbelten. Bringen bestimmte Kantone manchmal recht konträre Vorschläge ein, dann kann dies wertvolle Zeit kosten und lähmend wirken. Dieses schweizerische Selbstverständnis, auch der Perfektionismus, erschwerten die Effizienz und das rasche Problemlösen in der Krise. Aber ich kam früh zur Einsicht, dass in der Krise nicht einfach der Kippschalter auf Top down betätigt werden kann. Wenn wir aus der Krise lernen wollen, müssen wir auch diese Eigenheiten berücksichtigen.  

Sie haben sich zur deutschen Corona-Politik geäußert mit den Worten: „Man kann nicht immer noch mehr verbieten.“ Die Schweiz hat von Beginn an weniger Restriktionen eingeführt. War das der richtige Weg?

Es gibt nicht richtig oder falsch. Natürlich ist es bewundernswert, wie Neuseeland mit praktisch null Fällen die Epidemie bewältigt, aber wäre dies in der Schweiz als Binnenland mit hunderttausenden Grenzgängern möglich gewesen? Theoretisch ja, aber praktisch bezweifle ich es aufgrund des verwurzelten Selbstverständnisses und der Strukturen.

Die Fragen stellte Sina Schiffer

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