Corona aus dem Labor? - Die Viren, die ich rief

In Wissenschaft und Politik war es lange Zeit Konsens: Das Coronavirus, hieß es, sei auf natürliche Weise entstanden. Allmählich aber mehren sich Zweifel: Kommt es doch aus einem Labor?

Wissenschaftler gehen davon aus, dass es derzeit 1,6 Millionen unbekannte Tierviren gibt / Simon Townsley
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Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Von der Wahrheit erzählen zwei Geschichten. Die erste nimmt ihren Ausgang am Abend des 30. Dezember 2019. In der mittelchinesischen Stadt Wuhan an den Ufern des Jangtse, eines Flusses, den man in China schlicht den „Großen“ nennt, ist an diesem Tag früh die Sonne untergegangen. Es ist Winter. Später am Abend verbreitet die Wuhan Municipal ­Health Commission eine Meldung, nach der in den Krankenhäusern der Elf-Millionen-Metropole mehrere Patienten mit einer ungewöhnlichen Lungenentzündung vorstellig geworden seien. Die Ursache der Symptome sei unklar. 

Am Morgen des 31. Dezember ruft ein Reporter von China Business News die offizielle Hotline des Gesundheitsausschusses an. Dort bestätigt man die Meldung. Der Mitarbeiter der Hotline sagt dem Journalisten auch, dass noch nicht klar sei, wo die Ursache der Lungenentzündungen zu suchen sei. Die Krankenhäuser seien angewiesen, Fachkräfte wie Atemwegs- und Intensivmediziner in Reserve zu halten. Auffällig zudem, so der Mann am Telefon: Viele der Patienten seien auf einem Fischmarkt auf der anderen Seite des Flusses unterwegs gewesen.

Erste Meldung am 6. Januar

Die Meldung verbreitet sich in Windeseile. Bald ist sie auch über den Server der Internationalen Gesellschaft für Infektionskrankheiten abrufbar. Noch am selben Tag wird erstmals die Weltgesundheitsorganisation über das Auftreten der merkwürdigen Pneumonien informiert. Als deren Auslöser kann bald ein neuartiges Coronavirus dingfest gemacht werden. Zum Zeitpunkt der WHO-Meldung sind bereits 44 Patienten in Behandlung. Elf befinden sich in kritischem Zustand. Am 6. Januar 2020 schließlich titelt die New York Times: „China Grapples with Mystery, Pneumonia-Like Illness“. Eine Schlagzeile, auf die bald Tausende und Abertausende weitere folgen werden. Diese aber ist das erste Zeugnis von SARS-CoV-2 in westlichen Medien. Kurz darauf springt auch die deutsche „Tagesschau“ auf: „Neuartiges Virus entdeckt“. 
Keine fünf Tage später, und in Wuhan gibt es den ersten Toten. Fortan hält die Angst vor dem neuartigen Corona­virus nicht nur China, sondern nahezu den gesamten Globus in Atem.

So oder ähnlich könnte man die Geschichte vom Beginn der weltweiten Corona-Krise erzählen. Schnell stieße man dann auch auf den Huanan Seafood Market. Der große Tiermarkt an der Xinhua Road, auf dem nicht nur Fische, sondern lebende Wiesel, Marderhunde und Nerze gehandelt und teilweise geschlachtet werden, steht vom ersten Tag an im Zentrum eines Verdachts: Von hier aus soll das neuartige Virus in die Welt gekommen sein. Vermutlich war es ursprünglich von einer Hufeisennasenfledermaus auf einen noch unbekannten Zwischenwirt gesprungen, und der wiederum hatte auf dem Huanan-Markt einen Menschen infiziert. Die Geschichte klingt logisch: Bereits der erste Infizierte, angeblich ein 66-jähriger Mann, aus dessen Lungen man bereits am 27. Dezember das neuartige Virus hatte isolieren können, soll im Getümmel des Marktes als Lieferant gearbeitet haben. 

Mochten im New England Journal of Medicine bald auch andere Meldungen auftauchen – denen zufolge hätten viele der Erstinfizierten überhaupt keinen Kontakt zum Fischmarkt gehabt –, so war die sogenannte Zoonose-Theorie, nach der das Virus einen natürlichen Ursprung hatte, bald das gängigste Modell, um die gefürchtete Viruserkrankung mit ihren mittlerweile 175 Millionen Infizierten zu erklären. 

Zweifler Trump

Lediglich ein Mann schien Zweifel zu haben: Donald Trump. In mehreren Presse-Briefings widersprach der damalige US-Präsident der Fischmarkt-Hypothese und behauptete stattdessen, dass das Virus seinen Ursprung im Wuhan Institute of Virology (WIV), einer Forschungseinrichtung gut 15 Meilen vom Markt entfernt, gehabt hätte. Von dem Institut war lange schon bekannt, dass es Experimente mit den zur Diskussion stehenden Fledermausviren durchgeführt hatte. Ein Dokument des State Departement vom Januar 2021 spricht sogar offen davon, dass in dem Labor unter Leitung der Virologin Shi Zhengli Gain-of­Function-Forschung, also Experimente mit gentechnisch veränderten Viren stattgefunden hätten. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen können das belegen. „Womöglich ist ein schrecklicher Fehler geschehen“, so Trump damals vor der internationalen Presse. Womöglich. Aber wer wollte sich in jenen verhängnisvollen Tagen schon an Donald Trump halten? 

Und doch: Etwas war merkwürdig an der These vom natürlichen Ursprung des Coronavirus: Sogenannte Hufeisennasen gab es allenfalls 1500 Kilometer weiter südlich von Wuhan. Und für gewöhnlich haben diese Tiere eine Reichweite von gerade einmal 50 Kilometern. Außerdem befanden sich Fledermäuse zum fraglichen Zeitpunkt im Winterschlaf. Es gab noch viele offene Fragen. Vor allem aber fehlten Beweise. 

Doch anstatt am vermuteten Infektionsort weitere Spuren zu sichten oder Zeugen zu verhören, unternahmen die chinesischen Behörden bald alles, um Indizien aus der Welt zu schaffen. Bereits am 1. Januar 2020 wurde der Markt geschlossen, kurz darauf wurde er desinfiziert. Das von den Händlern verkaufte Fleisch wanderte in den Müll oder wurde erneut auf anderen Märkten feilgeboten, Verkäufer und Kunden verstreuten sich über die Stadt.

Vertuschung

Diese Verdunkelungsstrategie war früh auch dem australischen Geheimdienst ASIS aufgefallen. In einem 15-seitigen Papier aus dem April 2020 beklagten sich Mitarbeiter des Dienstes darüber, dass China dringend benötigte Proben über den Corona-Ausbruch zurückhielt oder gar zerstörte und dass wichtige Zeugen einfach von der Bildfläche verschwanden. Journalisten der Agentur Associated Press machten Ende 2020 ähnliche Beobachtungen. Immer wieder mussten sie feststellen, wie ihre Recherchen behindert oder blockiert wurden. Gab es in der Stadt etwas zu vertuschen? Und war die ganze Zoonose-Geschichte vielleicht nur reine Spekulation? 

Zumindest gab es Widersprüche. Doch anstatt dass die führenden Experten diesen weiter nachgegangen wären, veröffentlichten 27 von ihnen am 7. März 2020 eine Stellungnahme im renommierten Wissenschaftsmagazin The Lancet. Hier sprach die Gruppe – darunter auch der deutsche Charité-Virologe Christian Drosten – eine eindeutige Sprache. Die Forscher, die von dem britisch-amerikanischen Zoologen Peter Daszak zusammengetrommelt wurden, legten endgültig den Interpretationsrahmen fest: Nach diesem habe das Coronavirus eindeutig einen natürlichen Ursprung. Wer dies weiterhin leugnete, wurde mit barschen Worten abgekanzelt: „Wir stehen zusammen, um Verschwörungstheorien, die darauf hindeuten, dass Covid-19 keinen natürlichen Ursprung hat, aufs Schärfste zu verurteilen“, heißt es in dem Papier. „Wissenschaftler aus mehreren Ländern […] kommen mit überwältigender Mehrheit zu dem Schluss, dass dieses Coronavirus von Wildtieren stammt, wie so viele andere neu auftretende Krankheitserreger auch.“ 

Absolut unwissenschaftlich

Für den britischen Wissenschaftsjournalisten Nicholas Wade, Autor für Fachmagazine wie Nature und Science, kam diese Stellungnahme eigentümlich früh: Ein Kennzeichen guter Wissenschaft sei es, so Wade, dass sie sich große Mühe gebe, zwischen dem, was sie weiß, und dem, was sie nicht weiß, zu unterscheiden. „Dies vorausgesetzt, benahmen sich die Unterzeichner des Lancet-Briefes also wie schlechte Wissenschaftler.“ Und auch Günter Theißen, ein deutscher Genetikprofessor der Universität Jena, war vom Vorgehen der 27 Unterzeichner extrem irritiert: „Niemand wusste damals, wie das Virus entstanden ist“, so Theißen gegenüber Cicero. „Man weiß es ja bis heute nicht. Zu behaupten, es sei auf natürlichem Weg vom Tier auf den Menschen übergesprungen, und jeden Zweifler als Verschwörungstheoretiker zu brandmarken, ist absolut unwissenschaftlich.“

Doch bedeutet die nachgetragene Kollegenschelte automatisch auch, dass die von der Daszak-Gruppe vorgetragene Zoonose-Hypothese falsch war? Keineswegs. Immer wieder hatten Genetiker in der Vergangenheit schließlich bewiesen, dass viele der Krankheiten, mit denen sich Menschen in ihrer Geschichte herumschlagen mussten, ihren Ursprung im Tierreich hatten: Die Beulenpest kam vermutlich einst von Nagetieren, die Masern von Kühen, Keuchhusten möglicherweise von Hunden. Selbst Sars und Mers waren von Fledermäusen ausgegangen, bevor sie über den Umweg von Zibetkatzen und Kamelen auf den Menschen übergesprungen waren.

Es schien also alles ganz logisch zu sein. Und dennoch könnte das Daszak-Papier einen entscheidenden Fehler haben. Worin dieser liegt, das erzählt die zweite Geschichte der Wahrheit. Die beginnt vermutlich schon im Herbst des Jahres 2019, also Wochen vor dem offiziellen Ausbruch der neuen Seuche. Ganz präzise ist das heute nicht mehr zu eruieren. Ein jüngst veröffentlichter Artikel im Wall Street Journal geht davon aus, dass es spätestens im November gewesen sein muss. Zu diesem Zeitpunkt sollen sich drei Mitarbeiter des Wuhan Institute of Virology, die zuvor gefährliche Gain-of-Function-Experimente an Coronaviren durchgeführt hatten, derart unwohl gefühlt haben, dass sie sich ins Krankenhaus begeben hatten. Ein Papier des US-Außenministeriums aus der Zeit der Trump-Administration behauptet, sie hätten Symptome einer Grippe oder einer Covid-19-Erkrankung gehabt. Alarmierende Zeichen. David Asher, damals Leiter eines Untersuchungskomitees, formulierte es so: „Ich finde nicht glaubhaft, dass drei Leute, die unter den Hochsicherheitsbedingungen eines Level-3-Labors gearbeitet haben, in der gleichen Woche ins Krankenhaus kommen, ohne dass das was mit dem Coronavirus zu tun gehabt hätte.“

Oder doch aus einem Labor?

Asher schien das richtige Näschen gehabt zu haben. Drei Tage nach Erscheinen des Artikels im Wall Street Journal gab US-Präsident Joe Biden eine Erklärung ab: Die bisherigen Untersuchungen hätten keine endgültigen Schlussfolgerungen geliefert, so Biden in einer schriftlichen Stellungnahme vom 23. Mai. Er habe daher die Geheimdienste angewiesen, die Bemühung um Aufklärung zu verstärken und binnen 90 Tagen einen Bericht vorzulegen. Vonseiten der US-Dienste hieß es einen Tag später, sie wüssten nicht, „wo, wann und wie das Covid-­19-Virus ursprünglich übertragen wurde“. Entweder sei es auf natürliche Weise entstanden – oder es war tatsächlich ein Laborunfall.

Plötzlich war wieder alles offen. Was laut Daszak und Drosten jüngst noch einer Verschwörungstheorie glich, stand mit Bidens Worten wieder ernsthaft zur Diskussion. Laut einer Recherche des US-Magazins Vanity Fair, für die in den zurückliegenden Wochen Interviews mit 40 Experten geführt sowie Hunderte Dokumente und geheime Sitzungsprotokolle der US-Regierung gesichtet wurden, hatte es auch zuvor schon prominente Zweifler gegeben. Immer wieder hatten diese glaubhafte Belege für die sogenannte Lab-Leak-Hypothese zusammengestellt. Gehör indes fanden sie selten. 

Weltweit drei Labore

So zitiert das Magazin Richard Ebright, Professor für Chemie der Rutgers University, der nach eigenen Angaben keine „Nanosekunde oder Pikosekunde“ gebraucht hätte, um einen Zusammenhang zwischen dem Fledermaus-Coronavirus in Wuhan und dem WIV herzustellen. Laut Ebright gibt es nur wenige Labore auf dem gesamten Erdenrund, die Forschungen mit Fledermausviren durchführten und die dann auch noch eine der weltweit umfangreichsten Datensammlungen zu Fledermausviren besäßen (Daten, die am WIV übrigens drei Monate vor dem offiziellen Ausbruch der Pandemie gelöscht worden sind): Galveston in Texas, Chapel Hill in North Carolina und eben das Wuhan Institute of Virology. „Es sind nicht ein Dutzend Städte. Es sind drei.“ 
Mit ganz ähnlichen Wahrscheinlichkeiten hatte im Januar 2021 auch schon der Hamburger Physiker Roland Wiesendanger argumentiert. Der aber hatte seine Studie „Ursprung der Coronavirus-Pandemie“ wohl schlicht zum falschen Zeitpunkt publiziert.

Von einem Großteil der deutschen Presse wurde Wiesendanger damals verspottet. Ist das neuartige Coronavirus also tatsächlich das Produkt gefährlicher Experimente, bei denen Viren gezielt manipuliert und für den Menschen ansteckender gemacht wurden? Wie aber wäre das Virus dann nach draußen gelangt?

Es wäre nicht der erste Fall

Als die 26-jährige Virologin Song nach einem langen Arbeitstag im Labor in den Zug stieg, konnte sie nicht ahnen, dass sie das Coronavirus bereits in sich trug. Sie war auf dem Weg in ihre 1000 Kilometer weit entfernte Heimatstadt Hefei. Auch dass sie zwei Tage später erkranken würde, dass sie ihre Mutter infizieren und diese später an der Krankheit sterben würde, konnte sie nicht wissen. Song hatte im Institut für Virologie nie an Coronaviren geforscht. Sie hatte nicht einmal Labore betreten, in denen die Coronavirenstämme aufbewahrt wurden. Aber Song hatte an einem Elektronenmikroskop gearbeitet, unter dem ihre Kollegin Ren Xiaoli in diesen Tagen ebenfalls Coronaviren betrachtet hatte. Coronaviren, von denen sie angenommen hatte, dass sie in der Lösung aus Phosphatpuffer und Natriumlaurylsulfat deaktiviert wären. Ren Xiaoli hatte sich geirrt.

Die Ereignisse, von denen hier die Rede ist, liegen 17 Jahre zurück: Im März 2004 infizierten sich im Nationalen Institut für Virologie in Peking zwei Mitarbeiter mit dem erst ein Jahr zuvor identifizierten Virus SARS-CoV-1. Nur durch Quarantänemaßnahmen war es der chinesischen Regierung damals gelungen, eine Ausbreitung der Epidemie zu unterbinden. Elf Menschen wurden infiziert, Songs Mutter blieb das einzige Opfer. Doch der Fall zeigt, wie einfach es ist, dass gefährliche Viren selbst aus einem Hochsicherheitslabor entkommen können. Die Historie kennt unzählige Beispiele: In den sechziger und siebziger Jahren waren gefährliche Pockenviren aus Laboren in England entwichen, 1977 kam es zum Ausbruch eines H1N1-Virus aus einem Labor in China. Einer der jüngsten Fälle ist ein Brucellose-Ausbruch im November 2019 im chinesischen Lanzhou.

Politische Quarantäne

Hätte das also nicht auch mit einem im Labor entwickelten SARS-CoV-2-Virus passieren können? Der Virologe Michael Roggendorf weiß, wie schnell sich selbst unter Einhaltung aller Sicherheitsvorkehrungen ein solches Unglück ereignen kann. Der 75-Jährige, einst Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Virologie, hat es am eigenen Leib erleben müssen: Während seiner Labortätigkeit an der Ludwig-Maximilians-Universität in München infizierte sich Roggendorf Anfang der achtziger Jahre mit Hepatitis A. Der menschliche Faktor sei eben niemals auszuschließen, so der erfahrene Virologe, der ab 2009 für die Deutsche Forschungsgemeinschaft die  Kooperation zwischen deutschen Universitäten und Virologie-Instituten in China koordinierte – darunter das WIV. 

Die Labore, in denen er in China seine Forschungen betrieb, seien „in Ordnung“ gewesen, sagt Roggendorf. Aber er sagt auch: „Über die Frage der Herkunft des Coronavirus kann ich mit meinen chinesischen Kollegen nicht sprechen. Sie stehen unter ,politischer Quarantäne‘. Sie begeben sich nicht in Gefahr, indem sie irgendetwas zu einer möglichen Laborübertragung sagen.“ Sollte die aktuelle Pandemie also tatsächlich mit einem Laborunfall begonnen haben, so gibt sich Roggendorf keiner Illusion hin: „Das System blockt das ab. Alles, was nicht gewünscht ist, kommt nicht raus.“

Internationales Forschernetzwerk will Wahrheit

Doch manchmal hat man einfach Glück – etwa dann, wenn Wissenschaftler auf eigene Faust zu recherchieren beginnen. Der deutsche Genetiker Günter Theißen ist so ein Typ. Der Mikrobiologe wurde misstrauisch, als er erstmals vom angeblich so breiten Konsens in Sachen SARS-CoV-2 unter der weltweiten Virologenelite erfuhr. Er begann damit, sich mit dem Rätsel auseinanderzusetzen, las Fachaufsätze, sammelte Daten – und stieß schließlich zu einem internationalen Forschernetzwerk, das ebenfalls Zweifel an der gängigen Zoonose-Theorie hatte. „In der Gruppe sind heute nicht nur Naturwissenschaftler, sondern ebenso Experten für internationale Politik vernetzt, darunter der US-Sicherheitsberater Jamie Metzl, der für die Clinton-Regierung im Außenministerium gearbeitet hat.“

Zusammen wollen sie ans Licht bringen, was in Wuhan wirklich passiert ist. Doch bald muss auch Theißen eine merkwürdige Beobachtung machen: „Nicht nur in China, sondern auch in den USA gibt es einflussreiche Leute, die keinerlei Interesse an der Laborunfall-Hypothese haben.“ An vorderster Front etwa Ecohealth-Alliance-Gründer Peter Daszak; just jener Zoologe und Lobbyist, der bereits wenige Wochen nach Ausbruch der Pandemie das oben erwähnte Statement in The Lancet initiiert hatte und der im Januar dieses Jahres Teil einer WHO-Expertenmission war, die vor Ort in Wuhan klären sollte, woher das Virus einst gekommen war. 

Interessenkonflikte

Es war, als hätte man mit dem 55-jährigen Daszak den Bock zum Gärtner gemacht, denn seine NGO arbeitete seit Jahren weltweit mit Wissenschaftlern und Virenlaboren zusammen, darunter auch mit dem WIV in Wuhan, wohin unter anderem über Daszaks Ecohealth Alliance US-Gelder im Wert von mindestens 1,2 Millionen Dollar geflossen sind – etwa für das Programm „Understanding the Risk of Bat Coronavirus Emergence“. 

Bei diesen Forschungsarbeiten zu Fledermausviren wurden auch umstrittene Gain-of-­Function-Experimente eingesetzt. Die Ergebnisse wurden 2017 in der Fachzeitschrift PLOS Pathogens veröffentlicht. Autoren waren Peter Daszak selbst und die WIV-Virologin Shi Zhengli. Als Editor wurde Charité-Virologe Christian Drosten genannt. Merkwürdig indes: Auf eine Cicero-Anfrage zum Lancet-­Papier antwortet Drosten: „Ich hatte zu keinem Zeitpunkt Kenntnis über vermeintliche oder tatsächliche ‚Gain-of-­Function‘-Forschungsarbeiten am Institut in Wuhan. Etwaige gegenteilige Aussagen und Mutmaßungen wären falsch und entsprächen nicht den Tatsachen.“

Für die Innsbrucker Mikrobiologin Rossana Segreto, die Drosten gegenüber Cicero „einen Experten in Sachen Gain-of-Function-Forschung“ nennt, kann das mit den unterschiedlichen Definitionen des Begriffs zu tun haben. „Es gibt innerhalb der Wissenschaft heftige Diskussionen darüber, was Gain-of-­Function ist und was nicht.“ Die Forschung mit veränderten Viren ist schließlich nicht ganz unumstritten; in den USA war sie unter Barack Obama sogar mal verboten. 2012 wurden Experimente mit Vogelgrippeviren bekannt, die mutierte Varianten des in freier Wildbahn vorkommenden Virus erzeugt hatten. Diese waren auch zwischen Säugetieren übertragbar und somit für den Menschen extrem gefährlich.

Ähnlich wie andere Experimente

Unter Wissenschaftlern wurde daraufhin heftig über die Missbrauchs- und Unfallgefahr solcher Experimente gestritten. Die Forschungsaktivitäten von Peter Daszak sollen damals in den USA eingestellt und weitestgehend an das WIV ausgelagert worden sein. Doch auch in der Bundesrepublik gab es eine heftige Debatte. Der Deutsche Ethikrat erarbeitete 2014 eine umfangreiche Stellungnahme zur Biosicherheit. Darin warnte das Gremium auch vor Gain-of-Function-Experimenten, deren Ergebnisse „grundsätzlich das Potenzial besitzen, als Massenvernichtungswaffen eingesetzt zu werden“, und zum Teil auch das Potenzial, „sich durch Infektionen weltweit zu verbreiten, […] selbst wenn die Freisetzung örtlich begrenzt erfolgt“.

Niemand hätte unter den aktuellen Bedingungen also Interesse daran, dass derartige Experimente ein weiteres Mal ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit gelangten. Und die Gefahr ist groß. Denn schaut man sich das SARS-CoV-2-Virus genauer an, so deutet einiges darauf hin, dass es tatsächlich ein Produkt von Gain-of-Function-Forschung sein könnte: Genetikprofessor Günter Theißen etwa spricht von „einer ganzen Reihe von Merkwürdigkeiten in diesem Virusgenom“. Da sei etwa die sogenannte Forin-Schnittstelle: „Ähnliche Sequenzen sind bereits in andere Viren generiert worden, um sie im Rahmen von Gain-of-Function­Experimenten für Menschen gefährlicher zu machen.“ Aber die in SARS-CoV-2 sei besonders spektakulär, fast so etwas wie eine Smoking Gun. 

Rossana Segreto wiederum, die in den letzten Monaten zusammen mit anderen Forschern zwei Studien zum Virus veröffentlicht hat, will nicht ausschließen, dass SARS-CoV-2 das Ergebnis einer schiefgelaufenen Impfstoffforschung sei: „Wir haben mehrere Anzeichen von Abschwächungen in seinem Genom gefunden. Wir können aber nicht behaupten, dass diese Merkmale schon ein sicheres Zeichen für eine Manipulation sind.“

Politischer Sprengstoff

Was aber wäre, wenn sich eines Tages tatsächlich erweisen sollte, dass Corona aus einem Labor in Wuhan entwichen ist? Vermutlich wäre es nicht nur für die Virologie ein Desaster, auch für die Politik wäre es ein heißes Eisen, besonders für die Bundesregierung. Denn China ist einer der größten Außenhandelspartner, und besonders in der Zeit nach Corona will man keinen Streit mit der Volksrepublik – wohl wissend, dass gerade von dort mit Wachstumsimpulsen für die deutsche Wirtschaft zu rechnen ist. Die chinesische Führung reagiert bekanntlich sehr dünnhäutig auf öffentliche Vorwürfe. Sollte Peking also von Berlin direkt mit der Lab-Leak-Theorie konfrontiert werden, käme das einem Affront gleich, der in eine politische Eiszeit einschließlich eines eskalierenden Handelskriegs führen könnte. Und das ist so ziemlich das Letzte, was die Bundesregierung derzeit gebrauchen kann.

Deswegen zeigen sich Regierungspolitiker auch äußerst schmallippig bei diesem Thema. Ein Parlamentarier, der mit der Laborthese vertraut ist und namentlich nicht genannt werden möchte, beschwichtigt: Es gebe keine offiziellen Belege dafür, man gehe weiterhin davon aus, dass das Coronavirus natürlichen Ursprungs sei. Allerdings könne auch eine andere Entstehungsgeschichte „nicht ausgeschlossen“ werden. Seines Erachtens halte die US-Regierung Gerüchte über ein Labor-Leak in Wuhan gezielt am Köcheln, um die Chinesen unter Druck zu setzen.

Der amerikanische Geopolitik-Analyst George Friedman formulierte es unlängst in einem Beitrag für Cicero so: „Vielleicht wussten chinesische Behörden nicht so genau, was eines ihrer Labore da in die Welt gesetzt hatte und welche dramatischen Folgen damit einhergehen würden. Aber Peking war klar, dass es dumm dastehen würde – und diese Blöße konnten sich weder die Führungskräfte im Labor von Wuhan noch das Zentralkomitee leisten.“ Die Biden-Administration dürfte sich derzeit also exakt diesen Umstand zunutze machen, indem sie die Laborthese ventiliert: Peking droht damit ein internationaler Gesichtsverlust verheerenden Ausmaßes; die Selbststilisierung Chinas als einer unaufhaltsam aufstrebenden Nation, der keine Fehler unterlaufen, wäre plötzlich durchbrochen.

Gesichtsverlust steht auf dem Spiel

Das mag nicht allzu dramatisch klingen, aber für Chinas Staatschef Xi Jinping wäre solch ein negatives Narrativ höchst gefährlich. Es würde nicht nur seine eigene (und keineswegs unangefochtene) Autorität in der chinesischen Führungselite untergraben. Auch die von Xi aufgeworfene Systemfrage könnte unversehens auf ihn selbst zurückfallen. Bekanntlich hatte er die Überlegenheit des „chinesischen Systems“ an der Effizienz bei der Pandemiebekämpfung festgemacht. Wenn jetzt der Eindruck entsteht, dass eigene Schlamperei und Inkompetenz der Auslöser für eine globale Gesundheitskrise waren, ist es mit diesem Nimbus wohl vorbei. In einer Welt, deren geopolitische Machtkämpfe auch und gerade mit „Soft Power“ ausgefochten werden, wäre dieses Szenario eine herbe Niederlage für Peking. Und gleichzeitig ein wichtiger Sieg für Joe Biden, der in China nicht ohne Grund den größten Herausforderer der Vereinigten Staaten sieht.

Fakt ist: Bei der Laborthese sind überragende politische Interessen im Spiel. Die US-Geheimdienste werden dem Weißen Haus irgendwann einen Bericht vorlegen, in dem unterschiedliche Szenarien zur Entstehung des Coronavirus mit entsprechenden Wahrscheinlichkeiten versehen sind. Und irgendwie wird Biden reagieren müssen, wenn dem Laborszenario eine hohe Plausibilität beigemessen werden sollte. Aber wie? Mit Aufrufen an die westlichen Verbündeten, China zu boykottieren? Mit Sanktionen? Jedenfalls würde der „Westen“ die Reihen mutmaßlich erst mal schließen – auch das wäre schon ein Erfolg aus Washingtoner Sicht.

Juristische Konsequenzen

Dass China auch juristisch haftbar gemacht werden würde, ist eher unwahrscheinlich. Es existieren zwar einige Präzedenzfälle aus dem Umweltvölkerrecht, doch hat sich China keiner entsprechenden Schiedsstelle unterworfen. Infrage käme ein Verstoß der Volksrepublik gegen die Biowaffenkonvention – was allerdings voraussetzen würde, dass in Wuhan gezielt an Viren für den militärischen Einsatz geforscht wurde. Und natürlich dürften auch US-Bürger auf die Idee kommen, vor heimischen Gerichten gegen den chinesischen Staat vorzugehen – die Hürden dafür sind nicht allzu hoch. Allerdings wird sich am Ende die Frage stellen, wie sich mögliche Schadensersatzansprüche gegen China durchsetzen lassen.

Eric Schmitt, den Generalstaatsanwalt des US-Bundesstaats Missouri, fechten diesbezügliche Unwägbarkeiten nicht an. Am 18. Mai dieses Jahres hat er der chinesischen Regierung und der Kommunistischen Partei Chinas eine Anklageschrift zugestellt: Er wolle „die chinesischen Behörden für ihre Rolle bei der Covid-­19-Pandemie zur Rechenschaft ziehen, die Menschenleben gefordert, Unternehmen ruiniert und die Wirtschaft zerstört hat“, so Schmitt in einer offiziellen Mitteilung, die er mit der Bitte um Unterstützung an den US-Präsidenten weitergeleitet hat. 
Eine Antwort Bidens steht derweil noch aus. Vielleicht führt sie eines Tages zu einer weiteren, einer dritten Geschichte vom Ursprung des Coronavirus. Vielleicht wäre die dann tatsächlich die Wahrheit.
 

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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