Boris Johnson - Unverschämt ungeniert

Am Donnerstag stellt sich Boris Johnson als britischer Premierminister zur Wahl. Verliert er, könnte der Brexit kippen. Doch nach Umfragen liegt Johnson mit seinen Konservativen vorn. Dabei nimmt er es mit Fakten nicht so genau. Doch genau das macht seinen Erfolg aus

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Die steile Karriere Boris Johnson war absehbar / picture alliance
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Thomas Kielinger ist seit 1998 London-Korrespondent der Welt und Ehrenoffizier des „Order of the British Empire". Er ist Autor der soeben erschienenen Biografie „Die Königin. Elisabeth I. und der Kampf um England" (C.H. Beck).

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Im Sommer 1906 fand es sich, dass die Tochter des damaligen Premierministers Herbert Asquith, Violet, auf einer Dinnerparty neben Winston Churchill zu sitzen kam, der gerade die erste Sprosse seiner politischen Leiter erklommen hatte, als Unterstaatssekretär für die Kolonien in Asquiths liberaler Regierung. Violet, spätere Bonham Carter, die Großmutter der bekannten Filmschauspielerin Helena Bonham Carter, fand den jungen Politiker „in gedanklicher Abstraktion versunken“, wie sie in ihren Erinnerungen später schrieb. Als er während des Dinners endlich der jungen Dame neben sich gewahr wurde, fragte er sogleich ziemlich abrupt nach ihrem Alter. „19“, gab sie zurück, worauf er, „fast verzweifelt“, antwortete: „Und ich bin schon 32. Freilich jünger als jeder hier, der etwas bedeutet“, setzte er nicht ohne Stolz hinzu.

Dann folgte ein Sturzbach der Worte: „Fluch unserer Sterblichkeit! Wie grausam kurz ist doch die uns zugemessene Spanne für alles, was wir in sie hineinpressen müssen!“ Weitere Verwünschungen über das kurze Leben, angesichts der immensen Leistungen, zu denen der Mensch fähig sei, kamen hinzu. Doch das Thema hätten Dichter, Propheten und Philosophen aller Zeiten schon so ausgiebig erörtert, dass es schwer sei, dem noch etwas Neues, Aufregendes hinzuzufügen. „Aber mir gegenüber gelang es ihm“, schreibt Bonham Carter, „in einer Flut großartiger Sprache“. Seine abschließenden Sätze werde sie nie vergessen: „Wir sind doch alle Würmer. Aber ich glaube, ich bin ein Glühwurm.“

Der Höhepunkt des Ehrgeizes

Für einen Glühwurm, für eine Ausnahmeerscheinung muss sich auch Boris Johnson schon immer gehalten haben, denn er besitzt seit frühen Jahren den Ruf eines draufgängerischen Exzentrikers. Bereits in Schulzeiten beschrieb sein Präfekt in Eton den 17-Jährigen in einem Memorandum an Kollegen als „unverschämt ungeniert“: „Ich glaube wirklich, Boris hält uns für kleinkariert, dass wir ihn nicht für eine Ausnahme halten, für einen, der befreit bleiben sollte von dem Netz der Pflichten, in die jedermann sonst eingebunden ist.“

Inzwischen ist dieser „unverschämt Ungenierte“ auf dem Höhepunkt seines Ehrgeizes angelangt, in der Downing Street, als Premierminister „Ihrer Majestät Regierung“, wie es offiziell heißt. Wie kann einer so hoch steigen, von dem sein ehemaliger Chefredakteur beim Daily Telegraph, Max Hastings, unlängst schrieb, Johnson sei ein Fall „moralischen Bankrotts, aufgrund seiner Verachtung für die Wahrheit“? Wie kann es sein, dass seine Partei, die Konservativen, eine solche Figur im Juli als ihren Vorsitzenden, damit zugleich als Regierungschef, auf den Schild hoben und nun erwarten, er werde das britische Wahlvolk bei der Unterhauswahl am 12. Dezember für sich und die Tories einnehmen? Wobei man vorsichtig sein muss, von „den Konservativen“ zu sprechen, denn es waren ganze 92 135 von 139 918 Tory-Mitgliedern, die sich im Sommer nach fünf Wahlgängen für Boris Johnson entschieden.

Johnson und Corbyn haben eins gemeinsam

Seine Kandidatur gilt als umstritten, unwidersprochen ist lediglich, was eine leitende Feder des wöchentlichen Observer vor kurzem schrieb: „Eines haben Jeremy Corbyn, der Labour-Chef, und Boris Johnson gemeinsam: Eine Menge Leute halten beide für unfähig, das Amt des Premierministers zu bekleiden, und viele von diesen gehören obendrein zum jeweils eigenen Lager.“ Nick Boles, ein Abgeordneter, der von den Tories zu den Liberaldemokraten überlief, formulierte griffig: „Beiden Kandidaten würde ich die Aufsicht über meine Kinder auch nicht für eine Stunde anvertrauen, wie viel weniger die Leitung des ganzen Landes.“

Das Image des Glücksritters Johnson hat längst Einzug gehalten in der populären Literatur. Im Oktober erschien eine Satire unter dem Titel „Das geheime Tagebuch von Boris Johnson im Alter von 13 ¼ Jahren“. Es verschaffe, so der Verlag, „faszinierende Einblicke, wie ein träger, aufgeblasener und von sich eingenommener Junge dem Glauben verfällt, er müsse Premierminister werden“. Über dessen Methode legt der Satiriker dem ehrgeizigen, frühreifen Boris unter anderem in den Mund: „Es ist nicht lügen, wenn man sich keine Mühe macht, die Wahrheit zu erfahren. Viele Leute – Politiker beispielsweise – machen den Fehler, mit Fakten und Statistiken beladen herumzulaufen. Doch wenn man das gezielt vermeidet, kann man desto besser seine eigenen Anliegen vortragen.“

Erfolg dank Amoralität

Keine Satire, sondern die Elegie eines Resümees trug Ferdinand Mount, einer der angesehensten Publizisten der Insel, in der London Review of Books vor: „Manchen ist es noch immer ein Rätsel, wie so viele klassische Tories auf einen so zwielichtigen, betrügerischen Opportunisten hereinfallen konnten. Ich glaube tatsächlich, Johnson hat nicht trotz seiner Amoralität, sondern wegen ihr Erfolg.“

Kein Zweifel: Für einen Staatsmann hält den 55-Jährigen niemand, dessen vollständiger Name Alexander Boris de Pfeffel Johnson lautet. Aber wer bei dem Strauß an Zitaten genau hinhört, entdeckt fast so etwas wie ein Kompliment ex negativo über diese schwindelerregende und mit Schwindeln gespickte Karriere. Andrew Gimson, Autor einer vorzüglichen Johnson-Biografie, nennt den Premier „einen Star im Theater der Politik“.

Ein Theater der Politik ist auch der Brexit, dessen Sinn und Zweck, je länger die Debatte läuft, desto nebulöser wirkt. In die Irre geht daher, wer jenseits dieser Zermürbung so etwas wie ein politisches „Gesamtkonzept“ für die Regierung Großbritanniens erwartet. Das hat niemand auf der Insel, die Parteien und ihre Spitzenleute schlagen sich stattdessen im Wahlkampf gegenseitig aberwitzige Zahlen um die Ohren, mit denen sie in die maroden öffentlichen Dienste investieren wollen. Schulden machen ist en vogue, Gesamtkonzepte liegen den Briten ohnehin nicht, ihr Naturell ist viel zu stark der Situation und dem „muddle through“ hingegeben. Gesamtkonzepte entspringen deutschen Köpfen, der letzte Regierungschef Britanniens, der ein solches eisern durchkämpfte, war Margaret Thatcher, der man entsprechend ihre „teutonische“ Art nachsagte, eine entschieden befremdliche Attitüde. Aber sie hatte Erfolg.

„Der charismatischste Narr in der Geschichte“

Solcher steht politisch gegenwärtig nicht im Angebot, alles ist im Fluss, besonders bei Boris Johnson, auch wenn er sich mit dem Slogan „Get Brexit done!“ so entschieden und prinzipienfest gibt. Von Natur aus ist er das eher nicht, für den Ausgang des Referendums 2016 hielt er zwei Kolumnen bereit, die eine gewann dem Brexit, die andere dem Remain höchste Plausibilität ab. In seinem 2004 veröffentlichen Polit-Thriller „72 Jungfrauen“ wird der Held des Romans, der Unterhausabgeordnete Roger Barlow, eine autobiografische Skizze Johnsons selber, mit seiner „gelatinehaften Fähigkeit“ beschrieben, „beide Seiten eines Arguments zu sehen“. Das entspringt einer humanen Anthropologie, einem tiefen Instinkt des Menschen, auch den Zweifel als Ratgeber im Leben zuzulassen. Hier liegt der tiefere Grund für Johnsons Popularität – er spricht vor allem die einfachen Menschen an als „einer von uns“, auch wenn er nach Bildung, Stand und Fähigkeit mittleres Maß übersteigt.

Johnson-Biograf Andrew Gimson brachte von einem Besuch im mittelenglischen Westbromwich überraschende Stimmen heim. „Boris ist der charismatischste Narr in der Geschichte, ich werde ihn auf jeden Fall wählen“, so das Urteil aus vielen Kreisen, die nicht gerade zu den wohlhabendsten gehören. Johnson mag kein ausgefeiltes politisches Programm mit sich führen, er ist ein Reisender in Hoffnung, er spricht von Visionen des Fortschritts, sobald Britannien die EU verlassen hat. Er geht mit Witz und dem Aplomb eines geborenen Performers in die Schlacht, mit Optimismus, unabhängig von „Fakten und Statistiken“. Und viele Menschen nehmen ihm das ab, wo sie in der Gegenwart, nach Jahren harter wirtschaftlicher Austerity, nichts mehr zu lachen haben. „Das Herz hat seine Gründe, von denen der Verstand nichts weiß“ – niemals war dieser Satz Blaise Pascals zutreffender als in der britischen Gesellschaft vom Dezember 2019. Die Intelligenzija rümpft darüber die Nase, ihnen ist der Typ Boris zuwider, die Schlüpfrigkeit seiner intellektuellen Flexibilität.

Eine Vielzahl von Widersprüchen

Aber Johnson ist zu klug, um nicht um seine Achillesferse zu wissen. In dem genannten Roman macht sich die Assistentin des Abgeordneten Roger Barlow einmal verräterisch Gedanken über ihren Chef, und dass eigentlich hinter seinem frohgemuten Auftreten keine Werte oder Glaubensinhalte zu finden seien. „Für einen Mann wie Barlow“, sinniert sie, „erschien die ganze Welt eigentlich wie ein komplizierter Witz. Man konnte nach allem greifen, alles diskutieren. Religion, Gesetze, Prinzipien, Gebräuche – das waren bestenfalls Stützen am Wegrand, die unsere strauchelnden Schritte auffangen.“

Sätze wie diese gehen über die „gelatinehafte Fähigkeit, zwei Seiten einer Frage zu sehen“, hinaus, sie deuten auf eine existenzielle Beliebigkeit, die aus dem Angebot des Lebens keine erkennbare Fasson zu machen weiß. Als Außenminister begegnete Johnson einmal auf einer Nato-Tagung vor zwei Jahren dem früheren Europaminister unter Tony Blair, Denis MacShane, der in seinem gerade erschienenen Buch „Brexit, no Exit“ dargelegt hatte, dass es letztlich doch nicht zum Brexit kommen werde. Johnson, dem MacShane sein Buch zeigte, ging spontan auf den Titel ein: „Denis, genau das glaube ich auch.“

Wer allen alles verspricht, verfängt sich am Ende in einer Vielzahl von Widersprüchen. Wie vor wenigen Wochen, als der Premierminister einer Versammlung von Tories in Nordirland versicherte, der Deal mit der EU bedeute keine neuen bürokratischen Formulare für die nord­irische Wirtschaft beim Export in den Rest Großbritanniens. Genau das aber hatte sein eigener Brexit-Minister kurz zuvor vor einem Unterhausausschuss in Aussicht stellen müssen.

Wie geht es weiter in England?

Steht uns in Johnson etwa das Exemplar einer nationalen Leidenschaft vor Augen – „ein Volk von Spielern“, wie ­George Orwell die Briten nannte? In seinem Essay über die „Charaktereigenschaften von Nationen“ hatte David Hume, der Philosoph der englischen Aufklärung, geschrieben, „seine große Freiheit erlaube es jedem Engländer [er meinte die Briten], die Art und Weise an den Tag zu legen, die ihm eigen ist“. Daraus folgerte der Philosoph, „dass die Engländer unter allen Völkern der Erde wohl am wenigsten von einem Nationalcharakter haben, es sei denn, man lässt diese Einzigart [ihre Freiheit] als solchen gelten“.

Im Lichte dieses Diktums ist die Laufbahn des „Glühwurms“ Boris Johnson letztlich nicht verwunderlich, denn die Gesellschaft konzediert dem Einzelnen die Freiheit, seinen Mut – auch seine Chuzpe – zu finden und dem Land eine neue Richtung zeichnen zu wollen. Die Frage, wer England für die nächsten fünf Jahre regieren soll, wirft freilich anderes auf, als der rigorose Corbyn oder der prinzipienfreie Johnson zu bieten haben. Derweil dürfte im britischen politischen Theater weiterhin Unberechenbarkeit auf dem Spielplan stehen.

Dieser Text ist in der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

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