Verschobene Wahlen in Bolivien - Ein Land vor der sozialen Explosion

Nach dem erzwungenen Abgang von Evo Morales hätte Bolivien im Mai einen neuen Präsidenten wählen sollen – doch der Termin wurde verschoben. Die Spaltung des Landes nimmt derweil gefährliche Ausmaße an. Weiße und Mestizen wollen ihren Wohlstand nicht mehr mit den Indigenen teilen.

Noch immer präsent in einem gespaltenen Land: Evo Morales / picture alliance
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Autoreninfo

Andrzej Rybak, geboren 1958 in Warschau, ist Journalist und lebt in Hamburg. Er arbeitete mehrere Jahre als Redakteur und Reporter für Die Woche, den Spiegel und die Financial Times Deutschland, berichtete als Korrespondent aus Moskau und Warschau. Heute schreibt er als Autor vor allem über Lateinamerika und Afrika u.a. für Die Zeit, Focus und Capital.

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Es ist früher Morgen, ein kalter Wind pfeift über das bolivianische Hochland. Eingehüllt in Ponchos und Pullover huschen die Menschen durch die Straßen von El Alto auf dem Weg zur Arbeit. Zwar gilt auch in Bolivien eine Ausgangsperre wegen der Corona-Pandemie, doch in dem Armenviertel von La Paz wird sie kaum eingehalten – die Leute können es sich nicht leisten, zu Hause zu bleiben.

Auf eine Mauer neben dem Gemischtwarenladen von Pedro Mamani hat jemand „Evo Presidente“ gesprayt. Auch in dem kleinen Verkaufsraum hängt ein Bild von Evo Morales, dem ersten indigenen Präsidenten Boliviens. „Er hat viel für die Indio-Bevölkerung getan, allem voran hat er uns unsere Würde zurückgegeben“, sagt der Aymara-Händler. „Den Weißen war er schon immer ein Dorn im Auge, also putschten sie gegen ihn.“

Morales musste am 11. November vorigen Jahres ins Exil nach Mexiko fliehen, rund 600 seiner Mitstreiter und Parteigenossen der Bewegung zum Sozialismus (MAS) wurden unter Korruptionsvorwürfen festgenommen. Die rechtskonservative Interimspräsidentin Jeanine Áñez hat die wichtigsten Posten sofort mit ihren Leuten besetzt – es ist kein indigener Politiker dabei. Wie lange sie regieren kann, ist unklar: Die Neuwahlen, die für den 3. Mai angesetzt waren, wurden wegen Corona verschoben.

Ein zweigeteiltes Land

Die meist indigene Bevölkerung in El Alto, dem auf 4000 Meter Höhe gelegenen Stadtteil von La Paz, ist sich ihrer Zukunft nicht mehr sicher. „Áñez will alle Gleichstellungsgesetze abschaffen, die Evo für die Indios erkämpft hatte“, schimpft Mamani. Dann zeigt er einen Film, den er auf seinem Smartphone gespeichert hat: Anhänger der Interimsregierung verbrennen in den Straßen von La Paz die Wiphala, die vielfarbige indigene Fahne des Hochlands, die Morales als zweite Flagge des Landes anerkannt hat; vermummte Polizeibeamte schneiden sich die Wiphala von der Uniform.

Die Bilder machen deutlich: Bolivien ist ein zweigeteiltes Land, in dem sich die Nachkommen weißer Eroberer und Menschen mit indigenen Wurzeln gegenüberstehen. Die Weißen und Mestizen, die vor allem das östliche Tiefland bevölkern, grenzen sich von den Indios im Andenhochland ab. Doch nicht nur die ethnische Herkunft spielt dabei eine Rolle. Es geht auch um die Verteilung des Wohlstands, um soziale Chancen – und um die Religion. Die Indios praktizieren einen Synkretismus, in dem sie neben katholischen Heiligen auch ihre alten Götter, allen voran die Muttererde Pachamama, verehren. Viele weiße Bolivianer – oft Anhänger evangelikaler Sekten – halten das für Blasphemie und fordern eine Rückkehr zur reinen christlichen Lehre.

Rassismus ist allgegenwärtig

In den Departements Santa Cruz, Beni, Tarija und Pando, die wie ein Halbmond das bolivianische Hochland umschließen, feierten die Bewohner den Sturz von Morales als Befreiung. „Während seiner 14-jährigen Herrschaft lebten wir hier wie in einer Kolonie“, schimpft Rodrigo Sánchez, ein pensionierter Armeehauptmann und glühender Anhänger der separatistischen Befreiungsbewegung Camba Nation in Santa Cruz. „Wir werden nicht mehr nach der Pfeife der Aymara und Quechua aus dem Hochland tanzen.“ In ihrem Manifest bezeichnen die „Befreiungskämpfer“ ihre Heimat als ein „südamerikanisches Tibet“, das von Hochlandbewohnern politisch bevormundet und wirtschaftlich ausgebeutet werde. Den „Collas“, wie sie die Indios bezeichnen, können sie nichts Gutes abgewinnen: Sie seien rückständig, kollektivistisch und gewerkschaftlich. „Diese Leute prägen heute das Image unseres Landes nach außen“, wettert der 67 Jahre alte Sánchez. Die Welt glaube, dass Bolivien ein Andenstaat wäre, in dem alle Frauen klein sind, Zöpfe flechten und Bowler-Hüte tragen.

„Schauen Sie sich um! Unsere Frauen in Santa Cruz sind groß, elegant und haben lange Beine“, sagt Sánchez und blickt im Patio des Club Social de Santa Cruz um sich, wo sich die Familien von Unternehmern, Banker, Großgrundbesitzer und Militärs zum Essen treffen. „In Bolivien blicken wir auf eine lange Geschichte von Diskriminierung, Vorurteilen und Rassismus zurück, die noch nicht überwunden sind“, so die bolivianische Soziologin Maria Teresa Zegada. „Die Regierung Morales tat viel, um die Einbeziehung der indigenen Bevölkerung in das gesellschaftliche Leben voranzutreiben, doch es gibt immer noch viel zu tun.“ Laut Umfragen halten fast 83 Prozent der Hochlandbolivianer den Rassismus für eines der großen Probleme des Landes.

Unterschiede zwischen Hochland und Tiefland

Der Verkehr rollt sanft durch die breiten Straßen von Santa Cruz, die von modernen Banken- und Bürotürmen aus Stahl, Glas und Beton gesäumt sind. Während das historische Zentrum von La Paz von Armensiedlungen an den Hängen erdrückt wird, kann sich das auf einer Ebene gelegene Santa Cruz frei ausbreiten. Es ist tropisch-heiß, die Menschen tragen leichte und luftige Kleidung. In den Restaurants wird Llanos-Musik gespielt – und auch die Speisen sind anders, statt Kartoffel wird meist Maniok gegessen.

Santa Cruz und die umgebenden Grasebenen der Llanos sind das wirtschaftliche Herz Boliviens. Obwohl in den Halbmond-Departements nur knapp mehr als ein Drittel der Bolivianer leben, erwirtschaften sie deutlich über 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und fast 60 Prozent der Exporteinnahmen. Das Tiefland ist reich an Öl und Gas, es ist das Zentrum der modernen Agrarwirtschaft und Viehzucht. Es sind Großgrundbesitzer, die hier den Ton in der Wirtschaft und in der Politik angeben. In den vergangenen Jahren ist aber auch eine starke Industrie entstanden, vor allem in der Lebensmittelverarbeitung.

Die Tieflandbewohner stören sich insbesondere an der Verteilung der Einnahmen aus Öl und Gas, die in den Llanos gefördert werden. Nur 11 Prozent – meist Lizenzgebühren – bleiben grundsätzlich in der Region, über den Rest entscheidet La Paz. Die Zentralregierung reglementiert auch den Export von Rindfleisch, Soja, Weizen und Bioethanol, ohne die Maßnahmen mit den Produzenten in Santa Cruz abzustimmen. „Die Zentralregierung in La Paz war schon immer eine Bedrohung für unseren Lebensstandard“, schimpft Branko Marinkovic, Unternehmer und Ex-Präsident der Stadtverwaltung von Santa Cruz.

Das Andenhochland eignet sich nicht für intensiven Anbau oder Tierhaltung; es gibt dort auch wenig Industrie. Die wichtigsten Einnahmequellen sind Bodenschätze wie Lithium, Silber oder Zinn, bei deren Förderung aber nur wenige Arbeitsplätze entstehen. Viele Leute, die keine Arbeit haben, leben von der Hand in den Mund – als Tagelöhner, Schuhputzer und fliegende Händler. In den Augen der überwiegend marktliberalen Tieflandbewohner fallen sie dem Staat zur Last. In den Anden wiederum sprechen sich nicht ohne Grund laut Umfragen 86 Prozent der Menschen für einen starken Staat aus; nur 31 Prozent glauben, dass die Wirtschaft von Privateigentum profitieren kann.

Gescheiterte Autonomiebestrebungen im Osten

Das „moderne“ Bolivien im Osten hat schon oft versucht, sich vom „rückständigen“ Andenhochland zu trennen – oder zumindest einen Autonomiestatus zu erkämpfen. In einem Volksentscheid von 2006, der als Protest gegen die Verstaatlichung von Erdöl- und Erdgasvorkommen durch Präsident Morales abgehalten wurde, sprachen sich mehr als 70 Prozent der Wähler in den Halbmondgebieten für Autonomie aus. Weil aber die dichter besiedelten Anden-Departements für die staatliche Einheit votierten, wurde die Teilung des Landes mit 57,6 Prozent der Stimmen abgelehnt. Nur zwei Jahre später versuchte sich das Halbmondgebiet abermals abzuspalten und hielt erneut ein Autonomiereferendum ab, das diesmal von der Zentralregierung und dem Wahltribunal für illegal erklärt wurde. Lokalpolitiker aus Santa Cruz beschwichtigten indes, man wolle keine neue Republik ausrufen, sondern lediglich die Kontrolle über die eigenen Ressourcen erlangen.

Die Machtprobe dauerte mehrere Monate und ging erst zu Ende, als sich die Streitkräfte zu Präsident Morales bekannten. Die Generäle lehnten die Autonomie ab, weil sie eine Gefahr für die Sicherheit und eine Schwächung Boliviens befürchteten. Der siegreiche Morales ließ die Staatsanwaltschaft gegen die Separatistenführer ermitteln, worauf mehrere Politiker der Halbmondregion ins Ausland flohen.

Evo Morales' Erfolgsbilanz

Seit der spanischen Conquista war Bolivien durchgängig von Vertretern der weißen politischen Elite regiert worden. Auch nach der Unabhängigkeit 1825 wurden die Nachfahren der Inka marginalisiert und vom politischen Leben des neuen Staates ausgeschlossen; erst 1952 erhielten die Indios das Wahlrecht. Der aus dem Aymara-Volk stammende Evo Morales, im Jahr 2005 mit 54 Prozent der Stimmen gewählt, war der erste indigene Präsident des Landes, in dem über die Hälfte der Bevölkerung einem der 40 indigenen Völker angehört. Für die Weißen war der Verlust der Herrschaft ein Schock.

Morales hatte während seiner Präsidentschaft insbesondere für eine gerechtere Verteilung des Wohlstands gekämpft. Tatsächlich ging der Anteil der in extremer Armut lebenden Bevölkerung zwischen 2005 und 2015 von 36,7 Prozent auf 16,8 Prozent zurück. Der Indio-Präsident führte eine kostenlose Gesundheitsversorgung für die Armen ein und bekämpfte mit Erfolg das Analphabetentum. Seine Politik der ökonomischen und politischen Einbeziehung von indigenen Gemeinden kam dem ganzen Land zugute: Zwischen 2006 und 2019 wuchs die bolivianische Wirtschaft um durchschnittlich 5 Prozent im Jahr – stärker als jede andere Volkswirtschaft in Lateinamerika. Die Regierung Morales ging auch massiv gegen den Rassismus vor: Die neue, 2009 verabschiedete Verfassung stärkte die Rechte der Indigenen; 30 indigene Sprachen wurden als Amtssprachen anerkannt, viele Indigene fanden eine Anstellung im Staatsapparat. Zu seiner Amtseinführung ließ Morales symbolisch ein Indio-Ritual durchführen, und er legalisierte auch den Anbau von Kokablättern, die traditionell von den Indios gekaut werden.

Wie hält es Morales mit der Demokratie? 

Allerdings wurde die Präsidentschaft von Morales immer wieder von Korruptionsskandalen erschüttert. Und obwohl der Präsident laut Verfassung nur zwei Amtszeiten regieren darf, klammerte er sich an die Macht: Anfang 2016 ließ er ein Referendum abhalten, um sich eine weitere Kandidatur absegnen zu lassen; die Mehrheit der Bolivianer votierte mit Nein. Morales ignorierte daraufhin das Ergebnis und zog vor das Verfassungsgericht, das seine Kandidatur für die Wahlen am 20. Oktober 2019 zuließ.

Der Urnengang im vergangenen Herbst verlief zunächst ruhig. Morales lag nur knapp vor dem bürgerlichen Politiker Carlos Mesa, der bereits von 2003 bis 2005 Präsident von Bolivien gewesen war. Die Stichwahl schien unausweichlich, die Spannung stieg. In dieser Situation hörte die Wahlkommission plötzlich ohne ersichtlichen Grund auf, die vorläufigen Ergebnisse zu veröffentlichen. Als sie nach zwei Stunden wieder an die Öffentlichkeit trat, lag Morales auf einmal mit über 10 Prozentpunkten vorn und erklärte sich zum Wahlsieger.

Die Opposition fühlte sich entsprechend überrumpelt und witterte Wahlbetrug. Auch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) prangerte massive Unregelmäßigkeiten und Manipulationen bei der Stimmenzählung an. Im ganzen Land gingen Tausende Oppositionsanhänger auf die Straßen, es kam zu Straßenschlachten mit Morales-Wählern. Das Land drohte in einen Bürgerkrieg zu versinken.

Nach drei Wochen schlug sich das Militär schließlich auf die Seite der Opposition und zwang Morales am 10. November 2019 zur Abdankung. Ein Tag später floh er nach Mexiko ins Exil. Die OAS hält bis heute an ihren Vorwürfen fest. Andere Forschungsinstitute hingegen sehen keine klaren Beweise für einen Wahlbetrug. John Curiel und Jack R. Williams vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) etwa fanden keine Indizien für Unregelmäßigkeiten. Morales’ stark angewachsener Vorsprung gegen Ende der Auszählung sei durchaus möglich gewesen, so Curiel und Williams, weil die Stimmen aus entfernten indigenen Wahlkreisen, die traditionell für Morales stimmten, erst zum Schluss ausgezählt wurden.

Die Bibel kehrt in den Palast zurück

Nach Morales’ erzwungener Abdankung erklärte sich die rechtskonservative Senatsvizepräsidentin Jeanine Áñez zur Interimspräsidentin. Zur Amtseinführung in La Paz verkündete sie feierlich, dass „die Bibel in den Palast zurückgekehrt“ sei. Áñez, die aus Trinidad, der Hauptstadt des Beni-Departements stammt, hatte schon zuvor religiösen Eifer demonstriert, als sie etwa in sozialen Netzwerken schrieb: „Ich träume von einem Bolivien, das frei von indigenen satanischen Riten ist.“

Die bolivianische Interimsregierung berief denn auch eine neue Wahlkommission ein, in der ausschließlich Anhänger der siegreichen weißen Opposition sitzen. Diese hat die Neuwahlen für das Amt des Präsidenten, den Senat und die Abgeordnetenkammer ursprünglich für den 3. Mai 2020 angesetzt. Gleichzeitig verweigerte sie zahlreichen beliebten Politikern aus dem Morales-Lager die Registrierung als Kandidaten. Auch der Ex-Präsident selbst, der bei den Indios immer noch als Held gefeiert wird, darf weder für das Präsidentenamt noch für den Senat kandidieren. Wegen der Corona-Pandemie wurden die Wahlen kurzfristig verschoben und sollen nun zwischen dem 7. Juni und 6. September 2020 stattfinden.

Soziale Explosion jederzeit möglich

Als Präsidentschaftskandidat der Bewegung zum Sozialismus (MAS) tritt Luis Arce an, der frühere Finanzminister. Er ist ein angesehener Ökonom und genießt Morales’ Vertrauen. Laut Umfragen von Anfang März kann er mit 33,3 Prozent der Stimmen rechnen und liegt damit deutlich vor Carlos Mesa mit 18,3 Prozent und Jeanine Áñez mit 16,5 Prozent. Die Opposition geht mit insgesamt fünf Kandidaten in die Wahl, darunter auch Fernando Camacho, jenem Unternehmer und Rechtsanwalt, der den Aufstand gegen Morales in Santa Cruz im Oktober 2019 angeführt hatte. Camacho hat aber bereits signalisiert, dass er seine Kandidatur zurückziehen wird – um die Opposition nicht zu zersplittern. Die besten Chancen im Duell gegen Arce dürfte deshalb Jeanine Áñez haben, die von ihrer Prominenz als Interimspräsidentin profitiert.

Wer auch immer dieses Jahr ins höchste Staatsamt Boliviens gewählt wird, sollte sich allerdings davor hüten, gegen die Hälfte des Volkes zu regieren. Die jüngsten Aufstände in Chile, Ecuador und Kolumbien haben nämlich gezeigt, dass die Ungleichheit in den meisten Ländern Südamerikas ein Niveau erreicht hat, das jederzeit zu einer sozialen Explosion führen kann. Die beiden Bolivien, das weiße Tiefland und die indigene Andenregion, werden nach einem gemeinsamen Weg suchen müssen, um die Stabilität und Einheit des Landes zu bewahren. Ob das gelingt, ist ungewisser denn je.

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe von Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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