Bergkarabach - „Es ist ein viel größerer Konflikt, der dort stattfindet“

Aserbaidschan konnte seinen Angriff auf Bergkarabach praktisch ungehindert durchführen. Denn Armeniens angebliche Schutzmacht Russland hat nichts dagegen unternommen. Der Kaukasus-Experte Stefan Meister sieht in dem Konflikt ein Menetekel. In der Region werde ein internationaler Präzedenzfall gesetzt, der die Glaubwürdigkeit von Demokratien in Frage stellt.

Armenier protestieren gegen den Angriff auf Bergkarabach und fordern den Rücktritt von Premierminister Pashinyan / dpa
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Autoreninfo

Alexandre Kintzinger studiert im Master Wissenschafts- philosophie an der WWU Münster und arbeitet nebenbei als freier Journalist. Er ist Stipendiat der Journalistischen Nachwuchsförderung (JONA) der Konrad-Adenauer-Stiftung. 

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Dr. Stefan Meister ist Leiter des Zentrums für Ordnung und Governance in Osteuropa, Russland und Zentralasien bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Von 2019 bis 2021 war er Direktor des Südkaukasus-Büros der Heinrich Böll Stiftung in Tbilisi. Für die OSZE und die EU war Meister mehrfach Wahlbeobachter in postsowjetischen Ländern.

Die Weltöffentlichkeit konnte beim Angriff Aserbaidschans auf Bergkarabach nur tatenlos zusehen. Russland wurde lange als sogenannte Schutzmacht von Armenien im Kaukasus gesehen. Warum jetzt dieses Schulterzucken von Russland gegenüber der ganzen Situation?

Ich glaube einerseits muss man verstehen, dass die Annahme, dass Russland die Schutzmacht von Armenien ist, immer wieder fälschlich reproduziert wird. Russland hat über Jahrzehnte Waffen an beide Seiten verkauft und immer eine Balance zwischen beiden Ländern gehalten. Aber wenn Sie jetzt die aktuellen Entwicklungen sehen, dann hat das was mit dem Krieg in der Ukraine zu tun. Russlands Interessen haben sich einfach verschoben, und das Land braucht wegen der westlichen Sanktionen neue Korridore für Transit, für Waren, für die Umgehung von Sanktionen. Der Nord-Süd-Korridor über Aserbeidschan nach Iran und dann Richtung Indien sowie der Korridor über die Türkei, ein wichtiger Verbündeter von Aserbaidschan, sind wichtig geworden. Damit ist Armenien einfach weniger wichtig für Russland als Aserbaidschan, und die Verhandlungsposition von Baku hat sich verbessert. Moskau macht jetzt einen Deal mit Aserbaidschan auf Kosten Armeniens. Gleichzeitig, glaube ich, will man in Moskau auch den armenischen Premierminister Paschinjan loswerden, der immer unabhängiger agiert und den man immer weniger unter Kontrolle hat.

Auf der einen Seite scheint  Aserbaidschan für Russland der interessantere Wirtschaftspartner derzeit zu sein. Gleichzeitig nähert sich Aserbaidschan ja eher der Türkei an. Riskiert Russland, Einfluss in Armenien und in der Region zu verlieren?

Russland hat eine große Militärbasis in Armenien. Es besitzt die gesamte Gasinfrastruktur und die Eisenbahninfrastruktur. Es muss sich nicht darum bemühen, von Armenien nett behandelt zu werden, denn Russland hat Armenien sowieso unter Kontrolle. Die meisten Gaslieferungen für Armenien kommen aus Russland. In der Hinsicht hat Armenien keinen Handlungsspielraum gegenüber Moskau. Das Verhältnis von Aserbaidschan und Russland ist aber auch kein freundliches. Wenn sie in Aserbaidschan sind, ist Russland kein populäres Land, und man wollte die Friedenstruppen vom eigenen Territorium loswerden. Aber Baku weiß auch, dass man mit dem großen Nachbarn irgendwie umgehen muss. Von Vorteil für Aserbaidschan ist es, die Türkei als Partner zu haben, dadurch ist das Land immer flexibler gegenüber Moskau und kann auch eigene Interessen durchsetzen, wie wir jetzt sehen.

Es besteht die Gefahr, dass Aserbaidschan es nicht bei diesem Angriff belässt und versuchen wird, weiteres Gebiet von Armenien zu besetzen, um eine Landbrücke zu schlagen zu der Exklave Nachitschewan. Wird Russland auch einer Zerstückelung vom armenischen Territorium zusehen?

Stefan Meister / DGAP

Dieser Angriff von Aserbaidschan ist sicherlich nicht ohne Zustimmung Moskaus erfolgt. Natürlich hat sich Baku davor mit Moskau abgestimmt. Die Friedenstruppen haben sich zurückgezogen, und man hat das Gebiet genommen. Und das Gleiche wird mit dem sogenannten Sangesur-Korridor passieren. Moskau will diesen Korridor auch und hat auch ein Interesse daran, wenn es diesen benutzen kann. Warum soll Aserbaidschan das nicht kontrollieren? Oder man teilt sich die Kontrolle auf, mit Grenztruppen aus Russland und aserbaidschanische Grenzposten. Ich kann mir gut vorstellen, dass Moskau dem zustimmen wird, und dass man das dann möglicherweise einfach tut. Ich sehe nicht, dass Russland hier wirklich verliert.

Armenien pflegt ein freundschaftliches Verhältnis zum Iran. Zudem gab es in der Vergangenheit Konflikte zwischen dem Iran und Aserbaidschan wegen der Grenzregion. Denken sie, dass der Iran sich nun stärker auf die Seite von Armenien stellen wird? Oder wird man sich auch eher raushalten?

Iran wird Armenien nicht wegen Karabach unterstützten, aber sollte Aserbaidschan einen Korridor im Süden Armeniens militärisch nehmen wollen, dann könnte es militärisch eingreifen. Das ist eine wichtige Handelsroute für Iran und Aserbaidschan, und die Türkei wird als Gegner angesehen.

Könnte es Putin innenpolitisch schaden, dass Russland den „kleinen christlichen Bruderstaat“ Armenien im Stich lässt?

Es gibt ja keine Unabhängigen Medien in Russland und nur noch staatliche Propaganda. Da sehe ich jetzt kein Problem. Ich meine es wird sicher Leute geben in Russland, die das kritisieren und die Armenien unterstützen. Russland hat auch eine große armenische Diaspora. Aber am Ende ist den Russen Armenien doch egal, beziehungsweise haben sie eigene Interessen. Ich meine es ist jetzt nicht so, dass sich deswegen jemand aufregen wird in Russland. Russland hat ganz andere Probleme. Man ist mit der Ukraine beschäftigt und man möchte sich in der Kaukasusregion eigentlich auch nicht zu sehr die Finger verbrennen. Es gibt ja auch eine sehr negative Sicht auf Kaukasier, im Sinne von Rassismus in Russland. Und daher ist das Christentum in dem Punkt kein großes Thema für die Russen selbst.

Also können die Armenier in Bergkarabach auch nicht mehr auf Schutz  seitens Russlands zählen, wenn es zu Ausschreitungen gegen die Zivilbevölkerung seitens Aserbaidschans komme sollte?

Die können sich ja jetzt schon nicht darauf verlassen, aber sie haben keine andere Wahl, weil niemand anderes ihnen hilft. Es gibt eben keine europäischen oder UN-Friedenstruppen. Keiner ist bereit dazu, Truppen zu schicken, nur Russland. In der Hinsicht gibt es keine Sicherheit. Und auch die Russen garantieren die Sicherheit nur sehr begrenzt. Man wird sehen, ob sie die Truppen abziehen. Ich denke, ab einem bestimmten Punkt ja, und dann wird es zur Massenflucht kommen. Die Menschen werden die Region verlassen, was auch das Ziel von Aserbaidschan ist. Und die gehen dann möglicherweise mit den Russen. Ich glaube nicht, dass Armenier im Moment auch auf dem Territorium von Aserbaidschan sicher sind. Deswegen sehe ich keine Zukunft für Armenier mehr in Bergkarabach.

Eine Lösung auf dem internationalen Parkett, welche die mögliche Vertreibung der Armenier noch verhindern kann, scheint also eher nicht in Sicht zu sein?

Es gibt einfach kein Interesse, sich dort die Finger zu verbrennen. Ich meine, dieser Krieg, der kündigt sich seit Monaten an, in allen  internationalen Medien reden die einschlägigen Experten davon, dass es diesen Angriff geben wird. Jetzt ist es passiert, und alle sind plötzlich überrascht und schauen dann erstmal, wo die Region eigentlich liegt und was dort los ist. So ungefähr ist das Interesse in Europa oder in den USA an diesem Konflikt. In der Hinsicht sehe ich nicht, dass wir bereit sind, hier mehr Verhandlungsmasse aufzubauen und Friedenstruppen zu schicken. Wir werden am Ende humanitäre Hilfe schicken nach Armenien, um den Flüchtlingen zu helfen. Und Aserbaidschan wird Fakten schaffen und letztlich das Abkommen diktieren, was ja schon auf dem Tisch liegt. Aber das ist dann ein Diktat aus Baku.

 

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Von deutscher Seite gab es im Grunde nie wirklich ein Interesse an Armenien, oder?

Es ist eine Bankrotterklärung europäischer und US-amerikanischer Diplomatie. Man hat über anderthalb Jahre verhandelt. Und jetzt macht Aserbaidschan das einfach, was es die ganze Zeit schon angekündigt hat. Deutschland hält sich da weitestgehend raus und will sich nicht die Finger verbrennen in dieser Region. Es ist schon auch sehr deprimierend, dass man einfach so wenig Interesse an diesem Konflikt zeigt und das einfach geschehen lässt. Die Bundesregierung beschäftigt sich mit der Ukraine. Wir sind abgelenkt, haben andere, größere Konflikte mit Russland, mit der Ukraine. So wird dort nun ein internationaler Präzedenzfall gesetzt, der auch die Glaubwürdigkeit von Demokratien und der EU in Frage stellt. Und das sehen wir ja überhaupt nicht und halten es für einen kleinen fernen Konflikt. Aber es ist ein viel größerer Konflikt, der dort stattfindet. Das ist aber letztlich nicht auf unserem Schirm, und da wird nicht viel passieren von deutscher Seite.

Und mit der Gefahr, dass es zu erheblichen  Menschenrechtsverletzungen kommen kann.

Ja, natürlich. Ich denke, mehr Menschen müssen um ihr Leben fürchten. Was vor allem die männliche Bevölkerung angeht, da kann man schauen, was in der Vergangenheit schon gemacht wurde. Die werden in Gefängnisse gesteckt, andere werden einfach vertrieben oder fliehen. Das werden wir letztlich beobachten.

Das Gespräch führte Alexandre Kintzinger.

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