Über die Einbindung der russischen Führung in die Entwicklungen an der Ostgrenze der EU zu Weißrussland werden zwei unterschiedliche Versionen berichtet. Insbesondere aus der Ukraine wird darauf hingewiesen, dass Russland hinter den ganzen Maßnahmen stehe, die zusammen mit anderen Formen der Bedrohung einen typischen hybriden Angriff auf die EU darstellten. Andere weisen darauf hin, dass Präsident Lukaschenkos Abrechnung wegen der Sanktionen der EU ohne Mitentscheidung Moskaus geplant worden sei, Moskau nun aber davon profitiere. Vielleicht wird die Frage später beantwortet werden. Vielleicht nie. Aber angesichts der inzwischen erreichten Eskalationsstufe gilt: Wenn Präsident Putin den Konflikt nicht umgehend eindämmt, wozu er zweifelsfrei in der Lage ist, eskaliert er unter Beteiligung Russlands weiter. Das wirft die Frage auf, wie der Konflikt an der Ostgrenze der EU sich in die geostrategische Interessenlage Russlands einfügt.
Das prioritäre Interesse der russischen Führung ist die Sicherheit ihrer Herrschaft, die sie vom Westen und seinen demokratischen Ideen herausgefordert sieht. Deshalb strebt Russland an, in seinem geographischen Umfeld, in der Ukraine, in Weißrussland und den zentralasiatischen Staaten, dominanten Einfluss auszuüben. Anders gesagt: In dieser Region soll keine andere Macht einflussreicher sein als der Kreml. Gleichzeitig liegt es im Interesse Russlands, die demokratischen Staaten Europas zu destabilisieren und im besten Fall – aus russischer Sicht gesehen – die EU zu zersetzen. Wenn die europäischen Staaten mit einer Stimme sprechen würden, wäre der Einfluss Russlands eingehegt. Je mehr Zwietracht in der EU herrscht und je zerstrittener die EU-Staaten sind, desto stärkeren Einfluss kann Russland bis nach Osteuropa reklamieren.
Territoriale Interessen
Um diese Ziele zu erreichen, nutzt Russland alle möglichen Mittel, die es je nach taktischen Anforderungen zielgerichtet einsetzt. Dazu gehören die militärischen Handlungen in Syrien und Libyen, die den Zugang zum Mittelmeer sicherstellen. Dazu gehören Cyberangriffe und Desinformationskampagnen, die in mehreren europäischen Staaten auftraten, sowie die Unterstützung nationalpopulistischer Parteien. Dazu gehört auch, die Zwietracht in der EU über die Migration zu fördern. Denn gleichgültig, wie die EU-Staaten nun reagieren, es wird zu massiven inneren Konflikten kommen. Denn die einen werden die befestigte Sicherung der Grenze anstreben, was die anderen, die das Recht auf Asyl als höherwertig ansehen, ablehnen. Innergesellschaftliche Konflikte um die Priorität der Werte sind so programmiert und können von außen angefacht werden.
Mit Blick auf Weißrussland und die Ukraine geht das russische Interesse noch weiter. Deren territorialer Verlust schmerzt die russische Führung noch immer, und sie strebt – in welcher rechtlichen Form auch immer – eine engere Verbindung Russlands mit diesen beiden Staaten an. Deshalb fürchtet der weißrussische Präsident derzeit möglicherweise auch ein militärisches Eingreifen Russlands, weil dies seine politische Autonomie – die zumindest innerhalb der Landesgrenzen besteht – unterhöhlen könnte. Deshalb fürchtet Russland die Zunahme amerikanischen Einflusses in der Ukraine, der aus einer erst jetzt erneut vereinbarten engeren Kooperation erwachsen könnte. Russland warnt die Ukraine deshalb ebenso wie die USA vor allem vor einer engeren militärischen Zusammenarbeit und der Lieferung von Waffen. Der aus einer deutschen Regierungspartei stammende Vorschlag, Polen solle Migranten aufnehmen, die dann für die Dauer des Asylverfahrens in die Ukraine gebracht werden könnten, muss in Moskau als provozierend angesehen werden, ohne dass er – was ja ein möglicher Sinn sein könnte – Russland unter Druck setzt. Er dokumentiert allerdings, dass sich die Führung des Auswärtigen Amtes auf die derzeitige Lage nicht vorbereitet hat, obwohl die Eskalation seit Juni 2021 angekündigt worden war, als Präsident Lukaschenko mit Blick auf Deutschland fragte, ob es wieder einen heißen Krieg geben solle.
EU im Dilemma
Für Russland sind derzeit vor allem zwei Folgen der Lage an der EU-Ostgrenze bedeutsam. Erstens stecken die Regierungen der EU-Staaten nun in dem Dilemma, zwischen der Unverletzlichkeit der Grenze und dem Recht auf Asyl wählen zu müssen. Beides ist, nachdem man Weißrussland monatelang gewähren ließ und die Eskalation akzeptierte, nicht mehr gleichzeitig zu haben. Zweitens bekunden die EU und die Regierungen der EU-Staaten ihre Unfähigkeit, das eigene Territorium und die Menschen darin selbstständig zu schützen. Das aber ist – nicht nur aus russischer Sicht – eine der wichtigsten Aufgaben von Staaten. Dass der russische Außenminister sich über die EU dabei lustig macht und Spott ausschüttet, dokumentiert, wie überlegen sich Russland in dieser Lage ansieht. Außenminister Lawrow wies darauf hin, dass die Europäer, die beständig ihre Lebensweise in anderen Ländern propagierten, nun diejenigen aufnehmen sollten, die, um so leben zu können, den Weg nach Europa angetreten sind. Und er verband dies mit dem Hinweis, man könnte Weißrussland ja ebenso bezahlen wie die Türkei, wenn sie Migranten von der Grenze abhalten solle. Das aber wäre für die EU eine politische Blamage, denn damit müsste sie die Legitimität der Herrschaft von Präsident Lukaschenko anerkennen, nachdem sie wegen der – aus EU-Sicht – gefälschten Wahlen Sanktionen verhängt hat.
Die EU wird aus dem Konflikt geschwächt hervorgehen. Die USA werden erkennen, dass sie mit den EU-Staaten wirtschaftlich starke, aber politisch schwache Partner hat. Russland hat erneut eine politische Bresche geschlagen, um die EU zu schwächen. Die EU verliert damit für die Staaten westlich Russlands und im Kaukasus (und vielleicht im Balkan) an Attraktivität. Denn Wohlstand lässt sich in der internationalen Ordnung nach dem Ende des amerikanischen Zeitalters nicht mehr alleine wirtschaftlich erhalten. Wirtschaftliche Stärke muss politisch abgesichert werden. Russland will zeigen, dass es dies besser kann als Brüssel.