Bataclan-Anschlag 2015 - Der Prozess

1775 Nebenkläger, 330 Rechtsanwälte, 20 Angeklagte, 5 Richter, 3 Generalstaatsanwälte – heute beginnt in Paris der größte Strafprozess, den Frankreich je erlebt hat. Seit Tagen Hauptthema aller französischen Magazine und Nachrichten: der Bataclan-Prozess.

Ein speziell gebauter Gerichtssaal im Gerichtsgebäude, in dem 20 mutmaßliche Islamisten angeklagt werden / dpa
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Kay Walter arbeitet als freier Journalist in Frankreich

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Verhandelt wird der mörderischste Terroranschlag der französischen Geschichte. Am 13. November 2015 fanden in Paris 130 Menschen den Tod. Ermordet von Terroristen in einer beispiellosen Attentatsserie. Eine konzertierte Aktion an mehreren Orten im Osten der Hauptstadt. Während eines Fußball-Länderspiels gegen Deutschland erfolgte um 21.20 eine erste Explosion. 5 Minuten später begann das Massaker in einem beliebten Ausgehviertel: Im Le Carillon und im Le Petite Cambodge wurden 15 Menschen wahllos erschossen; Weitere 5 im Bonne Bière und im Casa Nostra. Um 21:36 wurde minutenlang auf die Bar La Belle Équipe geschossen. 19 Menschen starben dort im Kugelhagel.

Um 21:40 stürmten schwerbewaffnete Mörder dann das Konzerthaus Bataclan, schossen um sich und warfen Handgranaten ins Publikum. 89 Menschen wurden allein im Bataclan ermordet. Zusätzliche 683 Personen wurden verletzt, 97 davon schwer. Sie gelten offiziell als kriegsversehrt. Nun also, 5 Jahre, 9 Monate und 3 Wochen nach der brutalen Mordserie, soll die juristische Aufarbeitung starten.   

Die mutmaßlichen Täter und Drahtzieher

Im Mittelpunkt steht der einzige überlebende Attentäter Salah Abdeslam. Der 31-jährige Franzose mit marokkanischen Wurzeln sitzt in Isolationshaft, ihm droht lebenslange Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung. Im März 2016 wurde Abdeslam im Brüsseler Stadtteil Molenbeek nach einer Schießerei mit der Polizei verhaftet und einen Monat später nach Frankreich ausgeliefert. In Belgien wurde Abdeslam wegen versuchten terroristischen Mordes bereits zu 20 Jahren verurteilt.

Der zweite Hauptangeklagte Mohamed Abrini wird beschuldigt, ein Kopf der Attentats-Serie gewesen zu sein. Ihm droht das nämliche Strafmaß. Abrini, Belgier mit marokkanischen Wurzeln, war möglicherweise auch an den Brüsseler Terroranschlägen beteiligt, bevor er im April 2016 in Anderlecht gefasst werden konnte. Der zweite mutmaßliche Planer, Abdelhamid Abaaoud, wurde bei einer Razzia mit siebenstündigem Schusswechsel in Paris Saint-Denis erschossen.

Die 18 weiteren Verdächtigen sehen ebenfalls langen Haftstrafen wegen Mordes, Bildung einer Terrorgruppe und Freiheitsberaubung entgegen. Zwölf sitzen in Untersuchungshaft. Gegen sechs weitere wird in Abwesenheit verhandelt. Sie werden mit internationalem Haftbefehl gesucht. Einige von ihnen könnten allerdings nach Erkenntnissen der Ermittler und von Geheimdiensten bereits tot sein.

145 Verhandlungstage im Minimum

Der Prozess wird lang und schwierig werden, egal ob sich die Anklagten selbst zu den ihnen vorgeworfenen Taten und ihren Motiven äußern, oder nicht. Der Anwalt Jean Reinhart, der viele Nebenkläger vertritt, spricht von einem „Mount Everest, den es zu erklimmen gilt“. 145 Verhandlungstage sind im Minimum allein für die Anhörungen angesetzt, jeweils dienstags bis freitags ab 12:30 Uhr. Überlebende und Angehörige der Ermordeten werden als Vertreter der Nebenklagen ebenso wie Zeugen und Ermittler zu Wort kommen.

Eigens für den Prozess wurde ein neuer, 750 Quadratmeter großer Saal in das Gebäude aus dem 18. Jahrhundert hineingebaut. Aber auch der bietet nur rund 550 Personen Platz. Für alle anderen, ob nun Prozessbeteiligte oder Journalisten, wird das Geschehen live in insgesamt 10 Säle übertragen. Kameras sind vor französischen Gerichten sonst nicht zugelassen. Dieser Prozess wird dagegen aufgezeichnet und zu Dokumentationszwecken gespeichert werden.

Paris steht still

Wegen Terrorgefahr –  es soll inzwischen konkrete Anschlagsdrohungen geben – sind sämtliche Straßen rund um das riesige Gerichtsgebäude in unmittelbarer Umgebung von Notre-Dame vollständig für den Verkehr gesperrt. Nicht einmal Fußgängern und Radfahrern wird es gestattet sein, sich von der Pont Neuf über die Quais neben dem Justizpalast in Richtung der Kathedrale zu bewegen.

Paris steht still. So still, wie es auch im Schock nach Attentaten stand. Die Gefühle von vor sechs Jahren werden nicht allein bei den Angehörigen wieder hochgespült, sondern in der ganzen Stadt. Dieser Prozess hat, wie auch die Anschläge selbst, das Potential, das Land zu ändern.  

Mit Milde ist nicht zu rechnen

Der damalige Präsident Francois Hollande erklärte am Tag nach den Anschlägen, die Täter seien Anhänger des Islamischen Staates, die Frankreich „den Krieg erklärt“ hätten. Sein Verteidigungsminister (heute Außenminister) Jean-Yves Le Drian forderte offiziell den Beistand der anderen EU-Mitgliedstaaten ein. Frankreich ist das einzige EU-Land, das jemals die Beistandsklausel in Anspruch nahm. Bis heute bekundet Hollande: „Wir sind mit dem islamistischen Terror noch nicht am Ende“. Man kann davon ausgehen, dass er sich auch als Zeuge vor Gericht in dieser Weise einlassen wird.

Staats- wie Opferanwälte wollen beweisen, dass die Anschläge „von mindestens 15 Personen akribisch vorbereitet wurden“. Als Drahtzieher beschuldigen sie ein französisch-belgisches Netzwerk, das sehr eng mit dem IS verbunden sei. Die Attentäter wären unter anderem in Syrien ausgebildet worden. Zentrale Figuren seien neben den konkreten Tätern Abaaoud und Abrini als Planer gewesen. Vor allem Abrini und der einzige lebende Mörder Abdeslam sollten nicht mit Milde rechnen.

Mehr als ein juristischer Prozess

Mehr als zwei Jahre hat die Staatsanwaltschaft den Prozess vorbereitet. 542 Ordner – in Reihe gestellt sind das 53 Meter Papier – umfasst die Ermittlungsakte, die jeden Zweifel ausräumen soll. Die Opfer fordern Gerechtigkeit. Das ganze Land muss ein Trauma bewältigen. Und es gleichzeitig schaffen, dabei keine Legendenbildung von angeblichen Märtyrern unter Jugendlichen in den muslimischen geprägten banlieues entstehen zu lassen.

Das ist in Wahrheit mehr als ein Prozess überhaupt leisten kann. Der muss nach transparenten Verhandlungen ein gutes Urteil fällen. Alles andere kann nur eine parallele Diskussion in der gesamten Breite der Gesellschaft erreichen. Ob das in einem langsam beginnenden Wahlkampf möglich ist?

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