Außenpolitik der Ampel-Regierung - Der Diener Europas

Es ist und bleibt das Dilemma der Außenpolitik, dass sich mit hehren Grundsätzen allein, und seien sie noch so schön, kein Staat machen lässt. Deutschland sollte möglichst bald wieder lernen, außenpolitisch zwischen Werten und Interessen zu unterscheiden.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock vor dem Eiffelturm in Paris / dpa
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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In der Außenpolitik hält man anders als in der Innenpolitik nicht alle machtpolitischen Fäden selbst in der Hand, sondern trifft auf selbstständige Akteure mit eigenen Interessen und Weltsichten. Akzeptieren diese jene Regeln nicht, nach denen man selbst gerne spielen würde, helfen einem die hehren Grundsätze auch nicht weiter. Manchmal muss man sie sogar übertreten, um zum Ziel zu kommen.

In der Außenpolitik zählen also noch mehr als in der Innenpolitik das Gleichgewicht, das Austarieren von Interessen und das Aushandeln von Kompromissen. Es geht nicht in erster Linie um die Umsetzung eines ideologischen Programms, sondern um die Stabilisierung der internationalen Ordnung. Es geht zuvörderst um Sicherheit - für jedermann - und damit um ganz schnöde nationale Interessen.

Werte statt Interessen

Der linksliberalen Ampelkoalition ist das nicht genug. Im Koalitionsvertrag ist im Zusammenhang mit der Außenpolitik denn auch öfter von „Werten“ als von „Interessen“ die Rede. Die Werte sollen dabei nicht dazu dienen, die eigenen Interessen gemeinwohlförderlich zu begrenzen. Sie sind vielmehr die Basis dafür, andere ganz selbstbewusst auf den Pfad der Tugend zu führen.

Geldzahlungen sollen künftig zum Beispiel im Rahmen einer „werteorientierten Entwicklungspolitik“ nicht nur an Fragen des Klimaschutzes und der Sicherung der Grundbildung der Bevölkerung ausgerichtet, sondern auch von identitätspolitischen Motiven geprägt sein. So will die Ampel in der „Dritten Welt“ auch offensiv die Rechte „marginalisierter Gruppen wie LSBTI“ (lesbisch, schwul, bisexuell, trans, inter) stärken. Zumindest in der Sahelzone dürfte das mehr Irritationen als Dankbarkeit hervorrufen.

Keine Werte ohne kulturelle Einbettung

Mit den Werten ist es aber nun so eine Sache. Ohne kulturellen Kontext sind sie blutleer. Man kann sich zwar bedenkenlos auf dem Papier auf sie verständigen, aber eigentlich nur deshalb, weil jeder Vertragspartner aufgrund seiner kulturellen Traditionen darunter jeweils etwas ganz anderes versteht.

Es braucht dabei nicht den Blick in die weite Welt, um sich der bestehenden kulturellen Unterschiede zu vergewissern. Wie weit die kulturellen Selbstverständnisse auseinander klaffen können, sieht man auch in der Europäischen Union. Die seit Jahren anhaltenden Konflikte zwischen dem westlichen Europa auf der einen Seite und den Visegrád-Staaten auf der anderen legen darüber beredt Zeugnis ab.

Der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev schreibt sich schon seit Jahren vergeblich die Finger wund, um dem europäischen Westen das Problem zu erklären. Die osteuropäischen Staaten unterscheiden sich von den westlichen zunächst dadurch, dass sie in den 1960er und 1970er Jahre keine tiefgreifende Liberalisierung ihrer Gesellschaften erlebt haben. Das Jahr 1968 macht am Ende eben doch einen erheblichen mentalen Unterschied mit Langfristfolgen. Victor Orbán, der Ministerpräsident von Ungarn, nennt die westlichen Länder Europas daher nicht ohne Grund spöttisch „Regenbogenländer“ und hält, wie die meisten Ungarn, an einem tief katholisch geprägten Familienbild fest.

Zweitens ist der Gründungsmythos der jungen, östlichen Demokratien die Selbstermächtigung des Volkes gegen Fremdherrschaft. Polen, Tschechien, Ungarn und auch der Osten Deutschlands gehörten zwar nicht unmittelbar zur Sowjetunion, waren ihrem Herrschaftsanspruch aber dennoch unterworfen. Die „Wende“ wird in all diesen Ländern nicht nur als der Neubeginn der Demokratie, sondern vor allem als die Wiederherstellung von Selbstbestimmung verstanden.

So erklären sich auch die allergischen Reaktionen des Ostens gegen allzu intensive Belehrungen aus dem Westen. Orbán wird in einem Interview mit der Welt besonders deutlich: „Wir wissen, wie es ist, wenn Entscheidungen nicht in unserer Hauptstadt getroffen werden. Im EU-Parlament und bei einigen Regierungschefs beobachten wir die Tendenz, immer mehr nationale Kompetenzen nach Brüssel verlagern zu wollen. Das lehnen wir aus historischer Erfahrung ab. Wir wollen Teil einer Allianz aus starken, vertragstreuen Nationalstaaten sein.“

Moralische Führungsrolle

Angela Merkel gehört außenpolitisch noch zur ganz alten Schule der leisen Töne und Kompromisse. Während sich Teile des EU-Parlamentes im Oktober 2021 in Forderungen überboten, Polen endlich an die Kandare zu nehmen, blieb die Ex-Kanzlerin ganz besonnen: „Wir haben große Probleme, aber ich rate dazu, sie im Gespräch zu lösen, Kompromisse zu finden. Das war immer das Wesen der Europäischen Union und das muss es auch bleiben.“ Und es ist langfristig wahrscheinlich die einzige Möglichkeit um zu verhindern, dass noch weitere Länder die Europäische Union verlassen.

Von dieser Sorge scheint die Außenpolitik der Ampelkoalition allerdings nicht getrübt. Sie beansprucht als „größter Mitgliedsstaat“ sogar „eine besondere Verantwortung“ und damit eine moralische Führungsrolle, wenn es um die Verteidigung europäischer Werte nach innen und nach außen geht.

Wie das EU-Parlament will sie sich daher dafür einsetzen, dass die Europäische Kommission Strafverfahren gegen Mitgliedsstaaten „konsequenter und zeitnah“ einleitet. Auch im Rat der Europäischen Union sollen die entsprechenden „Rechtsstaatsinstrumente“ konsequenter durchgesetzt werden. Eine Zustimmung der deutschen Regierung zum Wiederaufbaufonds werde es jedenfalls nur dann geben, wenn eine „unabhängige Justiz gesichert“ sei. Geld gegen Wohlverhalten - Polen wird diese Drohung auch dann verstanden haben, wenn sein Name nicht gefallen ist.

Es geht um den way of life

Dabei geht es bei dieser Auseinandersetzung nicht bloß um Fragen der Rechtsstaatlichkeit. Es geht um einen spezifischen way of life. Längst wird nicht mehr bloß über die Unabhängigkeit der Justiz gestritten, sondern über die Frage, ob Europa ein multikultureller und linksliberaler Kontinent sein solle oder nicht.

Und diese Perspektive stößt in den Regionen Europas eben auf je unterschiedliche kulturelle Voraussetzungen, die unweigerlich zu Konflikten führen müssen. In einer bemerkenswerten öffentlichen Auseinandersetzung mit dem deutschen Europapolitiker Manfred Weber (CSU) machte Victor Orbán genau diese tiefgreifenden kulturellen und damit auch politischen Unterschiede deutlich: „Politiker, die sich nach einem Amt in Brüssel sehnen, müssen verstehen, dass Mitteleuropa niemals seine christliche Wertordnung, seine Nationalkultur und auch unsere in das traditionelle und für uns einzige Familienmodell gesetzte Überzeugung aufgeben wird.“ Für Orbán und Co. geht es also nicht bloß um ein paar Paragrafen, sondern die eigene Identität. Daher rührt auch das systemsprengende Potenzial in der Debatte.

Die deutsche Ideologie

Im Jahre 1845 brachten Karl Marx und Friedrich Engels ausgerechnet in ihrem Werk „Die deutsche Ideologie“ eine große politische Weisheit zu Papier. Sie rieten damals dazu, immer dann skeptisch zu sein, wenn sich jemand allzu moralischer und scheinbar gemeinwohlorientierter Argumente bedient. Das sei, nach Lage der Dinge, dann meist eher ein Hinweis für das Gegenteil, nämlich die Bemäntelung der eigenen schnöden Interessen. Aber um beim Ringen um politischen Einfluss erfolgreich sein zu können, müsste man eben das eigene „Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft“ darstellen. Sonst fände man keine Zustimmung in der Öffentlichkeit.

Die Ampelkoalition scheint sich dieser „deutschen Ideologie“ zu bedienen, wenn sie ihren moralischen Führungsanspruch in der Europäischen Union, schnöde abgeleitet aus der schieren Größe Deutschlands, dennoch mit einem „dienenden Verständnis für die EU als Ganze“ verbindet. Der Hegemon als Mutter Teresa - ungefähr so geht die Erzählung des Koalitionsvertrages. Indes wird man das gerade nicht als bloß taktisch, sondern durchaus ganz ernstgemeint verstehen müssen. Die Grünen und mit ihr die Ampelkoalitionäre glauben an die segensreichen moralischen Absichten des eigenen Handelns und an eine daraus abgeleitete Berechtigung, den Osten Europas und andere Teile der Welt erziehen zu dürfen.

Eskalation oder klassische Diplomatie

Es geht letztlich um nichts anderes als eine zwangsweise herbeigeführte „nachholende Modernisierung“. Man könnte das für eine zwar sanfte und gut gemeinte, aber dennoch eine Form von kulturellem Kolonialismus halten. Das alte, christlich geprägte und konservative Europa, das im Westen mit den 1960er Jahren zu bröckeln begann, soll vom ganzen Kontinent verschwinden. Deutsche Außenpolitik kann dabei zwischen Werten und Interessen schon deshalb nicht mehr unterscheiden, weil ihr die eigenen Werte und deren Verbreitung zu den eigentlichen Interessen geworden sind.

Schon schnell wird sich dabei zeigen, dass Deutschlands moralischer Führungsanspruch auf erbitterten Widerspruch jener treffen muss, die sich den westeuropäischen way of life nicht von außen aufzwingen lassen wollen. Für die Bereinigung dieser Konfliktlage wird es langfristig daher nur zwei Wege geben. Entweder die Rückkehr deutscher Außenpolitik zur leisen und an Verständigung orientierten Linie Merkels - oder die Eskalation und der Austritt Osteuropas aus der Europäischen Union.

Man kann dem europäischen Einigungsprojekt nur wünschen, dass Deutschland möglichst bald wieder lernt, außenpolitisch zwischen Werten und Interessen zu unterscheiden.

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