Islamistisches Attentat in Frankreich - Betroffenheit reicht nicht

Der brutale Mord an einem Geschichtslehrer im französischen Conflans-Sainte-Honorine hat einen islamistischen Hintergrund. Der erschossene Täter ist Tschetschene. Nicht zum ersten Mal muss sich Frankreich einer Gruppe zuwenden, die es sich in einer militarisierten Parallelwelt eingerichtet hat.

Nach dem Attentat: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Conflans-Sainte-Honorine / dpa
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Kay Walter arbeitet als freier Journalist in Frankreich

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Conflans-Sainte-Honorine ist eine beschauliche Kleinstadt 27 Kilometer nordwestlich von Paris im Bezirk Yvelines an der Mündung der Oise in die Seine. Die Bevölkerung ist vergleichsweise jung, das Einkommen der Menschen nur knapp unter Durchschnitt, gewählt wird traditionell links. Nichts Besonderes also. Aber seit gestern kennt Frankreich Conflans. Denn hier wurde ein Lehrer auf offener Straße enthauptet oder wie sich später herausstellte: Ihm wurde brutal die Kehle durchgeschnitten.
 
So viel ist bislang klar: Das Opfer war Geschichtslehrer. In seiner Klasse behandelte er das Thema Meinungsfreiheit, und im Rahmen dieses Kurses hat er die Mohammed-Karikaturen aus Charlie Hebdo gezeigt, nicht ohne zuvor darauf hinzuweisen, dass die Zeichnungen eventuell religiöse Vorstellungen verletzen könnten. Wer das befürchte, solle den Raum verlassen. Meinungsfreiheit und Laizität, so die Überzeugung des Lehrers wie des französischen Staates, müssen im Diskurs erlernt werden. Vor allem aber muss sie den Dissens, die andere Meinung aushalten.

Das Recht, im Namen Allahs zu töten

Der Täter aber sah das offenbar anders. Ein 18-jähriger Tschetschene, geboren bei Moskau, lauerte dem Lehrer am Freitagabend auf und schnitt ihm auf offener Straße mit einem großen Messer die Kehle durch. Viel mehr ist über den Mörder noch nicht bekannt, denn als die Polizei ihn kurze Zeit nach dem Mord  blutverschmiert antraf, griff er auch die Polizisten mit dem Messer, „Allahu-Akbar“ schreiend, an und wurde daraufhin erschossen.

Im Laufe der Nacht wurden mehrere Personen festgenommen, darunter auch die Eltern des Attentäters, ein Großelternteil, ein weiteres Familienmitglied sowie fünf Personen aus dem direkten Umfeld, wohl allesamt Tschetschenen. Der 18-Jährige hat unmittelbar nach der Tat ein Foto seiner Tat getwittert, ein Elternteil hatte zudem ein Video des Mordes auf Facebook verbreitet, heißt es aus Polizeikreisen. Es ist also davon auszugehen, dass es nicht „die Einzeltat eines Irren“ war, sondern dass in dieser Familie fest daran glaubt wird, sie habe das Recht, im Namen Allahs zu töten. Auch deshalb hat die PNAT, die nationale Antiterrorismus-Staatsanwaltschaft, den Fall übernommen.

Ein erkennbar angegriffener Präsident

Frankreich erinnert sich mit Schrecken daran, dass bereits im Juni des Jahres hunderte marodierende Tschetschenen wild um sich schießend durch die Kleinstadt Grésilles bei Dijon gezogen waren und dabei regelrecht Jagd auf Afrikaner gemacht hatten. Junge Männer mit erkennbar militärischer Vorausbildung, die damals in die Mikrofone und Kameras der Medien ohne jede Scheu wörtlich sagten: „Niemand greift einen Tschetschenen an. Wer das tut, wird sterben. Wir werden ihn töten.“

Gestern Abend eilte ein erkennbar angegriffener Präsident nach Conflans und erklärte: „Einer unserer Mitbürger wurde brutal ermordet. Er ist Opfer eines islamistisch terroristischen Attentats“. Es handele sich, so Emmanuel Macron weiter, um einen Angriff auf die Grundwerte des Staates und deshalb um einen Angriff auf jeden einzelnen Franzosen. Denn: „Er hat seine Schüler gelehrt, was es heißt zu glauben oder nicht zu glauben.“ Frankreichs Staatschef schloss seine Ansprache mit dem großen Satz aus dem spanischen Bürgerkrieg: Sie werden nicht durchkommen! Ils ne passeront pas!

„Er wollte die Republik treffen“

Erst vor wenigen Wochen hatte Emmanuel Macron einen Gesetzesentwurf gegen die Entstehung von islamistischen Parallelgesellschaften vorgestellt. Die Bildung und die Institution Schule spielen dabei eine zentrale Rolle. Denn in den Schulen, erklärte Macron, würden die Werte der Republik unterrichtet. Und die Meinungsfreiheit sei eines der höchsten Güter der Verfassung. Die sogenannte Islam-Rede des Präsidenten sorgte über die Landesgrenzen hinaus für Aufmerksamkeit.

„Es ist deshalb kein Zufall, dass dieser Terrorist heute Abend einen Lehrer ermordet hat. Er wollte die Republik treffen, ihre Werte, die Aufklärung und die Möglichkeit, unsere Kinder zu mündigen Bürgern zu machen, woher sie auch kommen, an was sie auch glauben oder eben auch nicht glauben“, sagte Macron. „Wir lassen das nicht durchgehen. Diese Schlacht ist die unsere. Wir werden sie schlagen, das ist unabdingbar.“

Betroffenheit reicht nicht aus

Bleibt die Frage, ob Frankreich dabei die „Richtigen“ in den Blick nimmt?

Zumindest die öffentliche Debatte denkt bei dem Stichwort islamistische Kreise meist zuerst an Afghanen und Nordafrikaner, nicht aber an die gut 30.000 Tschetschenen im Land. Von denen weiß man sehr wohl, dass viele auch in Frankreich weiter fest in Clan-Strukturen verankert sind, dass ein überproportional großer Anteil im privaten Sicherheitsgewerbe und in der Drogenkriminalität (manche in beiden Bereichen gleichzeitig) fest verankert ist. Auch, dass viele tschetschenische Männer nicht nur über eine militärische Ausbildung, sondern ebenfalls über reichlich praktische Kampferfahrung verfügen. Über Waffen sowieso.

Der Präsident hat recht. Der Staat muss den Kampf um seine Werte führen. Das bedeutet, er muss sie auch durchsetzen, gerade gegenüber Parallelstrukturen, die meinen, nach eigenen Regeln handeln zu dürfen. Der Staat muss aber auch und vor allem den Kampf um die Köpfe führen. Dazu reicht die Betroffenheit an einem so schrecklichen Abend nicht aus. Dazu muss endlich mehr Geld in die Ausbildung fließen – und zwar gerade in den sogenannten schwierigen Vierteln.

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