Atomwaffen - Die Logik der Abschreckung: Eine Erinnerung

Die atomare Bewaffnung hat das außenpolitische Handeln ab den späten 40er-Jahren grundlegend verändert: Sie hat Kriege verhindert um den Preis, dass die jeweiligen Atommächte innerhalb ihres Einflussbereiches freie Hand hatten. Stattdessen lieferten sie sich Stellvertreterkriege. Eine Renaissance des Stellvertreterkrieges mitten in Europa können wir uns auf Dauer nicht leisten. Hier ist Weisheit und Diplomatie gefragt, nicht moralistische Rechthaberei. 

Atomwaffen haben die Logik des politischen Handels grundlegend geändert: Karl Jaspers (1956) / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Im Jahr 1958 veröffentlichte der Philosoph Karl Jaspers sein Buch „Die Atombombe und die Zukunft des Menschen“. Es wurde ein Bestseller. Inzwischen ist es in Vergessenheit geraten. Teilweise zu Recht. Denn vieles in dem umfangreichen Werk ist der Situation der späten 50er-Jahre geschuldet. Einige Grundgedanken jedoch haben nach wie vor Gültigkeit: etwa, dass die Menschheit unter den Bedingungen der Atomwaffen in eine akute Grenzsituation gerückt ist. Und dass diese Situation die Logik des politischen Handels grundlegend geändert hat. 

Angesichts der atomaren Bedrohung plädierte Jaspers etwas blauäugig für eine universale „Umkehr“ des politischen Denkens: Die „alte Politik“, die durch nationale Macht- und Herrschaftsinteressen bestimmt gewesen sei, müsse durch eine „neue Politik“ ersetzt werden, die von Vernunft und Ethos geleitet werde. Selten ist ein Projekt grandioser gescheitert. 

Denn die Atomwaffen haben die Prämissen politischen Denkens noch einschneidender determiniert, als Jaspers sich das vorstellen konnte. Die perfide Binnenlogik der atomaren Bewaffnung macht eine direkte Konfrontation von Atommächten faktisch unmöglich – vorausgesetzt, alle Beteiligten bewahren einen kühlen Kopf. Das aber hat drei drastische Konsequenzen, an die man offensichtlich heutzutage wieder einmal erinnern muss, da sie das politische Handeln determinieren.

Atommächte haben Narrenfreiheit

Die erste – angenehme – Folge der atomaren Hochrüstung lautet: Friede zwischen den Atommächten. Dass es in den 50er- oder 60er-Jahren zwischen der Nato und dem Warschauer Pakt nicht zu einem Krieg gekommen ist, hat die Welt der atomaren Bewaffnung zu verdanken. Und auch in der aktuellen Situation muss man angesichts des Augusterlebnisses, in das sich im Westen so mancher mitten im März hineingefiebert hat, davon ausgehen, dass die Logik militärischer Konfrontation uns in den letzten Wochen wieder eine Ostfront beschert hätte, wenn es keine Atomwaffen gäbe. Wahrscheinlich hätte man nicht gezögert, im Namen von Freiheit und Demokratie die Welt zwischen Ostsee und Schwarzem Meer in Brand zu setzen und der Ukraine zu Hilfe zu kommen – schließlich wär’s für die gute und gerechte Sache. Robert Oppenheimer sei Dank, dass das nicht möglich ist. 

Damit sind wir bei der zweiten, für mache Menschen offensichtlich nur schwer zu akzeptierenden Schattenseite atomarer Bewaffnung: Innerhalb des von ihnen beanspruchten Sicherheitskorridors haben die Atommächte Narrenfreiheit. Niemand wird und kann ihnen in die Hände fallen. So kam es, dass die Sowjetunion 44 Jahre lang den Osten Europas unterwerfen konnte. Das ist bitter, aber zu akzeptieren. 

Zugleich bedeutet das, dass die unmittelbaren Nachbaren der großen Atommächte nur eingeschränkte Souveränität genießen. Man mag das ungerecht finden oder unethisch, es entspricht aber den Tatsachen. Jede Atommacht hat ihre Monroe-Doktrin, und die gilt es nolens volens wechselseitig zu akzeptieren. Der Preis ist hoch, doch das Resultat ist ein stabiler Friede. 

Der Ukraine-Konflikt ist ein typischer Stellvertreterkrieg

Allenfalls führen Großmächte – drittens – Stellvertreterkriege. Dabei ist eine Großmacht zumeist direkt in den Konflikt involviert, während eine andere Großmacht den jeweiligen Gegner technisch und materiell unterstützt. Korea, Vietnam und Afghanistan sind dafür die klassischen Beispiele. 

Der Ukraine-Konflikt trägt Züge eines typischen Stellvertreterkrieges. Die USA haben durch die Präsenz von Militärberatern und andauernde Bündnisavancen den Überfall Russlands nicht eben verhindert – um es vorsichtig auszudrücken. Deutlicher hat es der renommierte Politikwissenschaftler John Mearsheimer von der Universität Chicago in einem Interview mit dem New Yorker Anfang März formuliert, als er betonte, dass aus seiner Sicht „der Westen, insbesondere die Vereinigten Staaten, die Hauptverantwortung für diese Katastrophe trägt“. Umso wichtiger ist es jedoch, dass dieser Stellvertreterkrieg nicht, wie so viele ähnliche Konflikte, in einen Abnutzungskrieg mündet. Das ist aus humanen und sicherheitspolitischen Aspekten inakzeptabel. Die Kuh muss vom Eis und zwar schnell. 

Im Westen hat sich nach dem kalten Krieg eine problematische Form wertebasierter Außenpolitik etabliert, die die Realitäten der atomaren Logik ausblenden möchte. Nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Doch es geht nicht darum, wie die Welt sein soll, sondern wie sie ist. Und in einer solchen Welt wird man nicht umhinkommen, auch einem Putin einen gesichtswahrenden Ausweg aus der selbstverschuldeten Krise zu ermöglichen. Spielchen wie „… der hat aber angefangen“, taugen für den Kindergarten, nicht aber für die Weltpolitik unter der Logik von Atomwaffen. Auch im eigenen Interesse ist es Zeit für den Westen, aus dem fiebrigen Eskalationsmodus auszusteigen und sich auf Weisheit und Diplomatie zu besinnen. 

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