Anschlag von Krasnogorsk - Dilemma für Putins Propagandisten

Dass sich die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) zu dem Anschlag bei Moskau bekennt, stört die Propagandalinie des Kreml. Und die Konfrontation mit dem IS birgt für Putin wegen vielen russischen Muslimen ein großes Risiko.

Erinnerungen an den Anschlag in der Moskauer Metro 2004: Bürger gedenken der Opfer des Terroranschlags in Krasnogorsk / dpa
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Autoreninfo

Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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Nach dem Tag der Staatstrauer wegen der mindestens 137 Todesopfer des Terroranschlags auf die Krokus-Konzerthalle im Moskauer Vorort Krasnogorsk gingen wieder mehrere Dutzend Raketen auf Kiew und andere ukrainische Großstädte nieder. Betroffen waren durchweg Wohnviertel, obwohl der Kreml behauptete, man habe Patriot-Luftabwehrsysteme ausgeschaltet. Die Ukrainer erleben seit mehr als zwei Jahren täglich den Terror, den nun vermutlich islamistische Terroristen an einem Tag ganz nah an die russische Hauptstadt gebracht haben. Ein Ende der Terrorisierung der Ukrainer durch die russischen Nachbarn ist nicht abzusehen, sie wird sich mittelfristig eher verstärken. Denn Kremlchef Wladimir Putin macht die Führung in Kiew, die er unter völliger Verdrehung der Tatsachen als „Nazi-Regime“ attackiert, für den Anschlag auf die Konzerthalle verantwortlich.

Kein westlicher Experte glaubt diese Version des Kremls, die auf allen Kanälen der staatlich kontrollierten Medien verbreitet wird. Die Ukraine ist derzeit völlig von westlicher Militär- und Finanzhilfe abhängig, deshalb haben Streitkräfte und Geheimdienste den strikten Befehl bekommen, auf keinen Fall Zivilisten und Wohngebiete ins Visier zu nehmen. Bislang fehlen Indizien, geschweige denn Beweise dafür, dass diese Vorgaben der westlichen Unterstützerstaaten missachtet worden wären. Es würde auch der Argumentation zur Rechtfertigung der von den Steuerzahlern im Westen finanzierten Ukrainehilfe zuwiderlaufen, die beispielsweise Bundespräsident Franz-Walter Steinmeier in bei ihm seltener Klarheit so begründet hat: Das Regime Putins sei „das Böse“. 

Da Putin sich in den vergangenen Jahren nicht nur als miserabler Stratege profiliert hat (er wollte die Nato schwächen, mit dem Beitritt Schwedens und Finnlands ist das Gegenteil eingetreten), sondern auch als notorischer Lügner (so hatte er Emmanuel Macron und Olaf Scholz kurz vor dem Überfall auf die Ukraine den Rückzug der aufmarschierten russischen Truppen angekündigt), fehlt auch den Stellungnahmen der russischen Ermittlungsbehörden jegliche Glaubwürdigkeit. Vielmehr kehren sie offenkundig auch auf diesem Feld zu den Praktiken der Stalinzeit zurück, wie die Bilder von den zerschundenen Gesichtern der vier angeblichen Attentäter aus der ehemaligen Sowjetrepublik Tadschikistan belegen. Es kann kaum Zweifel bestehen, dass sie bei den Verhören gefoltert wurden. 

Der Anschlag vermittelt vielen Russen die Botschaft, dass Putin seine Landsleute nicht schützen kann

Den theoretischen Überbau für diese Praxis hatte unter Stalin der Generalstaatsanwalt Andrej Wyschinski formuliert: Das Kernelement eines Strafverfahrens sei das Geständnis. Ausgehend von diesem Leitsatz musste sich die Staatsanwaltschaft nicht der Mühe unterziehen, Sachbeweise in mühsamer Polizeiarbeit suchen zu lassen; es reichte, Geständnisse herauszuprügeln. Wyschinski, im Putinschen Russland wieder als einer der Großen der Vergangenheit geehrt, war seinerzeit international bekannt geworden, weil er bei den Schauprozessen der dreißiger Jahre die Angeklagten als „tollwütige Köter und Schlangenbrut“ beschimpft hatte. Vor dem ersten Nürnberger Kriegsverbrecherprozess war er federführend bei der Erstellung der russischen Anklageschrift, die die Ermordung Tausender polnischer Offiziere und Beamte im Wald von Katyn den Deutschen zuschrieb.

Dass sich die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) zu dem Anschlag bekennt, stört die russische Führung auch deshalb, weil dadurch die Erinnerung an das Jahr 2004 wach wird. Damals machte eine Reihe von Bombenexplosionen das Versagen der Sicherheitsbehörden offenkundig: In der Moskauer Metro fanden einmal 42, dann ein weiteres Mal elf Menschen den Tod; im Stadion von Grosny gab es sieben Tote, darunter Achmat Kadyrow, den Vater und Vorgänger des jetzigen tschetschenischen Machthabers; beim Absturz zweier Verkehrsflugzeuge, beide in Moskau gestartet, waren insgesamt 89 Opfer zu beklagen. Die Schrecken erreichten ihren Höhepunkt, als Terroristen die Schule in der Ortschaft Beslan im Nordkaukasus besetzten, Putin Verhandlungen ablehnte und bei der Erstürmung mindestens 333 Menschen umkamen, die meisten waren Schulkinder. In der islamisch geprägten Region wird die Schuld daran keineswegs nur den Islamisten, sondern vor allem Putin gegeben.

 

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Der Anschlag von Krasnogorsk vermittelt nun vielen Russen die Botschaft, dass Putin seine Landsleute doch nicht schützen kann, obwohl er die Sicherheitskräfte hat massiv verstärken und militärisch aufrüsten lassen. Auch konterkariert die Information, dass die Täter aus den Reihen des IS kommen sollen, die Propagandalinie des Kremls, nach der Moskau auf der Seite der einst von westlichen Imperialisten kolonisierten Völker steht. Denn der IS versteht sich ja nicht nur als „wahre Streitmacht Allahs“, sondern auch als Sachwalter der von christlichen Mächten unterjochten Völker im Orient. Zu den Unterdrückern zählen dabei auch, aus gutem Grund, die Russen, denn im Zarenreich wurden in der Tat die nichtchristlichen Völkerschaften brutal unterdrückt. 

Die Konfrontation mit dem IS birgt für Putin ein großes Risiko, das er angesichts von Millionen Muslimen, die Staatsbürger der Russischen Föderation sind, indes nahezu tagtäglich Diskriminierung durch die Behörden oder in der Öffentlichkeit erleben, kaum mindern kann: So wie der Westen sich nun neben dem akuten Problemfall Ukraine zusätzlich mit dem Kriegsschauplatz Gaza auseinandersetzen muss, droht Russland ebenfalls eine zweite Front, wenn auch keine offene. Weitere spektakuläre Anschläge könnten die Stimmung gegen den Kremlherrn kippen lassen, dessen Herrschaft in der Vergangenheit ja auch darauf beruhte, dass er seinen Landsleuten Sicherheit zu garantieren schien. Dieses Bild ist allerdings schon durch die schweren Rückschläge im Krieg gegen die Ukraine, die wohl mehr als 100.000 russischen Toten, stark verblasst. 

Schon vor Wochen gab es Warnungen vor einem Anschlag

Eine erste Auswertung der sozialen Medien, die russische Experten im Exil vorgenommen haben, belegt indes, dass derzeit die Zustimmung für eine Verhärtung des innenpolitischen Kurses überwiegt. Allerdings sind diese Analysen nur bedingt aussagekräftig, weil schwer abzuschätzen ist, wie hoch der Anteil der Trollfabriken und der fanatischen Anhänger des Kremls an derartigen Kommentaren ist. Auf letztere geht offenkundig das starke Echo zurück, das die Version von den Kiewer Hintermännern findet. 

Doch auch die gegenteilige These wird im Netz heftig diskutiert: Hinter dem Anschlag stünden radikale Kräfte in der russischen Führung, darunter im Inlandsgeheimdienst FSB, die von Putin einen noch viel restriktiveren Kurs nach innen und einen totalen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine verlangen. Erinnert wird an die Sprengung der drei Wohnblocks 1999, für die tschetschenische Terroristen offiziell verantwortlich gemacht worden waren. Putin nahm diese drei Anschläge zum Anlass für den Zweiten Tschetschenienkrieg. Doch ein vierter Anschlag scheiterte damals in der Großstadt Rjasan: Bewohnern war aufgefallen, dass unbekannte Männer in den Keller ihres Wohnblocks Säcke schleppten, und alarmierten die Polizei. Die damals noch nicht vollständig kontrollierten Rjasaner Lokalmedien erfuhren, dass es sich um FSB-Agenten gehandelt hatte; in den Säcken war Sprengstoff. Die Moskauer Geheimdienstzentrale Lubjanka beeilte sich zu dementieren: Es sei nur Zucker in den Säcken gewesen, durch die Aktion habe getestet werden sollen, ob Bürger auf Verdächtiges in ihrem Umfeld reagieren. Die Artikel dazu in der russischsprachigen Wikipedia wurde am Wochenende 200 Mal öfter aufgerufen als üblich.

Auch haben die Propagandisten des Kreml noch keine Antwort auf die Mitteilung aus Washington gefunden, dass die CIA schon vor Wochen über die verbliebenen Kommunikationskanäle die russischen Geheimdienste vor drohenden Anschlägen des IS auf ein Stadion oder eine Konzerthalle gewarnt hatte. Zwar bezeichnete die Chefpropagandistin Putins, die Senderchefin Margarita Simonjan, die Berichte über die Warnungen aus Washington als „Fake News“, doch war es ein hilfloser Versuch, von den Fakten abzulenken: Anfang März empfahl die US-Botschaft in Moskau dringendst ihren Landsleuten, bei Aufenthalten in Russland Menschenansammlungen zu meiden. Dasselbe taten die Vertretungen Kanadas, Südkoreas, Schwedens, Lettlands, Tschechiens und der Bundesrepublik Deutschland.

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