Alltag in Russland - „Wir sind gleichgültig und stumpf geworden“

In Moskau geht das Leben seinen gewohnten Gang, vom Krieg ist kaum etwas zu spüren. Die Literaturwissenschaftlerin Anna Kukes erzählt vom Alltag in einer parallelen Realität, in der sich auch Kriegsgegner in die innere Emigration zurückziehen.

Man lebt, als ob es keinen Krieg geben würde: Moskau Anfang Juni 2023 / dpa
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Autoreninfo

Anna Kukes ist Literatur- wissenschaftlerin, Übersetzerin aus dem Deutschen und Dozentin am Lehrstuhl für Germanistik an der Russischen Staatlichen Universität der Geisteswissenschaften.

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Der Mensch kann sich an alles gewöhnen. Auch an den Krieg. Und das geschieht eben auch jetzt, und zwar nicht nur in Russland. Der Krieg dauert bereits seit 16 Monaten und wird langsam zum Alltag.

Wenn man durch das Stadtzentrum Moskaus geht, sieht man die Cafés und Restaurants überfüllt, kein freier Platz. Man freut sich, man verbringt eine gute Zeit, als ob es keinen Krieg geben würde.

Eine wirtschaftliche Krise? Ich weiß es nicht … Die teureren Restaurants sind voll, die Theater auch, die Geschäfte funktionieren wie immer, und ich sehe jeden Tag auf den Straßen Moskaus eine Menge von den unheimlich teuren Autos wie Maibach oder Lexus.

Ich übersetze Bücher, ich versuche mich zu erhalten

Man hat sich von der Realität abgekapselt, man will nicht mehr über Krieg und Frieden diskutieren, man lebt einfach weiter, Tag für Tag, von gestern auf heute, und versucht, sich keine Gedanken über das Übermorgen zu machen.

Restaurants und Geschäfte sind voll,
hier das Kaufhaus GUM / dpa

Wir leben nicht, wir überleben, und jeder überlebt auf seine eigene Weise, wie auch immer man dazu in der Lage ist. Wir sind gleichgültig und stumpf geworden. So wirkt eben der Selbsterhaltungstrieb. Wenn man überleben und nicht verrückt werden will, sollte man sich von der Realität abkapseln, sich zurückziehen. Und das machen wir immer wieder. Ich mache das auch, ehrlich gesagt. Ich sehe nicht fern (einen Fernsehapparat habe ich sowieso seit 20 Jahren nicht mehr zu Hause), ich höre kein Radio, ich bespreche die heutige Lage nicht mehr, ich unterrichte an der Universität, ich erziehe meinen Sohn, ich übersetze Bücher, ich versuche mich zu erhalten, denn das Gefühl einer Katastrophe ist nicht weggegangen, ich lebe immer noch damit.

Opposition wird innerlich

Genauso versuchen viele andere zu überleben, indem sie sozusagen in einer „parallelen Realität“ existieren. Meine Studenten kommen immer wieder mit der Frage „Wie lebt man weiter?“ zu mir. Als ob ich das wüsste! So darf ich aber nicht antworten, denn diese jungen Menschen brauchen Hilfe, sie haben völlig ihre Orientierung verloren. Ich muss als Wegweiser funktionieren, das ist so eine Art Mission. Wer hätte das gedacht! Ich erzähle ihnen über die Überlebensphilosophie von Viktor Frankl, über „Der Mensch auf der Suche nach Sinn“.

Über den Einschlag der Drohnen in Moskau habe ich zufällig von meinem Vater erfahren. Ich habe nichts gehört, nichts gesehen, es war in der Nacht, man hat geschlafen. In einer Familie und an der Uni wird das gar nicht diskutiert.

Ob es noch eine Opposition gibt? Ganz sicher, aber sie wird langsam nicht äußerlich, sondern innerlich, nicht öffentlich, sondern persönlich. Öffentliche Opposition wird zum persönlichen Widerstand.

 

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