Islamische Minderheit - Warum tragen alevitische Frauen selten Kopftuch, Herr Cicek?

In Islam-Debatten bleibt die alevitische Minderheit oft unerwähnt. Im Interview erklärt der Religionswissenschaftler Hüseyin Cicek, warum die Religionsgemeinschaft liberaler ist als verwandte religiöse Gruppen.

Einige tausend Demonstranten erinnern am 29.06.2014 mit einem Demonstrationszug in Berlin an einen Mordanschlag an Aleviten in der Türkei im Jahr 1993 / dpa
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Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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Hüseyin Cicek emigrierte als Siebenjähriger mit seiner Familie nach Österreich. Der promovierte und habilitierte Politik- und Religionswissenschaftler arbeitet am Institut für Religionswissenschaft der Universität Wien und ist derzeit Fellow an der AIA („Academy of International Affairs“) in Bonn. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die alevitische Diaspora in Europa sowie die politische Agenda der Türkei. Zuletzt erschien in der Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik der von Cicek und seinem Co-Autor Rauf Ceylan verfasste Artikel „Alevitische Identität in der Diaspora: Erfahrungen von Exklusion und soziale Integration im deutschsprachigen Raum“.

Herr Cicek, bis heute sind die Aleviten in der Türkei nicht als eigenständige Religionsgemeinschaft anerkannt und werden in Statistiken als Muslime geführt. Hat diese politische Entscheidung Auswirkungen auf das alevitische Leben in der Türkei und in Deutschland?

In Europa sind die Auswirkungen weniger drastisch als in der Türkei. Dank der religionsoffenen Politik Deutschlands und anderer europäischer Länder können Aleviten ihre Religion offen leben, ohne stigmatisiert zu werden. In Österreich arbeiten die „Freien Aleviten“ daran, als Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden, während die „Föderation der deutschen und europäischen Aleviten“ (AABF) in Deutschland bereits Anerkennung genießt. In der Türkei werden Aleviten jedoch weiterhin diskriminiert, als „pseudo-muslimisch“ abgestempelt und sogar physisch bedroht, da die staatlichen Institutionen ihnen die Anerkennung als eigenständige Religionsgemeinschaft verweigern.

Gehört das Alevitentum als islamische Schule zum Islam oder betrachten Sie die ausschließlich mündlich übertragenen Rituale sowie Riten als Ausdruck einer eigenständigen Religion?

Diese Frage wird innerhalb der Aleviten intensiv diskutiert. In Österreich hat ein sehr kleiner Teil der alevitischen Gemeinschaft sich innerhalb des Islamgesetzes verortet und wurde ursprünglich als „islam-alevitische Gemeinschaft“ anerkannt. Die Mitglieder haben dagegen protestiert, und die Gruppe hat sich umbenannt in ALEVI. Sie sehen also, es gibt auch innerhalb der Gruppen, die eine Nähe zum Islam suchen, keine eindeutigen Antworten. 

Die Aleviten sind alles in allem aber eine eigene Glaubensrichtung, die keiner islamischen Schule angehören muss. Vor allem, weil sich ihre Traditionen unabhängig von sunnitischen Lehren entwickelt hat. Die historischen Verstrickungen sind natürlich vorhanden, aber es fehlen die wesentlichen Kernelemente des Islam. Das Alevitentum ist auch keine – wie oft angenommen – ausschließlich mündlich übertragene Tradition. Es gibt einen großen „Kanon“ schriftlicher Texte; hierzu arbeite ich derzeit auch.

Erklären Sie uns bitte, wie sich die alevitische Community vom türkisch-sunnitischen Mainstream in Europa unterscheidet. 

Eine Unterscheidung findet sich in Deutschland vor allem darin, dass die AABF sich als eine deutsche Organisation versteht und dies auch ihren Mitgliedern offen signalisiert. Die DITIB verfolgt hier eine andere Strategie, Milli Görüs ebenfalls. 

Die alevitischen Gemeinden im deutschsprachigen Raum unterscheiden sich ja zum Teil nicht nur ethnisch, sondern auch in ihrer religiösen Praxis. Lässt sich bei der Vielfalt der religiösen Praktiken und aufgrund ihrer ethnischen Heterogenität überhaupt von einer einheitlichen religiösen Ethnie sprechen?

Das Verbindende ist sicherlich die religiöse Praxis im Allgemeinen. Aber Aleviten können unterschiedlichen ethnischen Gruppen angehören; in vielen Gemeinden trifft man auch auf kurdische Aleviten. Die religiöse Praxis ist dann im Detail durchaus davon geprägt, woher die Menschen stammen. Man kann dies etwa an wiederkehrenden Ritualen festmachen, aber auch die jeweiligen Gemeindehäuser lassen Rückschlüsse auf die Herkunft der Gläubigen zu. 

Wenn wir die türkisch-sunnitische und die alevitische Community vergleichen, fällt auf, dass es unter alevitischen Frauen selten bis überhaupt keine Kopftuchträgerinnen gibt. Zudem wird Aleviten oft nachgesagt, dass bei ihnen eine Gleichstellung der Geschlechter vorherrsche. Auch radikale religiöse Tendenzen scheint es bei Aleviten nicht zu geben. Stimmt dieser externe Blick auf die Gemeinde?

Es gibt zu wenige empirische Erhebungen, um hier eindeutige Antworten geben zu können. Es ist aber auffallend, dass die alevitischen Frauen und Mädchen kein Kopftuch tragen. Männer und Frauen tragen oft auch sichtbare Tattoos. Dies deutet zumindest darauf hin, dass es wenige kulturelle oder religiöse Einschränkungen gibt, dafür viel Konsens. Ein Grund könnte der Bildungsstand sein. In unserem kürzlich erschienenen Beitrag, der auf empirischen Datenerhebungen basiert, hatten über 70 Prozent der Befragten einen hohen Bildungsstand angegeben. Auch das Thema Gleichstellung der Geschlechter haben wir abgefragt. Es zeigte sich, dass es in den jeweiligen Haushalten zwar eine Aufgabenteilung gibt, aber radikale Tendenzen sind uns nicht aufgefallen. Das heißt jedoch nicht, dass man radikale Tendenzen einfach ausschließen könnte. 

In den vergangenen Jahren haben sich alevitische Organisationen in Europa professionalisiert. Im Zuge dieser Professionalisierung kämpften sie dafür, als eigenständige Religionsgemeinschaft wahrgenommen zu werden. In Mannheim gab es sogar ein Pilotprojekt, wonach alevitische Schüler an ihren Schulen einen alevitischen Religionsunterricht besuchen konnten. Wie wichtig ist eine solche Institutionalisierung für diese in ihrer Vergangenheit oft Gewalterfahrungen ausgesetzte Minderheit?

Für die Aleviten geht es natürlich ums Überleben, wenn wir es überspitzt formulieren wollen. Wie bereits angesprochen, sind die Aleviten für einen Teil der muslimischen Mehrheit beziehungsweise religiöse Autoritäten des Islam eine Glaubensgemeinschaft, die vom „wahren Weg“ abgekommen ist. Deswegen ist es für Aleviten in Deutschland besonders wichtig, dass die alevitischen Vereinigungen und Verbände ihre Gemeinschaft sowie ihre Traditionen gegen jegliche Vereinnahmung verteidigen. Die Türkei beziehungsweise auch die türkische Religionsbehörde versucht dagegen seit vielen Jahren, die Aleviten zu „sunnitisieren“. Damit kommen wir zum alevitischen Religionsunterricht: Dieser ist ein wichtiges Mittel, damit alevitische Kinder in sehr jungen Jahren ihre Religion und ihre Tradition kennenlernen. Dies führt wiederum dazu, dass alevitisches Personal für den Religionsunterricht ausgebildet werden muss. Dies stärkt die Gemeinschaft. Ob es in der Türkei in der Zukunft zu weniger Gewalterfahrung kommen wird, hängt wesentlich von der türkischen Regierung und der Zivilgesellschaft ab.
 

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Für die alevitischen Gemeinden, die in den vergangenen Jahrhunderten zahlreichen Pogromen ausgesetzt waren, eröffnet die Diaspora – so Ihre These – zahlreiche Chancen. Welche sehen Sie konkret?

Ja, das stimmt. Die Aleviten können sich in der deutschen Diaspora, auch dank des rechtlichen Rahmens, frei entfalten und werden weder vom Staat noch von einem Teil der religiösen Mehrheitsgesellschaft vereinnahmt. Sie können sich, wie bereits gesagt, professionalisieren und über die Grenzen der Türkei hinaus organisieren und ihre eigene religiöse Tradition und Kultur leben. Ebenso handelt es sich bei den alevitischen Organisationen um deutsche oder österreichische Organisationen, die nicht von einem Drittstaat kontrolliert und beeinflusst werden. Die universitäre Lehre hierzu befindet sich aber noch in den Kinderschuhen, das wird sich hoffentlich in der Zukunft ändern.

Im Zuge des jüngsten Nahostkonflikts war auch in Deutschland vermehrt die Rede von islamistischen Gefährdern. In der jüngeren Geschichte der türkischen Republik wurden Aleviten bei Massakern von eben diesen Islamisten lebendig verbrannt. Wie gefährdet sind die Aleviten in Deutschland also? 

In Sivas wurden Aleviten vor laufenden Kameras getötet beziehungsweise wurde das Hotel, in dem sie sich befanden, umstellt und angezündet. In Deutschland gibt es natürlich Feindseligkeiten gegenüber Aleviten; es gibt immer wieder Berichte darüber, dass Aleviten von bestimmten rechtsextremen oder religiösen Gruppen aus der Türkei angegriffen werden. Ob es hier eine ernsthafte Gefährdungslage gibt, ist schwer zu sagen. Allerdings ist wahrnehmbar, dass sunnitische oder auch schiitische Gruppen versuchen, die Aleviten für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Nochmals: Deutschland bietet den Aleviten eine in ihrer Geschichte einzigartige Möglichkeit, sich frei zu entfalten.

Das Gespräch führte Ilgin Seren Evisen. 

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