Afghanistan - Im Garten Schlangen züchten

Deutschlands Freiheit sollte einst am Hindukusch verteidigt werden. Nun ziehen die internationalen Truppen aus Afghanistan ab, und die Taliban stehen vor der Rückkehr. Wie konnte es so weit kommen – und wie geht es jetzt weiter?

Angehörige einer örtlichen Pro-Regierungs-Miliz in der von den Taliban kontrollierten Provinz Baglan / Emanuele Satolli
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Thore Schröder arbeitet seit sechs Jahren als Journalist im Nahen Osten.

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Baha Farkish wurde am 12. März 2002 in Kabul geboren, in einer kurzen Zeit der großen Hoffnung. Die Taliban waren einige Wochen zuvor in einem Blitzfeldzug, der sich vor allem gegen die Al-Qaida-Planer des 11. September gerichtet hatte, geschlagen worden. Einen Monat nach Bahas Geburt, im April 2002, versprach US-Präsident ­George W. Bush einen Wiederaufbau Afghanistans „nach bester Tradition George Marshalls“.

24 Jahre waren zu diesem Zeitpunkt bereits vergangen seit der Saurrevolution, mit der Afghanistans derzeitige Tragödie ihren Lauf nahm. Es folgten: Einmarsch der Roten Armee, Mudschaheddin-Guerillakampf, ein verheerender Bürgerkrieg mit der Zerstörung der Hauptstadt – und schließlich die Machtübernahme der Taliban.

Grellbunte opulente Häuser

Bahas Familie, Angehörige der tadschikischen Minderheit, hatte sehr gelitten unter den Islamisten. Seiner Mutter hatten die Koranschüler mit den Kalaschnikows die Arbeit als Lehrerin verboten und sie auf der Straße verprügelt, weil sie ohne männlichen Begleiter unterwegs war. Sein Vater, Rechtsanwalt und früher einmal Mitglied der kommunistischen Partei, lebte in den fünf Jahren ihrer Herrschaft in ständiger Angst, dass sie ihn abholen könnten.

Doch für Baha, viertes von sieben Geschwistern, waren das nur Erzählungen. Zu seinen ersten eigenen Erinnerungen gehören die vielen Baustellen, die neuen aberwitzig opulenten und grellbunten Häuser, die nun überall in Kabul in den Himmel wuchsen, Ausdruck plötzlich sprudelnder Hilfsgelder in dem kurz zuvor noch isolierten Land. „In der Schule schenkten sie uns Hefte, Stifte und Süßigkeiten“, erzählt er. Den Geschmack der Weizenkekse hat er noch immer auf der Zunge: „Wir nannten sie ‚UN-Biskuits‘.“
Heute ist Baha 19 Jahre alt. Er liest russische Klassiker und studiert an einer Kabuler Privatuniversität Politikwissenschaft auf Englisch. Doch er weiß eigentlich gar nicht, wozu. Sein Abschluss ist für 2024 geplant, und es ist vollkommen unklar, was bis dahin geschieht. „Die meiste Zeit frage ich mich, wie ich hier rauskomme“, sagt Baha Farkish.

Es wird noch schlimmer

Wie ihm geht es nun vielen Afghanen. Kurz vor dem Abzug der internationalen Truppen, der laut Ankündigung von US-Präsident Joe Biden bis spätestens 11. September abgeschlossen sein soll, aber wahrscheinlich bereits Anfang Juli umgesetzt sein wird, macht sich Panik breit in der afghanischen Hauptstadt. „Die Menschen sind voller Sorge“, sagt Patoni Isaaq­zai, Gründerin der NGO Positive Social Change for Afghans, die in Hamburg gelebt hatte und vor einigen Jahren zurückkam, um beim Aufbau ihres Landes zu helfen. „Die meisten meiner Bekannten haben einen Fluchtplan“, sagt sie, „jeder weiß, dass es noch schlimmer werden wird.“ Sie selbst beobachtet genau, wie sich die Lage am Flughafen entwickelt, lässt sich laufend von gut vernetzten Freunden unterrichten. „Mein Ticket habe ich schon lange gebucht“, sagt sie.

Auch Ellinor Zeino, Leiterin des Afghanistan-Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), berichtet: „Die Stimmung in Kabul ist in Richtung Pessimismus gekippt.“ Die KAS ist die letzte deutsche politische Stiftung, die überhaupt noch ein Büro im Land unterhält. Das allerdings liegt, wie alle internationalen Institutionen oder nationalen Behörden, hinter mehreren Ringen von Betonmauern mit Kameras, Bewegungsmeldern und messerscharfem Stacheldraht, hinter Checkpoints, an denen Männer mit Schnellfeuer­gewehren und Spürhunden Besucher kontrollieren.

Kabul ist schon vor Jahren zur Festung ausgebaut worden. Denn auf Bauboom und Biskuits folgten bald Bomben. Die Taliban kamen zurück. Baha Farkish erinnert sich an die größten Anschläge. 2011 auf die US-Botschaft und das Nato-Hauptquartier: „Ich hörte nachts Granaten und Gewehrfeuer, lief weinend zu meiner Mutter.“ 2017 auf die Green Zone, darunter die deutsche Botschaft: „Der Boden unter meinen Füßen bebte von der Explosion der Lastwagenbombe, die 500 Meter von meiner Schule entfernt explodierte, unser Klassenraum war voller Glassplitter.“

Rückkehr der Taliban

Heute ist die Hauptstadt in weiten Teilen eine Sicherheitszone. Durch den ständigen Stau bahnen sich hupende Pick-ups mit aufgepflanzten Maschinengewehren ihren Weg. An den Ampeln betteln Kinder in Lumpen und Frauen in Burkas. Am Straßenrand und an den Ufern des vollkommen vermüllten Kabul-­Rivers, einer Kloake, rauchen zombiehaft dreinblickende Junkies Heroin. Wenn die Dunkelheit anbricht in der von ständigen Stromausfällen geplagten Stadt, sind viele Straßen wie ausgestorben – die Bewohner fürchten bewaffnete Räuber fast wie den Terror. „In Kabul kann ein Mensch für ein Handy oder umgerechnet 50 Euro ermordet werden“, sagt Baha Farkish. Wenn er das Haus seiner Familie verlässt, tut er das jedes Mal in dem Bewusstsein, dass er nicht zurückkommen könnte. „Damit müssen wir leben, wir können uns doch nicht die ganze Zeit einschließen“, sagt er.

Die Lage in anderen Teilen Afghanistans ist noch verheerender, dort leben Menschen unter Beschuss oder sind gezwungen, schmutziges Wasser zu trinken. Immer zahlreicher sind die Berichte von Afghanen, die eine Niere verkaufen, um ihre Familie zu ernähren. Über 70 Prozent der Bevölkerung leben in Armut, schätzungsweise 3,6 von 36 Millionen Einwohnern sind drogenabhängig. Rund 90 Prozent der weltweiten Opiumproduktion kommen mittlerweile aus Afghanistan. 

Längst finanziert der Drogenhandel auch die Rückkehr der Islamisten. Über die Hälfte der Bürger sind bereits wieder unter Talibanherrschaft. Sie stehen rund 50 Kilometer vor Kabul und haben auf den meisten Fernstraßen des Landes Checkpoints eingerichtet, an denen sie Gebühren kassieren. Die Bewegungsfreiheit schrumpft stetig.

Saigon-Szenario

Zwei Jahrzehnte nach dem Beginn des Antiterrorfeldzugs und kurz bevor die US-Armee und ihre Verbündeten – das zweitgrößte Kontingent stellte die Bundeswehr – das Land verlassen, ist die Liste der enttäuschten Hoffnungen so lang wie die der Gründe für die negative Entwicklung. Bis April kostete der Konflikt rund 240 000 Menschen das Leben. Allein im vergangenen Jahr wurden 390 Frauen und 760 Kinder getötet. In den vergangenen Wochen sind die Opferzahlen noch einmal in die Höhe geschossen, weil die Taliban ihre Frühjahrsoffensive gestartet haben. 

Wer verstehen will, was nun folgen könnte am Hindukusch, muss zunächst Bilanz ziehen. „Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich“, lautet ein Aphorismus, der oft Mark Twain zugeschrieben wird. In Afghanistan gilt das besonders.

Viele hatten vor der Abzugsankündigung vor einem Saigon-Szenario gewarnt. Vor Bildern wie 1975, als vietnamesische Volksarmee und Vietcong die südvietnamesische Hauptstadt eroberten und sich verzweifelte Kollaborateure an die Kufen eines abhebenden US-Hubschraubers klammerten. Tatsächlich aber erinnert die Lage in Kabul gerade viel mehr an 1989, als die Sowjets ihren Truppenabzug aus Afghanistan abschlossen. Es dauerte danach drei Jahre, bis der kommunistische Machthaber Mohammed Nadschibullah gestürzt wurde. 1996 wurde er dann von den Taliban am Geschützlauf eines Panzers aufgeknüpft.

Zahlenmäßig unterlegene Taliban

Wie damals sind die Islamisten auch jetzt wieder so stark, weil ihre Gegner so schwach sind – das heißt: so zerstritten. Ein pensionierter Brigadegeneral und Polizeibefehlshaber, der seinen Namen nicht veröffentlicht sehen will, fasst zusammen: „Es ist eigentlich eine einfache Wahl für die Afghanen: Mit den Taliban 15 Jahrhunderte zurück in der Zeit oder aber Moderne mit Demokratie, Freiheit, Verfassung. Doch unsere Führung ist korrupt und vergibt Posten über Seilschaften; so schafft sie es nicht, die Bevölkerung hinter sich zu vereinen.“

Die staatlichen Sicherheitskräfte, Polizei und afgha­nische Nationalarmee (ANA), verfügen schätzungsweise über rund 300 000 Kämpfer. Auch wenn immer wieder von einer großen Zahl sogenannter „ghost soldiers“ berichtet wird – also Soldaten, die nur auf dem Papier existieren, damit andere ihren Sold kassieren –, dürften die Truppen der Regierung denen der Taliban rein zahlenmäßig noch immer weit überlegen sein. Die Islamisten kommandieren schätzungsweise 50 000 bis 60 000 Aktive, dazu Zehntausende Teilzeitkrieger und Helfer.

Falsch konzipierte Armee

Die Unterstützung für Afghanistans Militär wird nach dem Abzug weiter fließen. 2022 werden die Vereinigten Staaten 3,3 Milliarden Dollar Militärhilfe nach Kabul überweisen, 300 Millionen mehr als in diesem Jahr. Doch trotz größerer Truppenstärke und besserer Bewaffnung sind die Regierungskämpfer überall auf dem Rückzug. Die Anzahl der umkämpften Distrikte hat sich laut dem renommierten Long War Journal (LWJ) der Foundation for Defense of Democracies seit 2018 verdoppelt. Die Taliban scheinen sich bereit zu machen, afghanische Großstädte zu stürmen, sobald die US-Truppen ihre afghanischen Verbündeten nicht mehr aus der Luft unterstützen können.

Laut LWJ-Herausgeber Bill Roggio liegt die Schwäche der Regierungstruppen nicht allein an der Korruption. Die ANA sei auch falsch konzipiert: „Man hat versucht, eine westliche Armee mit allen möglichen Gadgets aufzubauen, anstatt eine einfache, auf Infanterie konzentrierte Truppe.“ Dazu kommt, dass die Afghanen von ausländischen Vertragsdienstleistern abhängig sind. Zehntausende dieser Contractors verlassen nun mit den ausländischen Truppen das Land. Das dürfte etwa die Einsatzbereitschaft der afghanischen Luftwaffe stark einschränken, weil dann Helikopter oder Flugzeuge nicht mehr repariert werden können. Es wird an Ersatzteilen und Expertise fehlen. 

„Wir hatten in Afghanistan nichts zu suchen.“

„Entscheidend aber ist“, so Roggio, „dass die Taliban als religiöse Fundamentalisten im Gegensatz zu vielen Regierungssoldaten an ihre Sache glauben. Wenn man eine Bestimmung hat, braucht es keine breite Unterstützung in der Bevölkerung.“
Dass die Islamisten überhaupt wieder von vielen Afghanen toleriert oder sogar unterstützt werden, liegt am letztlich gescheiterten Staatsaufbau. Es begann mit der Petersberg-Konferenz im Dezember 2001, bei der die Paschtunen, mit etwa 40 Prozent größte Volksgruppe der Afghanen, unterrepräsentiert waren und an der die Taliban nicht teilnehmen durften.

Der ehemalige Bundeswehr-Oberstarzt Reinhard Erös hatte schon in den achtziger Jahren in Ostafgha­nistan Mudschaheddin-Kämpfer in Höhlenkliniken versorgt und gründete später die Kinderhilfe Afghanistan, die im Grenzgebiet zu Pakistan Schulen, Waisenhäuser, Ausbildungszentren und Gesundheitsstationen aufbaute und bis heute betreibt. Erös ärgert sich noch immer über Bundeskanzler Gerhard Schröder, der den USA nach 9/11 „uneingeschränkte Solidarität“ versicherte, und über Verteidigungsminister Peter Struck, der 2004 erklärte, Deutschlands Sicherheit werde „nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt“. Erös findet: „Wir hatten in Afghanistan nichts zu suchen.“

Gespaltenes Land

Und er klagt: Dann setzten die Ausländer ihr Geld auch noch falsch ein. Allein 44 Milliarden US-Entwicklungshilfe flossen zwischen 2001 und 2019, oft in teure Infrastrukturprojekte, aber nicht in die unmittelbare Versorgung der armen Landbevölkerung, etwa um die hohe Mütter- und Kindersterblichkeit zu bekämpfen. Die Bundesregierung habe sich zu sehr auf Kabul konzentriert, statt in den Provinzen und Distrikten die direkte Zusammenarbeit mit den religiösen Würdenträgern und den Dorfältesten zu suchen, sagt Erös.

Dokumentarfilmer Marcel Mettelsiefen („Afghanistan. Unser verwundetes Land“) sieht in der Spaltung der Gesellschaft den Kern des Konflikts: auf der einen Seite eine seit Jahrzehnten nach Modernität strebende Bevölkerung in den Städten, auf der anderen Seite die konservativ-religiöse Landbevölkerung, deren Leben vom Paschtunwali, dem Rechts- und Ehrenkodex der Stämme, bestimmt wird. Dazu förderten Saudi-­Arabien, Pakistan und die USA in den achtziger Jahren im Kampf gegen die Sowjets das Aufkommen des politischen Islam wahhabitischer Prägung. So erst entstanden die Taliban, was auf Arabisch beziehungsweise Paschto „Schüler“ bedeutet – Koranschüler.

Teufelskreislauf

Im Krieg gegen die Taliban 2001 verließen sich die USA und ihre Verbündeten dann fatalerweise auf die sogenannte Nordallianz. Mit der Abhängigkeit von diesen Warlords mussten sie auch deren Menschenrechtsverletzungen und Korruption stillschweigend akzeptieren. Das untergrub die Unterstützung der Bevölkerung systematisch. Als dann immer mehr Afghanen als „Kollateralschaden“ im Antiterrorkampf starben, entwickelte sich eine Abwärtsspirale der Gewalt und Entfremdung.

Gleichzeitig wuchs die Korruption. „Die Flut an Geld wurde zu einem Fluch an Geld“, sagt Marcel Mettelsiefen: „Bei den Gesprächen in Kabul ging es immer um Millionen“, erinnert er sich an seine Zeit dort vor zehn Jahren. Heute ist Afghanistan auf Rang 165 von 180 im Korruptionsindex von Transparency International angekommen. „Es gab kein Kontrollsystem beim Ausgeben all dieser Gelder“, klagt Suliman Asadullah, ehemaliger Programmmanager einer NGO. Statt Entwicklung zu bringen, hätten die Devisen sogar den Krieg befeuert. „Wenn Geld nur fließt, wenn eine Gegend unsicher ist, dann bleibt diese Gegend auch unsicher“, sagt Marcel Mettelsiefen mit Blick auf die Nachschubwege der US-Armee im afghanischen Süden.

Vom Westen oktroyiert

Trotz aller Rückschläge, trotz der kollabierenden Sicherheitslage und der fortschreitenden Spaltung gelang es in den vergangenen zwei Jahrzehnten, eine in Afghanistan pluralistische Zivilgesellschaft und eine beeindruckende Medienlandschaft aufzubauen. „Das ist im Vergleich zu den Nachbarstaaten einzigartig“, sagt Ellinor Zeino von der KAS. „Wir können hier tatsächlich kontroverse Themen diskutieren, das ist ungewöhnlich in einer Region, in der die Regierungen sonst alles monopolisieren.“

Zeino versteht aber auch, dass sich dieser Erfolg auf die urbanen Zentren beschränkt. Obwohl die Devise der Geber immer lautete, alle Prozesse müssten „Afghan owned and Afghan led“ sein, wurde zu vieles oktroyiert, konnten keine Wurzeln austreiben, insbesondere beim Thema Frauenrechte, vor allem auf dem Land. Das Beharren der Ausländer auf selbst konzipierten Hilfsprogrammen für Afghaninnen habe den Frauen „eher geschadet“, sagt Zeino: „Weil sie damit als extern, ausländisch empfunden wurden.“ Die Zahlen bezeugen das Scheitern: Knapp zwei Drittel der Frauen im Land sind heute noch immer Analphabetinnen, beim internationalen Ranking der Geschlechtergerechtigkeit liegt das Land auf Platz 153 von 160.

Wie kompromissbereit sind die Taliban?

Die Grundangst in der traditionell-religiös geprägten Gesellschaftsschicht, der wohl über 90 Prozent der Afghanen angehören, ist immer der Kontrollverlust und damit der Zerfall der Gesellschaft. „Wir müssen den religiösen Autoritäten vor Ort zeigen, dass Frauen sich bilden können, ohne dass Familien und Moral zusammenbrechen“, sagt Ellinor Zeino und bestätigt damit den Grundsatz von Reinhard Erös: Es geht nur mit dem Einverständnis der Menschen vor Ort. Er selbst ist mit seiner Stiftung seit vielen Jahren auch in Talibangebieten aktiv.

Bei den Verhandlungen mit der Regierung in Doha sieht es nun aber nicht danach aus, als seien die Gotteskrieger zu Zugeständnissen bereit. Der Krieg sei bereits gewonnen, erklären die Taliban und sonnen sich im Triumph des US-Abzugs, dem Sieg über das Imperium. Insbesondere das Anfang 2020 unterzeichnete Abkommen mit der Trump-Regierung hat sie ermutigt, die Entscheidung nicht am Verhandlungstisch, sondern auf dem Schlachtfeld zu suchen.

Frieden und Demokratie

Die USA hatten sich darauf eingelassen, mit ihnen unter Ausschluss der gewählten afghanischen Regierung zu verhandeln, und dann eingewilligt in die Freilassung von 5000 Gefangenen. Im Gegenzug bekamen sie lediglich schwammige Zusicherungen der Taliban, „die Gewalt zu reduzieren“ sowie das Land nicht wieder zu einer Operationsbasis für Terroristen werden zu lassen. „Das war kein Friedens-, sondern ein Abzugsabkommen“, sagt Bill Roggio vom Long War Journal. „Frieden mit den Taliban wird es nur geben, wenn sie wieder die Macht übernehmen“, ist er sicher.

Nadir Naim, Enkel des letzten Königs Mohammed Zahir Schah, leitet das Kabul Institute for Peace (KIP), ein Forschungsinstitut, das Befragungen im ganzen Land durchführt. Der Prinz berichtet von einer landesweiten Verunsicherung. Eine Teilung der Macht mit den Taliban hält Naim für „das unwahrscheinlichste Szenario“. Es könnte vielmehr auf einen mehrphasigen Plan hinauslaufen: Waffenstillstand, Übergangsphase, Wahl. „Allerdings“, so sagt er, „wird das keine klassische Wahl sein können, eher eine große Loja Dschirga“ – also ein traditionelles Versammlungs- und Abstimmungsformat unter Einbeziehung der Taliban.

Präsident Aschraf Ghani, früher Anthropologieprofessor an der Johns Hopkins University in Maryland und lange bei der Weltbank tätig, hält sich für demokratisch legitimiert und will die Macht nur an einen ordnungsgemäß gewählten Nachfolger abtreten. Dabei wirkt er zunehmend isoliert – auch weil er es seit seinem Amtsantritt 2014 versäumt hat, politische Allianzen zu schmieden. „Afghanistan ist ein Land der Netzwerke, die über Regionen, Konfessionen und Ethnizitäten hinausreichen“, sagt Omar Scharifi, Direktor des American Institute of Afghan Studies in Kabul. Hier liegt die Macht, nicht bei Parteien. Ghani hat es nie vermocht, ein eigenes Netzwerk aufzubauen. „Deswegen hat er sich entfremdet“, so Scharifi, „deswegen kann er keinen nationalen Konsens herstellen.“

Nachbarland Pakistan

In der Belagerungssituation, in der sich die Mitglieder der westlich geprägten Kabuler „Blase“ befinden, setzen viele ihre Hoffnungen nun ausgerechnet auf Pakistan – das Land, welches seit 30 Jahren Rückzugsort, Rekrutierungsgebiet und Finanzier der Taliban ist. In den Religionsschulen des Nachbarstaats entstand Anfang der neunziger Jahre die Bewegung, unterstützt vom pakistanischen Geheimdienst Inter-Services Intelligence Directorate (ISI). Islamabad versteht Afghanistan als „strategische Tiefe“, also als Teil des eigenen Machtbereichs, der eher im Chaos versinken soll als unter den Einfluss des Erzrivalen Indien zu fallen – der anderen Nuklearmacht in Südasien, mit der man sich in Kaschmir duelliert.

Bill Roggio findet, dass die USA Pakistan schon seit Jahren hätten isolieren und diplomatisch unter Druck setzen müssen: „Bis hin zu dem Punkt, an dem das Land zu einem staatlichen Unterstützer von Terrorismus erklärt wird.“ Stattdessen seien Amerikaner und Briten dem Irrglauben gefolgt, das Land könne Teil einer Lösung werden: „Die Pakistaner haben das Geld kassiert und sich ins Fäustchen gelacht.“

Rivalität zwischen Indien und Pakistan

Obwohl fast niemand in Kabul dieser Feststellung widerspricht, ist bei vielen die Hoffnung gewachsen, dass Pakistan nun endlich ein Eigeninteresse haben könnte, die Taliban zur Mäßigung, also zu Verhandlungen aufzurufen. Tatsächlich gibt es ein paar Anzeichen für gestiegene Gesprächsbereitschaft: Anfang Juni war der pakistanische Armeechef in Kabul zu Gesprächen, die Pakistaner beteiligen sich auch an einem trilateralen Verhandlungsformat mit China.

„Die Vorstellung eines islamischen Talibanemirats in ganz Afghanistan besorgt Pakistan, unter anderem weil sich Indien dadurch motiviert sehen könnte, antipakistanische Gruppen hier stärker zu unterstützen“, glaubt Politikwissenschaftler Obaidullah Baheer. Er ist ein Enkel von Gulbuddin Hekmatyar, einem der berüchtigtsten Mudschaheddin-Führer und engsten Pakistan-Verbündeten des Landes. Baheers Vater Ghairat war sechseinhalb Jahre in US-Gefangenschaft. „Früher war ich selbst ein salafistischer Hardliner“, sagt der 31-Jährige. Doch davon habe er sich emanzipiert. Er lasse sich nicht mehr beeinflussen, auch nicht von der Religion. Wegen dieser Unabhängigkeit schwebt Obaidullah Baheer jetzt in ständiger Lebensgefahr, ist nur noch mit Wachmann und geladener Waffe in Kabul unterwegs. „Aber ich habe mich entschieden zu bleiben“, sagt er, „ich hoffe, dass die Taliban meine Position akzeptieren, wenn sie denn kommen.“

Pakistanische Schlangenzucht

In Islamabad, so meinen nun also manche, könnte die Gewissheit wachsen, dass ein eigenständig-machtvolles Talibanregime jenseits der Grenze zur Gefahr werden könnte. Etwa, weil so auch in Pakistan der paschtunische Nationalismus befeuert wird. „Man kann nicht in seinem Garten Schlangen züchten und gleichzeitig davon ausgehen, dass nur die Nachbarn gebissen werden“, hatte die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton schon vor zehn Jahren gewarnt. 

Sameer Lalwani, Direktor des Südasien-Programms beim Thinktank Stimson Center in Washington, hält nicht nur die Unterstützung, sondern auch den Einfluss der Pakistanis auf die Taliban mittlerweile für eingeschränkt: „Womöglich könnten sie sie zu Kompromissen drängen, aber das würde sie Kapital bei ihnen kosten.“ Die Taliban hätten sich merklich von Islamabad emanzipiert, auch finanziell: „Sie bekommen Geld vom Iran, aus Russland, auch aus dem Golf. Sie verdienen am Drogenhandel und indem sie Wegzoll auf Straßen und Steuern in den Gebieten unter ihrer Herrschaft erheben.“ Pakistan sei nicht froh, dass die Amerikaner abziehen, ist Lalwani sicher.

Dieses Gefühl wird allerdings kaum dazu führen, dass die USA jenseits der Durand-Linie wieder ein Operationszentrum für Drohnenschläge einrichten können. Bis 2011 hatte die CIA von Pakistan aus Kampfdrohnen gesteuert, die auf beiden Seiten der Grenze Terroristen attackierten. Dabei kamen aber auch viele Unschuldige ums Leben – was die Unterstützung für die Taliban wachsen ließ und vor zehn Jahren zur Schließung der Basis führte.

Ein sündhaft teurer Einsatz

Hohe Vertreter der Biden-Administration verhandeln jetzt mit Pakistan über die Wiedereinrichtung einer Basis. Doch die Pakistanis verlangen kategorisch, jedes Ziel vorab besprechen und freigeben zu dürfen. Eine Einigung scheint so unrealistisch wie die Aussicht, in den anderen Nachbarstaaten Afghanistans – darunter US-Erzfeind Iran und die zentralasiatischen Länder, die noch immer eng an Russland gebunden sind – einen Operationsort zu finden. Womöglich bleibt den Amerikanern am Ende nur die Option, ihre MQ-9-Reaper-Kampfdrohnen von eigenen Flugzeugträgern im Persischen Golf loszuschicken. Das aber würde die Kampffähigkeiten – unter anderem wegen kürzerer Operations- und längerer Reaktionszeiten – stark einschränken. 

Die Option, schnell wieder eingreifen zu können in Afghanistan, brauchen die USA unbedingt, denn 20 Jahre nach ihrem Antiterrorfeldzug ist die fortdauernde Präsenz von Al Qaida am Hindukusch klar belegt. Laut einem UN-Bericht von Anfang Juni sind im Land rund 500 Mitglieder der Gruppe in mindestens 15 Provinzen ansässig. Das Verhältnis zwischen Taliban und Al Qaida, heißt es, „hat sich vertieft als Ergebnis persönlicher Verbindungen wie Heirat und Kampfgemeinschaften“.

Einer Studie der Brown University in Rhode Island zufolge hat der Krieg die Vereinigten Staaten bisher die sagenhafte Summe von 2,26 Billionen Dollar gekostet. Da nun sogar das wichtigste Ziel, Afgha­nistan als Terrorbasis auszuschalten, infrage steht, drängt sich die Überlegung auf: War alles umsonst in Afghanistan? 

Als sicher gilt, dass die Zukunft des Landes nicht mehr so stark von weiterem US-Engagement abhängen wird. Wichtiger werden dafür die Nachbarstaaten, nicht nur Pakistan. „Hier liegt der Schlüssel“, sagt Barnett Rubin. Der Amerikaner beriet 2001 erst die UN, später dann die Obama-Regierung zum Thema Afgha­nistan. Heute forscht er am Center for International Cooperation in New York. Seine Einschätzungen: Russland hat bereits ein eigenes Gesprächsformat für den innerafghanischen Friedensprozess in Moskau etabliert. Beim Iran hängt vieles an den Ergebnissen der Nuklearverhandlungen mit den USA; grundsätzlich ist Teheran an Stabilität und einer Einhegung der sunnitischen Extremisten an seiner Ostgrenze interessiert. Besonders wichtig ist die Rolle von China. 

Chinesisches Engagement

„In Washington wird China oft als rein pazifische Macht gesehen, dabei wird vergessen, dass es auch eine eurasische Macht ist“, sagt Rubin. Die Volksrepublik hat eine gemeinsame Grenze mit Afghanistan und ein starkes Interesse an Stabilität, schon, um Handelswege zu öffnen. „Die Chinesen schlagen sich dabei aber nicht auf eine Seite“, so Rubin, „anders als die USA intervenieren sie nicht militärisch, wenn es nicht um innerchinesische Angelegenheiten geht, wozu sie den Konflikt mit Taiwan zählen.“

Peking nimmt überall auf der Welt wirtschaftlichen Einfluss, das ist der Kern des Neue-Seidenstraße-­Projekts. Afghanistan könnte dabei als benachbarter Kreuzungspunkt eine zentrale Rolle zukommen. Deswegen ist das Interesse Pekings an dem Nachbarland in den vergangenen Jahren gestiegen, deswegen engagieren sich die Chinesen nun auch diplomatisch – und könnten durch ihre gewaltige Wirtschaftskraft schnell großen Einfluss ausüben, auch auf die Taliban. 

Die Taliban haben sich verändert

Denn fest steht, dass auch die Gotteskrieger auf ausländische Gelder angewiesen sein werden, sollten sie wieder die Zentralmacht übernehmen. Das ist nunmehr das einzige Druckmittel, welches den internationalen Gebern noch bleibt. Ashley Jackson vom Centre for the Study of Armed Groups in Oslo hat seit 2017 die Herrschaft der Taliban vor Ort in Afghanistan untersucht. „Es kommt sehr darauf an, wo man ist und wer man ist“, sagt sie. Die Taliban treten unterschiedlich rigide auf, je nachdem, mit welcher Bevölkerungsgruppe sie es zu tun haben, etwa wenn es um die Nutzung von Smartphones oder Unterricht für Mädchen geht. Schulen attackieren sie schon lange nicht mehr. „Weil sie längst die politischen Kosten dieses Verhaltens begriffen haben“, so Jackson. 

Eine einheitliche Linie jedenfalls haben die Taliban, bis auf einige unveräußerliche Grundsätze wie Geschlechtertrennung, nicht. „Afghanistan ist zu vielfältig, als dass eine Kraft alle anderen dominieren könnte. Es ist heute auch ein radikal anderes Land als vor 20 Jahren“, sagt Ashley Jackson. „Obendrein haben sich auch die Taliban sehr verändert.“ Die Islamisten sind nun selbst wesentlich gebildeter und strukturierter als vor 2001 beziehungsweise vor 1996.

Geldgeber haben Einfluss

Der Staatshaushalt Afghanistans wird heute zu 75 Prozent von ausländischer Hilfe bestritten. Davon wären auch die Taliban abhängig. „Ganz dringend brauchen sie zum Beispiel Unterstützung bei der Gesundheitsversorgung, schon für ihre eigenen Kämpfer“, so Jackson. Die internationale Gemeinschaft, insbesondere die UN, müsse sich das zunutze machen: „Sie muss vorausschauender agieren und auch energischer, fordernder auftreten.“ 

Dass Hilfsgelder das wichtigste Druckmittel sind, glaubt auch ein deutscher Entwicklungshelfer in Kabul, der anonym bleiben will. „Vier bis sechs Millionen Menschen sind im letzten Bürgerkrieg aus dem Land geflohen“, erklärt er, „seitdem hat sich die Bevölkerung verdoppelt.“ Es sei absehbar, wie viele Menschen sich nun wieder aufmachen könnten und wo es viele von ihnen dann hinzieht: „Geradewegs nach Europa.“

Zu den größten Problemen Afghanistans gehören weiter die ineffektive Staatlichkeit, der Wassermangel und die Auswirkungen des Klimawandels, dazu das Verhältnis zu den Nachbarstaaten, sagt Barnett Rubin: „All diese Probleme waren noch nie mit Truppen zu lösen.“

 

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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