Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed - Der Friedensfürst von Äthiopien am Abgrund

Äthiopiens Ministerpräsident Abiy Ahmed hat seinen Bürgern nie gekannte Freiheiten verschafft und sogar den Friedensnobelpreis erhalten – doch jetzt eskaliert die Gewalt und ein neuer Krisenherd.

Früher lachte er freundlich auf offiziellen Fotos, jetzt schaut er besorgt drein: Abiy Ahmed / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Yves Bellinghausen ist freier Journalist, lebt und arbeitet in Berlin und schreibt für den Cicero.

So erreichen Sie Yves Bellinghausen:

Anzeige

Als Äthiopiens diktatorische Einheitspartei EPRDF vor zwei Jahren den glücklosen Ministerpräsidenten Hailemariam Desalegn durch den damals 41-jährigen Abiy Ahmed ersetzte, war ihr wohl selbst nicht ganz klar, welche Geister sie beschworen hatte. Eigentlich wollten die Machthaber der Partei nur die protestierende Oromo-Volksgruppe im Land beruhigen, die seit Jahren teils gewaltsam gegen die Regierung protestierte. Denn die Oromo bilden zwar den größten Bevölkerungsanteil in dem Vielvölkerstaat, politisch waren sie aber seit jeher marginalisiert.

Der neue Ministerpräsident Abiy gehört selbst der Oromo-Volksgruppe an, und tatsächlich waren die Oromo zunächst begeistert, dass nun endlich einer von ihnen Regierungschef wurde. Gleichzeitig, so hoffte die Partei, sollte ihr treuer Gefolgsmann Abiy das autoritäre Staatssystem in Äthiopien stabilisieren. Abiy, der in einem zentral­äthiopischen Dorf aufwuchs, trat noch als Jugendlicher der EPRDF bei, diente sich bei der äthiopischen Armee zum Oberstleutnant hoch und baute den äthiopischen Internet-Geheimdienst mit auf, der Opposition und Journalisten unterdrückte. Tatsächlich schien Abiy Ahmed knietief im äthiopischen Repressionssystem zu stehen.

Doch dann setzt er mit Anfang 40 zu einer Art Staatsstreich von oben an. Am 2. April 2018 wird Abiy im äthiopischen Volksrepräsentantenhaus eingeschworen, er singt die Nationalhymne, schreitet unter dem Beifall der Abgeordneten ans Rednerpult – und hält eine bemerkenswerte Rede: „Ich bitte von ganzem Herzen um Vergebung für die vielen Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit und die vielen jungen Leute, die für den Wandel gekämpft haben und deshalb zu früh sterben mussten, und für die vielen Menschen und Familien, die in den letzten Jahren traumatisiert wurden.“ Abiy verspricht den Bürgern Demokratie und der Opposition, dass sie frei arbeiten dürfe. 

Gorbatschow oder Obama?

Für Äthiopien, das in den vergangenen 90 Jahren vom ebenso schrulligen wie autoritären Kaiser Haile Selassie, von der sozialistischen Militärjunta Derg und von ebenjener entwicklungsdiktatorischen Einheitspartei EPRDF unterdrückt wurde, kommen Abiys Versprechen einer Revolution gleich. Und so brach vor zwei Jahren in Äthiopien die Abiymania aus. Die gesamte Bevölkerung, so schien es, war begeistert vom neuen Machthaber, der dem bitterarmen Land endlich Hoffnung zu geben schien. Es gingen Bilder um die Welt von Menschenmengen, die in der Hauptstadt Addis Abeba ihren neuen Helden ausgelassen feierten. Und Bilder von Abiy Ahmed selbst, der immer freundlich zu lächeln schien und legere Klamotten trug. Das äthiopische Meinungsforschungsinstitut Waas maß damals Zustimmungswerte von bis zu 90 Prozent. Westliche Medien bezeichneten den neuen Staatschef entweder als Gorbatschow (Stichwort: politische Öffnung) oder als Obama (Stichwort: jugendhafte Lässigkeit) von Afrika. 

Und Abiy lieferte: Schon in den ersten Wochen nach seinem Amtsantritt hob er das Verbot regierungskritischer Medien und Internetseiten auf, nahm Oppositionsparteien von der offiziellen Terrorliste herunter, ließ Tausende politische Gefangene frei und feuerte zahlreiche ranghohe Beamte – unter anderen den Chef der äthiopischen Gefängnisse, in denen Folter weitverbreitet war. Abiy bat die über die ganze Welt verstreute äthiopische Diaspora, sie möge zurückkommen und das neue Staatswesen mitaufbauen. Als er einige Monate nach seinem Amtsantritt nach Frankfurt am Main kam, strömten 20 000 seiner Landsleute in die Commerzbank-Arena; die FAZ schrieb damals von „rot-gelb-grünen Freudentränen für Doktor Abiy“. 

Seinen wohl größten Coup landete Abiy dann, als er an einem Sonntag im Juli 2018 in Addis Abeba ein Flugzeug der Ethiopian Airlines bestieg und nach Asmara flog, der Hauptstadt von Eritrea. Jahrzehntelang waren die beiden Länder Erzfeinde gewesen, hatten 30 Jahre lang einen blutigen Sezessionskrieg und danach noch einen zweijährigen Grenzkrieg geführt, der im Jahr 2000 mit einem Waffenstillstand ohne offiziellen Friedensschluss geendet war. Doch dann läuft nach der Landung in Asmara plötzlich ein sichtlich gut gelaunter Abiy ­Ahmed die Gangway hinunter und schließt den eritreischen Diktator Isaias Afwerki so herzlich in die Arme, als wäre man seit Ewigkeiten befreundet. Schnell setzen die beiden Staaten einen Friedensvertrag, ja sogar einen „Freundschaftsvertrag“ auf, vereinbaren die Wiederaufnahme von diplomatischen Beziehungen und eine Öffnung der Grenze.

Zu Hause mit dem Rücken zur Wand

Abermals jubelte die internationale Gemeinschaft; vergangenes Jahr bekam Abiy sogar den Friedensnobelpreis verliehen. Aber als er im Dezember nach Oslo flog, um den Preis entgegenzunehmen, gab er sich seltsam zugeknöpft. Die traditionelle Fragerunde von Journalisten ließ Abiy ausfallen, angeblich sei er dafür zu bescheiden, wie seine Sprecherin behauptete. Eher dürfte Abiy unangenehmen Fragen aus dem Weg gegangen sein, denn in Äthiopien steht er mittlerweile mit dem Rücken zur Wand.

Über dem Meskel Square, dem zentralen Platz von Addis Abeba, hängt ein gigantisches Transparent, das einen strahlenden Abiy zeigt; im Hintergrund schimmert seine goldene Nobelpreismedaille. „Der Anführer, dank dem Äthiopien prosperiert“ steht darüber in amharischen Schriftzeichen, doch wer unten auf dem Platz, wo Abiy vor zwei Jahren noch frenetisch gefeiert wurde, mit Leuten ins Gespräch kommt, muss lange suchen, um noch einen Fan zu finden. Denn inzwischen droht die Gewalt im Land außer Kontrolle zu geraten.

Besonders unzufrieden sind wieder die Oromo, an die Abiy doch eigentlich ein Zugeständnis sein sollte. Schon seit des Kaisers Zeiten ist die äthiopische Politik stärker durch ethnische Zugehörigkeit als durch Inhalte bestimmt, und so hofften viele Oromo, dass Abiy ihnen künftig mehr Geld, mehr Posten und mehr Einfluss zuschachern würde. Dass Abiy selbst Oromo ist, entspricht übrigens nur der halben Wahrheit: Sein muslimischer Vater ist Oromo, seine christliche Mutter aber gehört der Volksgruppe der Amharen an. Womöglich betont er auch deshalb immer wieder, er sei zuallererst Äthiopier, nicht Oromo.

Ein siedender Kessel ohne Deckel

Während es Abiys erklärtes Ziel ist, Äthiopien und seine mehr als 80 Ethnien zu einen, wettern Oromo-Nationalisten konsequent dagegen. Der bekannteste unter Abiys Widersachern ist Jawar Mohammed: Vom alten Regime als Terrorist gebrandmarkt, lebte er lange im amerikanischen Exil. Doch nachdem Abiy die politische Bühne für die Opposition öffnete, kehrte Jawar 2018 zurück und wiegelte sogleich junge Oromo über seinen Fernsehsender Oromo Media Network sowie über die sozialen Medien auf. Als Jawar Mohammed im vergangenen Oktober auf Facebook behauptete, die Polizei würde sein Haus umstellen (was die Regierung später dementierte), brachen auf den Straßen sofort Unruhen aus, bei denen mindestens 70 Menschen starben. 

In Äthiopien gibt es derzeit unzählige Unruhestifter vom Schlage Jawar Mohammeds, und alle reden sie der sehr jungen und größtenteils perspektivlosen Bevölkerung ein, schuld an ihrem Elend seien Abiy Ahmed und vor allem die anderen Ethnien. Mit dem Ergebnis, dass in Äthiopien die ethnische Gewalt gerade in erschreckendem Maße zunimmt: Mehr als drei Millionen Binnenflüchtlinge gibt es mittlerweile im Land. „Bevor er ins Amt kam, flüchteten die meisten Äthiopier noch vor dem Hunger in den besonders trockenen Landesteilen, aber seit Abiy sind gewaltsame Konflikte mit Abstand der häufigste Grund für Flucht“, sagt Malda Nadew, Analystin für die humanitäre UN-Organisation OCHA. Jetzt räche es sich, dass viele Äthiopier keine Erfahrung mit Meinungsfreiheit hätten und es ohnehin an einer demokratischen Kultur mangele.

Als Abiy vor zwei Jahren mit einem Ruck Äthiopiens politische Arena öffnete, nutzten das viele seiner Landsleute aus, um alte Rechnungen zu begleichen. Denn religiöse und ethnische Konflikte waren bis dahin stets von der autoritären EPRDF unter Kontrolle gehalten worden – mit Zensur, Unterdrückung und notfalls auch mit Gewalt. Äthiopien sei wie ein Kessel gewesen, der überzukochen drohte und auf den die Regierungspartei jahrzehntelang den Deckel gepresst habe, sagt Nadew. Doch dann habe Abiy diesen Deckel plötzlich weggerissen – und jetzt schäumt das ganze Land über.

Der Geist ist aus der Flasche

Im christlichen Nordwesten brennen Moscheen, im muslimischen Osten brennen Kirchen, in der Oromo-Region wurden amharische Studenten entführt, in der Amhara-Region wurde der Regionalpräsident ermordet, und entlang regionaler Grenzen werden regelmäßig ganze Dörfer überfallen. In dieser extrem angespannten Situation sollen im August auch noch die ersten wirklich freien Wahlen in der Geschichte Äthiopiens stattfinden. Eigentlich hätten sie die Krönung von Abiys Demokratisierungsprozess sein sollen, doch stattdessen sorgt der geplante Urnengang derzeit vor allem für Angst. Politikwissenschaftler warnen vor einem Bürgerkrieg, Menschenrechtler vor einem Genozid – und viele gebildete Äthiopier machen für die Gewaltspirale Abiys Hauruck-Demokratisierung verantwortlich.

Der wiederum legt seit ein paar Monaten eine härtere Gangart an den Tag. Auf offiziellen Fotos lächelt er nicht mehr freundlich, sondern schaut besorgt drein. Nach den gewaltsamen Oromo-Protesten sagte Abiy, er wolle „das Unkraut ausreißen und den Weizen pflegen“, Ende Januar ging er mit Massenverhaftungen gegen die Opposition vor. Und im Februar wurde die Meinungsfreiheit mit einem Anti-Hatespeech-Gesetz wieder ein Stück weit eingeschränkt.

Doch der Geist ist aus der Flasche, und dass Abiy nach zwei Jahren Freiheit wieder zurück zum alten Unterdrückungsstaat will, scheint ausgeschlossen. Für sein Land ist er eine gigantische Wette eingegangen: Zu gewinnen gibt es Freiheit und Demokratie. Geht es jedoch schief, droht inmitten einer der instabilsten Regionen der Welt ein neuer Krisenherd.
 

Dieser Text ist in der April-Ausgabe des Cicero erschienen, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

Jetzt Ausgabe kaufen

 

 

 

Anzeige