Abschied vom Siegfrieden - Stehen wir vor einer „Zeitenwende“ im Ukrainekrieg?

Das offizielle Deutschland setzt wie der gesamte Westen weiter auf einen Sieg der Ukraine im Krieg gegen Russland. Doch die militärische Wirklichkeit macht diese Erwartung immer unwahrscheinlicher.

Ukrainischer Soldat im Raum Donezk, 19.08.2023 / picture alliance
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Autoreninfo

Stefan Luft ist Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bremen. Er ist gemeinsam mit Sandra Kostner Herausgeber des jüngst erschienenen Bandes „Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht“ (Westend Verlag).

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Seit Beginn des Krieges in der Ukraine hat die westliche Politik auf die Entscheidung auf dem Schlachtfeld gesetzt. Die Verhandlungen im Februar/März 2022 zwischen Russland und der Ukraine deuten darauf hin, dass die beiden unmittelbaren Kriegsparteien zumindest zu dieser Zeit auch andere Optionen für denkbar hielten.

In Deutschland ist bis heute eine ganz große Koalition aus CDU/CSU, FDP, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Teilen der Linkspartei der Auffassung, es müssten nur ausreichend Waffen an die ukrainische Armee geliefert werden, dann wäre ein Sieg über den russischen Aggressor erreichbar. Die Ukraine könne militärisch ihre territoriale Identität sichern und ihre Freiheit zurückgewinnen. Vizekanzler Habeck brachte die Konsequenz dieser Position im Januar dieses Jahres auf den Punkt: „Wir werden nicht aufhören, Waffen an die Ukrainer zu liefern. (…) Wir werden unsere Lieferungen immer an den Bedarf auf dem Schlachtfeld anpassen.“

Deutschland spielt international eine führende Rolle in der informellen Anti-Russland-Koalition des kollektiven Westens und ist faktisch zur Kriegspartei geworden. Unter den 40 Staaten, die die Ukraine unterstützen, ist Deutschland nach den USA das zweitgrößte Geberland von Militärhilfen geworden. Zusagen im Wert von insgesamt 165 Milliarden Euro wurden der Ukraine bis Ende Mai 2023 gemacht. Zudem ist Deutschland eine Drehscheibe der militärischen Koordination der USA im Allgemeinen und der Unterstützung der Ukraine im Besonderen.

Trotz hochwertiger westlicher Militärtechnik, europäischer und US-amerikanischer Panzer, Raketen mit abgereichertem Uran, international geächteter Streumunition, Marschflugkörpern, F-16 Kampfflugzeugen und morgen „Taurus-Raketen“, trotz von der Nato ausgebildeter ukrainischer Soldaten, trotz amerikanischer Aufklärungsdaten vom Schlachtfeld: Die erwarteten Erfolge der ukrainischen Armee sind weitgehend ausgeblieben. Beobachter sehen das „Elend eines Abnutzungskrieges“. Doch nicht nur das: Der Krieg und seine Verlängerung durch die beispiellosen Waffenlieferungen des größten Militärbündnisses der Welt haben ihren Preis. Die New York Times berichtet von bislang rund 500.000 Toten und Verwundeten in diesem Krieg. Mit Beginn der ukrainischen Offensive Anfang Juni haben sich die Verluste stark erhöht. Gerade jene Truppenteile, die ihre Ausbildung durch die Nato erhielten, mussten einen hohen Blutzoll entrichten.

Demografie

Hinzu kommen rund 5,5 Millionen Binnenflüchtlinge sowie rund zehn Millionen Flüchtlinge, die das Land verlassen haben – vor allem jüngere und gut ausgebildete Personen (acht Millionen in die EU, rund zwei Millionen in die Russische Föderation). „Unabhängig davon, wie lange der Krieg dauert, und ob es zu einer weiteren militärischen Eskalation kommt oder nicht, dürfte sich die Ukraine demografisch nie mehr von den Folgen des Krieges erholen“, heißt es in einer Analyse des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW). Zerstörungen von Landschaft und Infrastruktur mit immensen ökonomischen und ökologischen Schäden werden den Rückkehrabsichten der Flüchtlinge eher abträglich sein.

Hinzu kommen die langfristigen Auswirkungen der Munition mit abgereichertem Uran, die von Großbritannien geliefert wird. Bereits im Jugoslawienkrieg in den 1990er Jahren setzte die Nato solche Munition ein – auch die USA verwendeten sie im Irak –, in beiden Fällen mit katastrophalen Folgen für Bevölkerung und Umwelt. Die Zerstörung des Staudamms und des Wasserkraftwerks von Kachowka am 6. Juni 2023 zieht ebenfalls gravierende mittelfristige Verheerungen nach sich. Große Areale, die vermint wurden, kommen hinzu. Etliche Landstriche werden aller Voraussicht nach dauerhaft unbewohnbar bleiben. Insgesamt bleibt bemerkenswert, dass der menschliche Faktor des Krieges weitgehend ausgeblendet wird: Brüder, Ehemänner, Väter, Freunde werden in diesem Krieg verheizt wie Brüder, Ehemänner, Väter und Freunde im Ersten Weltkrieg. Nirgends – so scheint es – regt sich ob dieses unermesslichen Grauens auch nur ein Quäntchen  Empathie. „Russland darf nicht gewinnen“ – das ist die Ratio, koste es, was es wolle.

Dabei sind die Perspektiven ernüchternd. Je länger der Krieg andauert, desto größer werden die Schäden sein, die Land und Leuten zugefügt werden. Und: desto größer werden die territorialen Zugeständnisse sein, die bei einer Verhandlungslösung gemacht werden müssen. Wer glaubt ernsthaft, dass die wesentlich kleinere Ukraine in der Lage sein könnte, das größere Russland militärisch zu besiegen?

Ob der Krieg in absehbarer Zeit beendet wird, hängt nicht nur von der Ukraine ab. Russlands Entscheidungsfindung wird von mehreren Faktoren beeinflusst. Dazu gehört der sunk-cost effect – angesichts der bereits entstandenen Kosten (humanitär, ökonomisch) wird Russland nur dann Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen zustimmen, wenn sie ohne Vorbedingungen begonnen werden. Zudem hat die Ukraine für Russland noch stärker als für die Nato und die USA eine strategische Bedeutung, so dass es die in diesem Konflikt erreichten Ziele nicht gefährden wird. Weiterhin betrachtet die russische Seite diesen Krieg als Folge einer globalen Aggression des Westens und nicht als isoliertes Kräftemessen. Für die russische Führung steht dieser Krieg ebenfalls für eine „Zeitenwende“ – für ein Ende der Hegemonie des Westens und der USA und für eine multipolare Weltordnung.

Kein „weiter so“

Im Westen herrscht ein uneinheitliches Bild vor. Dass die USA den Krieg noch wesentlich länger finanzieren und im Falle einer Friedenslösung den Wiederaufbau massiv unterstützen werden, muss bezweifelt werden. Die Enttäuschung über die ausbleibenden nennenswerten militärischen Erfolge macht sich auch in der politischen Führung der USA breit. Sowohl bei Demokraten als auch bei Republikanern nehmen die Vorbehalte gegenüber einem „weiter so“ zu. In der Bevölkerung nimmt die Zustimmung für den bisherigen Kurs ab. Sprachen sich kurz nach der Invasion im Februar 2022 noch 62 Prozent der Befragten dafür aus, dass die USA die Ukraine stärker unterstützen solle, sind inzwischen 55 Prozent der Befragten der Auffassung, dass der US-Kongress keine zusätzlichen Mittel zur Unterstützung der Ukraine bewilligen sollte. 51 Prozent sind der Meinung, dass die USA bereits genug für die Ukraine getan haben. Nicht zuletzt aufgrund des strukturellen Haushaltsdefizits der Vereinigten Staaten ist es wenig wahrscheinlich, dass Milliardenbeträge aus dem US-Haushalt in den Wiederaufbau der Ukraine fließen werden. Hinzu kommt, dass die USA ihr Militärpotential in naher Zukunft eher gegen China richten werden.

Militarisierung

In Deutschland hat sich die ganz große Koalition in ihre politischen Gräben eingegraben. Die Taurus-Marschflugkörper sind noch nicht geliefert, aber politisch ist es offensichtlich entschieden. Wer aufmerksam zuhört, stellt fest, dass inzwischen auch von westlichen Bodentruppen die Rede ist – zum Beispiel vom Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen. Er gilt als einer der einflussreichsten politischen Strategen und Propagandisten der von der Bundesregierung ausgerufenen „Zeitenwende“ – ihm kommt so etwas nicht zufällig über die Lippen. Generalinspekteur Carsten Breuer formulierte in einer Grundsatzrede Mitte Juli einen neuen programmatischen Leitsatz für die Bundeswehr: „Gewinnen wollen. Weil wir gewinnen müssen“. Der alte Leitsatz „Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen“ sei nicht mehr ausreichend: „Im Ergebnis müssen wir die Rolle und die Aufgaben der Bundeswehr neu denken.“

Die Militarisierung von Politik und Gesellschaft wird in dieser Rede mit Händen greifbar. Die Bevölkerung wird auf weitere Eskalation vorbereitet. Zudem werden Kritiker der Kriegspolitik von Medien („Lumpenpazifisten“) und Regierung in einer Art und Weise eingeschüchtert („gefallene Engel“), die das politische Klima weiter vergiftet. Hass und Hetze „von oben“ weisen allerdings darauf hin, wie stark die Befürchtungen sind, die Kriegsmüdigkeit könne doch noch einen politischen Ausdruck finden.

Es gibt im Westen – auch in der EU – bis heute keinen Friedensplan, geschweige denn eine diplomatische Friedensinitiative. Alle Zeichen stehen auf fortwährende Konfrontation. Es fehlt an klaren strategischen Kriegszielen. Soll der Status von vor dem Einmarsch am 24. Februar 2022 wiederhergestellt werden? Sollen die Krim und der Donbass zurückerobert werden? Soll die Ukraine nach einem Sieg über Russland noch stärker aufgerüstet werden als zuvor, um Russland nachhaltig abzuschrecken von einem weiteren Angriff? Kann daraus jemals ein stabiler Frieden entstehen? Soll die Ukraine nach dem Krieg auch formell in die Nato aufgenommen werden? Was heißt konkret, Russland müsse den Krieg verlieren, Russland müsse „ruiniert“ (Baerbock) werden? Welche Bedeutung haben die Regime-Change-Vorstellungen, die im Westen immer wieder diskutiert werden?

Alle diese Kriegsziele haben mehrere Gemeinsamkeiten: Die Konfrontation und der postulierte „Systemkonflikt“ mit dem Feind Russland stehen im Zentrum solcher Überlegungen. „Putins Russland ist nicht nur eine Gefahr für die europäische Sicherheit, sondern auch für eine globale Ordnung, die auf internationalen Organisationen und Recht aufbaut“, heißt es in einem Papier der regierungsnahen Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Präsident Wladimir Putin stellt demnach das zentrale Hindernis für eine friedliche Zusammenarbeit in Europa und der Welt dar. „Frieden und Stabilität sind unter Putins Regime nicht mit, sondern nur gegen Russland möglich.“ Mit dem aktuellen russischen „Regime“ könne „es keine kooperative Sicherheit geben“, heißt es weiter.

Diese Entschiedenheit muss nicht nur deshalb zu denken geben, weil Russland bekanntermaßen keineswegs das einzige Land ist, dem Völkerrechtsbrüche und das Führen von Angriffskriegen vorgeworfen werden können. Gefährlich sind solche Aussagen auch deshalb, weil sie als Wegweiser in einen totalen Krieg betrachtet werden können. Die stärkste Atommacht der Welt so behandeln zu können, ist eine unpolitische Vorstellung und Ausdruck westlicher Allmachtsfantasien. Beiträge zu einer Politik, die das Leiden durch den Krieg beenden und Voraussetzungen für ein friedliches Zusammenleben schaffen, sehen anders aus. Ob die Politik zu einer Zusammenarbeit mit Russland zurückfindet, ist sehr fraglich.

Von gleicher Relevanz ist, dass sich die USA nicht nur mit Russland, sondern auch mit China in einer geopolitischen Auseinandersetzung befinden. Auch hier sollten Deutschland und Europa nicht auf Konfrontation, sondern auf Ausgleich setzen. Für die Zukunft des Kontinents sind dies Überlebensfragen.

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