Interview mit Militärexperte Hans-Peter Bartels - „Waffenstillstand könnte bevorstehen“

Mit einer vollständigen Eroberung der beiden Donbas-Bezirke könnte Präsident Putin ein wichtiges Ziel erreicht haben und der Ukraine Verhandlungen anbieten. Doch für Präsident Selenskyj wäre das eine schwierige Lage. Kann er einem kalten Frieden zustimmen, so lange russische Soldaten Teile des Landes besetzt halten? Die Amerikaner halten sich möglicherweise als Vermittler bereit, sagt der Militärexperte Hans-Peter Bartels.

Ukrainische Soldaten im Donbas. /dpa
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Autoreninfo

Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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Hans-Peter Bartels ist Politikwissenschaftler und Journalist. Er war seit 1998 SPD-Bundestagsabgeordneter, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses und Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages von 2015 bis 2020. Er ist Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik.

Herr Bartels, wie beurteilen Sie die aktuelle Lage an den Frontlinien in der Ukraine?

Fast die ganze Welt ist ja nach wie vor positiv erstaunt, wie stark der Widerstand der Ukraine gegen die russischen Invasoren ist. Es wird deutlich, dass sich die russische Armee enorm abnutzt. Zugleich sagen Experten, dass es nur noch eine Frage von Tagen sein könnte, bis die beiden Verwaltungsbezirke Luhansk und Donezk von den Russen vollständig besetzt seien werden. Das wäre für den russischen Präsidenten Wladimir Putin sicher ein wichtiges Etappenziel.

Was könnte daraus folgen?

Möglicherweise ist dieser Teilsieg im Osten der Ukraine der Punkt, an dem Putin einen Waffenstillstand und Verhandlungen anbietet. Er könnte damit den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj durchaus in eine gewisse Bedrängnis bringen. Ein Waffenstillstand würde ja alle besetzten Gebiete erst einmal dem Aggressor überlassen. Aber andererseits - nach den Erfahrungen mit Putin in den letzten Monaten und Jahren weiß keiner, wie er tickt und auf welche Ziele er wirklich hinauswill.

Wieso wäre ein Verhandlungsangebot der Russen für die Ukraine schwierig?

So lange russische Truppen auf ukrainischem Staatsgebiet stehen, ist jedes Verhandlungsangebot giftig. Selenskyj hatte zu Beginn des Krieges selbst einmal einen Vorschlag gemacht, welcher für den Donbas und die Krim eine Sonderrolle vorsah. Klar ist: Alle wollen die Kampfhandlungen beenden. Doch es bleibt für die Ukraine extrem problematisch, die von Putin eroberten Gebiete zunächst in russischer Hand zu lassen. Butscha ist ein Menetekel. Wenn die Ukraine dann also lieber weiter kämpfen wollte, bliebe der Westen hoffentlich in Solidarität mit der Ukraine verbunden.

Selbst wenn  Selenskyj wollte, hätte er Rückhalt im eignen Land für Verhandlungen?

Selenskyj hat sich bisher schon als sehr führungsstark erwiesen. Manche Insider spekulieren darauf, dass hinter den Kulissen schon Verhandlungen unter Einbeziehung Washington laufen. Wir wissen es nicht.

Es gab ja auch mal die Ansage der Amerikaner, man wolle mit diesem Krieg die Russen so nachhaltig schwächen, dass sie solche Kriege nicht mehr führen können?

Ich glaube nicht, dass die Amerikaner auf einen endlosen Abnutzungskrieg setzen. Sie haben gesehen, dass die russischen konventionellen Kräfte eine überschaubare Gefahr für die Nato darstellen. Allerdings steht dahinter immer noch ein russisches Nuklear-Potenzial mit 6000 Atomsprengköpfen.

Die nukleare Gefahr ist aber im Moment nicht so groß einzuschätzen?

Sicher weiß man gar nichts. Viele hätten nicht gedacht, dass Putin die Ukraine tatsächlich angreift. Den monatelangen Truppenaufmarsch rund um die Ukraine habe ich persönlich für eine Drohkulisse gehalten. Tatsächlich war es die klassische Vorbereitung zum Krieg.

Deutschland hat ja offenbar de facto noch gar keine schweren Waffen geliefert. Kann es sein, dass der Kanzler es sozusagen so lange herauszögern will, bis es dann hoffentlich nicht mehr nötig wäre?

Von außen betrachtet sieht es manchmal so aus, als ob man in Deutschland auf Zeit spielt. In Sachen „schwere Waffen“ nehmen wir jedenfalls keine Vorreiterrolle ein.

Wie hilfreich sind denn die Anrufe bei Putin? Jüngst hatte Bundeskanzler Scholz sich ja wieder in Moskau gemeldet.

Es ist sicher sinnvoll, es immer wieder zu versuchen, auch wenn das ganz bestimmt keinen Spaß macht. Ich erinnere mich an eine Sitzung der SPD-Bundestagsfraktion 2014, da berichtete der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier, dass er selbst und Kanzlerin Angela Merkel binnen weniger Wochen 34 Mal mit Putin telefoniert haben. Und die Kanzlerin habe ihm gesagt, sie sei es inzwischen wirklich leid, ständig belogen zu werden. Diese Erfahrung zieht sich bis jetzt durch. Auch Scholz ist belogen worden. Da braucht es ein gewisses Maß an Selbstüberwindung, dennoch zu telefonieren. Aber trotzdem, besser ist das.

Immer wieder ist zu hören, die Sicherheitsinteressen Russlands würden im Westen nicht berücksichtigt?

Dies ist einfach ein falsches russisches Narrativ. Natürlich wollen wir im Westen die russischen Sicherheitsinteressen berücksichtigen – und genau das ist auch passiert. Hier eine kleine Liste aus den letzten 30 Jahren nach dem Ende der Sowjetunion. Viele wissen es nicht, aber im Zwei-plus-Vier-Vertrag über die Wiedervereinigung ist eine Obergrenze für deutsche Streitkräfte festgeschrieben. Die gilt noch heute: Deutschland darf nicht mehr als 370.000 Soldaten aufstellen. Welches andere Land kennt so etwas? Das steht nicht deshalb in dem Vertrag, weil die Amerikaner sich vor Deutschland fürchten. Es war eine Rücksichtnahme auf Sicherheitsinteressen der Sowjetunion.

Das ist 30 Jahre her, welches Entgegenkommen gab es noch?

Die zweite Sicherheits-Garantie gegenüber Russland war, dass es keine benachbarten Länder mit Atomwaffen geben darf. Deswegen haben Weißrussland, die Ukraine und Kasachstan ihre Atomwaffen an Russland abgegeben. Und dann die Nato-Russland-Grundakte, die vorsieht, dass es eine Nato-Erweiterung nach Osten nur geben darf, wenn dort keine Atomwaffen und keine größeren Kampfverbände anderer Nato-Staaten stationiert werden. Bitten um Aufnahme von Georgien und der Ukraine in die Nato wurden abgelehnt. Alles, um die Sicherheitsinteressen Russlands zu berücksichtigen. Doch Putin ist das egal. Heute müssen wir sagen: Auf Kosten der Länder Osteuropas ist der Westen möglicherweise zu stark auf die Wünsche Moskaus eingegangen.

Letztlich ist also, Ihrer Meinung nach, Russland ein Gegenüber bei dem mit Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit nicht zu rechnen ist?

Genau das ist das Problem.

Gibt es ein Szenario für einen Regimewechsel in Moskau?

An dem Tag, an dem das passiert, sagen alle, es musste ja so kommen, alles lief darauf hinaus. Aber vorher bleibt es doch unvorhersehbar. Wir wissen zwar, dass sich im russischen Machtapparat nicht wenige Sorgen wegen Putin machen. Aber ob das zu einer Putsch-Situation führt, wissen wir nicht. Die Situation Russlands in der Welt würde sich durch jedwedes neue Personal an der Spitze zweifellos verbessern. Für Putin selbst jedenfalls, der konsequent alle belogen hat, dürfte es extrem schwer, irgendeine Art von Vertrauen wieder aufzubauen.

Das Gespräch führte Volker Resing.

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