Alexei Nawalny und der Protest in Russland - „Ich lasse mich nicht länger bestehlen“

Alexei Nawalny sitzt zwar im Gefängnis, ist dort aber mächtiger denn je. Er hat es nämlich geschafft, dass viele seiner Landsleute das „System Putin“ hinterfragen und nicht länger bereit sind, ihren eigenen wirtschaftlichen Niedergang hinzunehmen. Russlands Führung wirkt zunehmend hilflos.

Nationalgardisten blockieren bei einem Protest gegen die Inhaftierung Nawalnys eine Straße in Sankt Petersburg / dpa
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Rüdiger von Fritsch (Foto dpa) war von 2014 bis 2019 deutscher Botschafter in Russland. Er ist Autor des jüngst erschienenen Buchs "Russlands Weg: Als Botschafter in Moskau" (Aufbau-Verlag).

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„Nawalnys Rückkehr ist wie jene Lenins 1917!“ Dmitry Kisseljow, Chef-Agitator der russischen Macht, gefiel der Vergleich sichtlich, den er in seiner sonntäglichen Propagandasendung im russischen Staatsfernsehen zog.

Die Diffamierung Nawalnys und die Bezichtigung des Westens offenbarte jedoch die tatsächlichen Ängste der russischen Machthaber: 1917 schleuste das Deutsche Reich den russischen Revolutionär in seine Heimat, stattete ihn mit reichlich Geld aus und trug so dazu bei, dass innerhalb kurzer Zeit das gute, alte russische Reich im Orkus der Geschichte verschwand. Die historischen Umstände – ein bankrottiertes, repressives System, eine kriegsmüde, hungrige Bevölkerung, ein dramatisches Wohlstandsgefälle – blendet man im Rückblick gerne aus. So wie beim mehr und mehr verklärenden und verzerrenden Rückblick auf das Ende der Sowjetunion, die irgendwie umgestoßen worden und nicht an ihren inneren Widersprüchen gescheitert sei.

Empörte SED-Rhetorik

Für so gefährlich hält man nun also auch Alexei Nawalny, der kurz zuvor noch als bloßer Blogger verspottet wurde. Und klar ist, dass er vom Ausland bezahlt und gesteuert wird: Anders kann es nicht sein, im Denken der Kisseljows wie der russischen Machthaber, das davon bestimmt ist, auch in Russland könne es zu einer „Farbrevolution“ kommen: jenen scheinbar aus dem Nichts kommenden Aufständen, die in kurzer Zeit Regime in Tunesien, Georgien oder der Ukraine hinwegfegten. Und die angeblich alle vom westlichen Ausland angezettelt, orchestriert und umgesetzt wurden. Die Revolution nach Fahrplan. Obwohl das Regime doch alles für die Menschen tut, damit es Ihnen gut geht und sie keinen Grund haben zu murren! Das undankbare Volk – das gemahnt an die empörte SED-Rhetorik nach dem DDR-weiten Juni-Aufstand von 1953.

Und so soll es auch in Russland kommen, davon ist man überzeugt, das sagt man auch öffentlich. Und richtet den ganzen verengten Fokus auf vom Ausland aufgebaute Übeltäter wie Nawalny und deren böse Machenschaften. Doch damit gefährdet das System sich selbst. Es verdrängt die realen Missstände, die wirtschaftliche Misere der vielen, deren Einkommen in den zurückliegenden sieben Jahren um 10 Prozent zurückgegangen ist, die sich von Kredit zu Kredit hangeln; das desolate Gesundheitssystem oder die in der Fläche oft marode Infrastruktur. Obwohl „der Zar“ doch die Schwachstellen und die Korruption ab und zu benennt, väterlich ermahnt und immer neue Pläne entwirft, damit alles gut wird.

„Jeder weiß nun, was zu tun ist, wir müssen es nur tun“, fasste Präsident Putin es in einem jener Appelle im Dezember 2014 zusammen. Was sich seither geändert, weil vergrößert hat, ist die Zahl der Millionäre und Milliardäre sowie deren Vermögen.

Die Macht des Präsidenten, etwas zu ändern, findet ihre Begrenzungen in einer überbordenden, ineffizienten und korrupten Bürokratie. „Russland ist weit, und der Zar ist groß“, hat es schon immer geheißen. Und es sind die teuflischen Segnungen des Ressourcen-Fluches, die der Macht des Präsidenten Grenzen ziehen. Nach dem Motto: „Auch wenn wir die verkündeten Reformen nicht umsetzen, haben wir doch genug Einnahmen aus Öl- und Gasverkäufen, um dafür zu sorgen, dass nicht alles schlecht wird.“

Werden Missstände allzu groß und murrt Volk, weil die örtliche Müllkippe Giftgase absondert, weil die Mautgebühren für die LKW-Fahrer unerträglich werden oder weil der populäre Gouverneur im fernen Osten von langer Hand aus Moskau abgesetzt wird, setzt man die zwei bewährten Mittel der Stabilisierung ein: Repression und Bestechung. Polizeieinheiten, die ihre prügelnde Effizienz auch dieser Tage wieder unter Beweis gestellt haben, gehören ebenso dazu wie einzelne Prestigeprojekte oder gezielte Lohnerhöhungen. Die Mehrheit der Beschäftigten steht sowieso auf dem staatlichen Lohnzettel und lässt sich durch Bedrohung und Bezahlung steuern. Glaubt man.

Mehr als 100 Millionen Zuschauer

Würde die Macht bei den Demonstrationen der jüngsten Zeit genau hinhören, müsste sie sich Sorgen machen. 42 Prozent der Teilnehmenden protestieren laut Umfragen zum ersten Mal in ihrem Leben, und viele von ihnen sagen in Interviews Dinge wie: „Es geht mir nicht um Herrn Nawalny, aber diese Repression ist schrecklich.“ Oder: „Meine wirtschaftliche Lage wird immer schlimmer.“ Oder: „Ich lasse mich nicht länger bestehlen.“ 

Sorgen bereiten sollte der Macht vor allem auch die Entzauberung des „Zaren“: Mochten auch alle „da oben“ stehlen, er war der strenge und gütige Vater, der ordnete, in die Schranken wies und dem es um das Land und nicht um persönliche Reichtümer ging. Scheinbar. Mehr als 100 Millionen Menschen haben jenes YouTube-Video gesehen, in dem Alexei Nawalny und sein Team akribisch den Nachweis zu führen versuchen, dass auch „der Zar“ sich bereichert.

Das Internet hat über den Fernseher gesiegt, die Dmitry Kisseljows sprechen mehr und mehr nur noch zu den Getreuen. Noch kann man nicht sagen, dass auch der Kühlschrank über den Fernseher gesiegt hat, dass die wirtschaftliche Lage der Vielen so verzweifelt ist, dass sie ihre Angst überwinden vor Repression und Diffamierung, vor Verlust des Arbeitsplatzes oder Exmatrikulation. „Habt keine Angst!“ waren Alexey Nawalnys Abschiedsworte im Gerichtssaal. „Fürchtet Euch nicht!“ waren die elektrisierenden Worte, die Papst Johannes Paul II. 1978, den Messias zitierend, seinen Landsleuten zurief. Zehn Jahre später war die reform- und wandlungsunfähige Macht in Polen am Ende.

Alexei Nawalnys Mitstreiter haben entschieden, den Protest einstweilen nicht weiter zu eskalieren, sondern es auf dem politischen Wege, über Wahlen zu versuchen. Es darf bezweifelt werden, dass die Macht in einem Land sich davon beeindrucken lässt, in dem die Demokratie zur Farce verkommen ist. Doch am Ruder und an den Geldtöpfen bleiben können die jetzigen Machthaber nur, wenn sie auf die Bedürfnisse der Menschen eingehen, wenn sie fähig sind zu wirklichem Wandel.

Dass es dazu kommt, darf noch mehr bezweifelt werden als der mögliche Erfolg politischer Initiativen einer demokratischen Opposition. Der wahre Gegner des Systems ist nicht Alexei Nawalny, es ist das System selbst.

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