Jean-Luc Melénchon erscheint auf einer Wahlkampfveranstaltung als Hologramm / picture alliance

Politische (Partei-)Bewegungen in Europa - Alles anders und doch dem Abgrund entgegen?

Fünf-Sterne-Bewegung, Podemos oder Jean-Luc Mélenchon: Politische Anti-Parteien-Bewegungen versprechen überall in Europa mehr Basisdemokratie und Bürgernähe. Aber steckt mehr dahinter als Populismus und Anti-EU-Rhetorik?

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Fabian Blumberg ist Referent Parteien und Beteiligung der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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Alles anders machen, am besten radikal anders – das ist der Eindruck, den politische „Bewegungen“ seit jeher vermitteln wollen. Frisch, an Gegenwart und Zukunft ausgerichtet, echt basisdemokratisch und offen für Gestalter: das Gegenmodell zur sogenannten Elite, zu behäbigen Parteien und ein Update für Soft- wie Hardware der Demokratie; für Inhalte wie Instrumente. Die selbst gewählten Bewertungskriterien: Schließen einer inhaltlichen Repräsentationslücke, (basis-)demokratisch und innovativ in den Strukturen wie den Inhalten und der Kommunikation, unkonventionelle Aktionsformen wie zugleich auch professionelle Politikmanagement-Methoden nutzend, auf Disruption statt inkrementelle Innovation setzend.

Bei aller Unterschiedlichkeit der Länderkontexte: Wut auf oder mindestens Unbehagen an Bestehendem ist immer zentrales Motiv des „Alles anders machen“-Wollen. In Tschechien etwa reüssierte seinerzeit (und für recht kurze Zeit) Pawel Kukiz, ein Rocksänger, als selbsternannter „Anti-System-Kandidat“. Andrej Babis’ ANO 2011 trägt den Unmut und die Kritik an „der Eilte“ schon im Namen: „Aktion unzufriedener Bürger”. 

Jean-Luc Mélenchon wetterte ebenso gegen „Oligarchie” und „Kaste” wie sein seinerzeitiges spanisches Vorbild Podemos. „La casta”: Das war angesichts von Finanzkrise und Jugendarbeitslosigkeit das Feindbild der „Empörten”, die sich 2011 in Madrid erstmals trafen und dort sowie in weiteren Städten Spaniens über Wochen campierten. Beinahe wortgleich wendete sich „Movimento 5 Stelle“ in Italien gegen Finanzskandale, intransparentes Parteien- und Politikgebaren.

Fünf-Sterne-Bewegung als Paradebeispiel intransparenter Entscheidungen

Das Mehr an Demokratie sollte im spanischen Fall durch internetbasierte Debatten- und Abstimmungsverfahren sowie „Círculos“ (Arbeitskreise) eingelöst werden. Im italienischen Fall wollte das Movimento (die Fünf Sterne) ein Bündnis lokaler Gruppen sein, es kam aber ein noch stärkerer Glaube an die Möglichkeiten des Internets hinzu (z.B. mit Online-Urwahlen und -Abstimmungen) und dem weitgehenden Verzicht auf Infrastrukturen. Die erste digitale Partei der Welt: Das sei die Fünf-Sterne-Bewegung. Allerdings galten die Online-Abstimmungen der Fünf Sterne bald als Paradebeispiel intransparenter Entscheidungen. 

Mit einem System eines Mailänder Unternehmers, dem ein ausgesprochen großer Einfluss auf die Geschicke der Bewegung und enge Verbindungen zur Führungsriege der Fünf Sterne nachgesagt wurden. Davon abgesehen nahmen die Abstimmungen im Internet eher den Charakter reiner Bestätigungsabstimmungen für das Führungspersonal der Bewegung an. Dabei sollte sich die neuartige Entscheidungsfindung auf Personal wie Programmatik erstrecken. 

Programmatische Beliebigkeit

Programmatische Schärfe ging damit jedoch nicht immer einher. Fünf Sterne beispielsweise gaben sich inhaltlich postideologisch; hatten sowohl für ganz links, für die Mitte und für ganz rechts etwas im Programm. Häufig positionierten sich die Bewegungen EU- und eurokritisch und sozioökonomisch eher links. Auf den einen inhaltlichen Nenner lassen sich die Bewegungen jedoch nicht bringen. Sie blieben oft uneindeutig. 

Das lässt sich auch darauf zurückführen, dass die Gründer und Führer der Bewegungen häufig eine auf sich zugeschnittene Formation im Sinn hatten und ein taktisches Verhältnis zu Programmatik pflegten. Zugleich gab man sich kompromisslos. Beide Elemente – tendenziell programmatische Beliebigkeit bei gleichzeitig rhetorischer, ideologischer Hartleibigkeit und Kompromissverweigerung – tragen ihren Teil dazu bei, dass Bewegungen kommen – und gehen.

Kompromisse gingen die Bewegungen bald ein, wenn es um Regierungsbeteiligungen ging. Fünf Sterne in ihrer Ursprungsversion lehnten Koalitionen nicht nur ab. Sie waren verboten. Mandate durften nur zweimal in Folge angenommen werden. Fünf Sterne kippten das Koalitionsverbot bald – und bildeten eine Regierungskoalition mit der Lega Matteo Salvinis, später mit dem sozialdemokratischen Partido Democratico. Podemos regierte und regiert mit anderen Parteien in Koalitionen. Mandatsbegrenzungen sollten fallen, Parteistrukturen klassischer Art wurden als doch eher sinnvoll erachtet. Kastengebaren und Täuschung, so die Vorwürfe der ernüchterten Anhänger.

Innerparteiliches Freund-Feind-Denken

Und das Basisdemokratische? Bewegung der Vielen statt One-Man-Show? Uneingelöst von Beginn an: In Spanien zentrierte sich Podemos um den „Mann mit dem Jesusgesicht” Iglesias, in Italien um den Komiker Beppe Grillo, in Tschechien war es der Rocker Kukiz, in Frankreich der Mann mit Dachdeckerjacke und der gereckten „Résistance”-Faust Jean-Luc Mélenchon, in Tschechien der „Ich werde nicht stehlen und nicht lügen”-Milliardär Babis. Die französische „La Republic en marche“ war eine Bewegung für Emmanuel Macron und hat bis heute Probleme, eine stabile Formation zu bilden.

Die Führungsrolle fiel den Genannten nicht einfach so zu. Sie errichteten aktiv auf sie zugeschnittene Gebilde, in denen ohne sie nichts ging und geht. Im Movimento des Beppe Grillo konnten Abgeordnete nicht einfach so Interviews geben oder nach ihrem Gewissen abstimmen, sondern nach Linie eben von Fünf Sterne (die immer auch jene von Beppe Grillo sein sollte). Pablo Iglesias, der Professor der marxistischen Theorie, der den „Empörten“ eine Stimme gab, der, wie auch Fünf Sterne, gegen die „Kaste“ agitierte, fing dann an, Podemos zu säubern, ein innerparteiliches Freund-Feind-Denken einzuführen, ein Klima der Angst gegenüber Journalisten zu erzeugen, und zog aus dem Madrider Arbeiterviertel in eine 600.000 Euro teure Villa mit Pool und 2000-Quadratmeter-Grundstück. 

 

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In eine Gegend, über die er früher sagte, dort bekomme man nicht mit, welche Probleme es überhaupt gebe bei den normalen Menschen. Heute wird das, was von Podemos übrig ist, von Iglesias‘ Lebensgefährtin geführt – wobei Iglesias weiter im Hintergrund wirken soll, wenn er nicht über Social Media aktive Politiker des linken Spektrums attackiert und beispielsweise daran erinnert, wer sie überhaupt zu Ministern gemacht habe.

Die Tonlage wie auch das Nicht-sein-lassen-Können erinnern an Beppe Grillo, der Fünf-Sterne-Parlamentarier, die nicht auf Linie waren, bedrohte, an Kritiker appellierte, doch ihr Mandat zurückzugeben, oder das italienische Parlament als „stinkendes Grab“ bezeichnete. Der die starken Männer der Fünf Sterne, Luigi Di Maio und Giuseppe Conte, selbst auswählte und öffentlich niedermachte, wenn sie sich anders verhielten als von Grillo gedacht. Autokratisches ließ sich auch in anderen Fällen beobachten. 

Vielerlei Korruptionsvorwürfe

Korruptionsvorwürfe richteten sich auch gegen Fünf-Sterne-Politiker. Im Fall von Jean-Luc Mélenchon und seiner Bewegung „Unbeugsames Frankreich“ wurde zur Finanzierung der Wahlkampagne und zur Bezahlung von Mitarbeitern mit zweckentfremdeten Geldern des Europaparlaments ermittelt. Mélenchons Wutausbruch anlässlich der Ermittlungen gipfelte in den Aussagen „Meine Person ist sakrosankt” und „Die Republik bin ich!”. 

Das Urteil lautete später: drei Monate Gefängnis auf Bewährung und 8000 Euro Geldstrafe wegen Rebellion, Provokation und Einschüchterung von Amtspersonen. Auch der Kopf der tschechischen ANO-Bewegung, Milliardär Babis, sah sich vielerlei Korruptionsvorwürfen, Ermittlungen, Prozessen, Skandalen gegenüber.

„Reine-Lehre-Dilemma”

Die grobe Vereinfachung in eine Welt, in der es „das gute Volk“, als deren Vertreter sich Bewegungen und ihre Führer sehen, und „die da oben“ gibt (womit die klassischste aller Populismusdefinition erfüllt ist), erwies sich recht häufig als Bumerang.

Und es lief nicht immer gut: das Umschalten von Protest auf Regierungsverantwortung, von der Forderung nach mehr Inputlegitimität zu echtem Regierungsoutput in beispielsweise sozioökonomischen Belangen. Enttäuschung stellt sich auch deshalb ein, weil Bewegungen über kurz oder lang in ein „Reine-Lehre-Dilemma” tappen. Entweder sie – bzw. ihre Führer – bleiben stur in ihren Inhalten (so z.B. Mélenchon, der mit seiner Weigerung, den terroristischen Angriff der Hamas auf Israel als solchen zu bezeichnen, und damit die Bewegung aufs Spiel setzt). Oder sie gehen, wie im spanischen Fall, Kompromisse ein und verprellen damit jene Anhänger, die dies nicht wollen. Kompromiss, Koalitionsfähigkeit und das Miteinander-Reden, was klassische Parteien der politischen Mitte charakterisiert und ihr gesamtgesellschaftlicher Auftrag ist, wird von Bewegungen abgelehnt bzw. nicht eingeübt.

Bewegungen haben eine Seismografen-Funktion

Sind die einstigen Bewegungen heute „nur“ Etablierte? Vehikel für durchsetzungsstarke Charismatiker ohne nennenswerten programmatischen Anspruch? Radikal anders als klassische Parteien scheinen sie vielerorts nicht. In manchen Fällen sind sie in der Todeszone der Politik; kämpfen ums Überleben oder mit sich selbst. Damit muss keine Trendumkehr der Parteiensystementwicklungen in Europa einhergehen. Fragmentierung, Pluralisierung, die (mindestens gefühlte) Polarisierung sind auf einem hohen Niveau in den europäischen Parteiensystemen – mit Folgen für Stabilität, Regierbarkeit, Debattentemperatur. 

Und auch weiterhin lässt sich das Aufkommen auch neuer „Bewegungen“ beobachten. Aktuell beispielsweise mit der BauernBürgerBewegung in den Niederlanden, die den Unmut gegenüber einer als abgehoben empfundenen Politikelite repräsentiert. 

Und erinnert nicht auch das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ an eine „Bewegung“? Ja. Und nein. Die Benennung einer neuen politischen Entität nach einer Person gab es so nie in Deutschland und ist auch im europäischen Vergleich eher ungewöhnlich. Und sicher soll hier (á la AfD) Unmut, Wut, auch Hass eingesammelt und zur politischen Mobilisierung vernutzt werden. Auch programmatisch erinnert das, was aktuell über den Verein, der zu einer Partei werden soll, bekannt ist, in der relativen Unbestimmtheit und dem rhetorischen Zug in die Mitte (Akzent auf Mittelstand, Zukunftstechnologien gegen den Klimawandel etc.) an andere Bewegungen. Aber schon jetzt ist klar, dass hier eben eine Partei aufgebaut wird – keine Bewegung.

Für politische Systeme und Akteure der politischen Mitte ergeben sich Bedeutung und Wert von Bewegungen nicht zuletzt aus ihrer Seismografen-Funktion: Sie zeigen an, wo es inhaltliche Lücken politisch zu adressieren gilt. Damit können sie einen Beitrag zum Gelingen von Demokratie leisten. Sie können aber auch ein Zeichen der Gefährdung von Demokratie sein bzw. setzen, wenn sich damit Kompromissverweigerung und Radikalität in Demokratien einschleichen.

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Henri Lassalle | Fr., 1. Dezember 2023 - 16:23

richtungsweisende, realistischen politische Wege vor. Er polemisiert viel und heftig, liefert aber der Le Pen-Partei dabei reichlich Wahlkampfmunition. Zuweilen hat man den Eindruck, der Mann ist mental noch in der 68iger Epoche und will die neueren Entwicklungen nicht wahrhaben. Denn die gesamte Gesellschaft Frankreichs, querbeet durch alle Gesellschaftsschichten, dreht sich nach rechts. Die Linken Gruppen und Parteien wirken irgendwie aus der Zeit gefallen, anachronistisch. Auch deswegen reagiert Mélenchon wohl so aggressiv und radikal.
Man sollte aber nicht übersehen, dass eine rechtsnationale Partei vor den gleichen Problemen stehen wird wie eine andere. Den Problemen ist es egal wer regiert. Aber so wie jetzt kann es nicht weitergehen, Macron schafft und bringt es nicht, er ist politisch geschwächt. Le Pen hat inzwischen durchaus ein "profil présidentiel" erworben; aus heutiger Sicht stehen ihre Chances gut.

Jens Böhme | Fr., 1. Dezember 2023 - 16:58

Wenn die neuen politischen Strömungen und Parteien erfolgreich genug Wähler haben, sollten Bürger sich nicht foppen lassen und diese nicht wählen. Das Leben, die Entwicklung, der Wandel findet mit Hilfe der Bevölkerung immer einen Weg aus politischer Weltuntergangsstimmung. Man schaue auf den ukrainischen Selenskyi, der als gewählter Schauspieler einen unabhängigen Staat vor der Gefahr der russischen Assimilierung durch militärische Vereinnahmung zusammenhält und verteidigt. Obwohl er 2016 in einer Parodie gesagt hat, dass die Ukraine „eine Schauspielerin eines deutschen Films für Erwachsene“ sei und „bereit ist, jede beliebige Nummer auf einer beliebigen Seite zu akzeptieren“.

Enka Hein | Fr., 1. Dezember 2023 - 18:11

...will mir einen stinkenden Fisch der Altparteien verkaufen, indem er unterstellt das der Fisch der anderen Anti-Parteien noch mehr stinkt.
Und dann wird der Kunde/Wähler noch diffamiert, weil er aus "Unmut, Wut, auch Hass", sich einen anderen Fischhändler namens AFDix sucht, der einfach frische Ware anbietet.
Besser wäre ein Bericht über
Kannix (Robert), Grinsix (Olaf), Plapperline (Lenchen) oder Desasterine (Nancy).
Fehlt nur noch die Bitte doch die CDU zu wählen.
Ist wieder Black Friday. Jeder Text muss raus, alles zum halben Preis.

Bernhard Marquardt | Fr., 1. Dezember 2023 - 18:31

einleuchtend, dass dem Referenten der Adenauer-Stiftung kein Wort darüber aus der Feder kommt, dass ausgerechnet eine der Kanzlerin hündisch getreue CDU mehr als genügend Anteil an den derzeitigen Verhältnissen in Deutschland hat.
Die Merkel-Regierung hat ohne Sinn und Ziel (außer dem eigenen Machterhalt) ausschließlich von der Substanz gelebt, bis eben, ja bis nur ein an allen Ecken und Enden zerrüttetes Land übrig blieb.
Ihre Ziele hat bis zum derzeitigen finanziellen Fiasko lediglich die Scholz-SPD durchgesetzt.
Und in der "Ampel" die Grünen.
Die schlechte Regentschaft seit Angela Merkels Antritt hat der AfD die Wähler zugetrieben, nicht ein ominöser Zeitgeist.
Aber dieses Eingeständnis fehlt den Verantwortlichen in der Union bis heute.
Schuld sind immer Andere.
Und deshalb fehlt einen großen Teil der Bevölkerung jegliches Zutrauen zu den heutigen Sprücheklopfern der Union.
Und die FDP?
Was ist flüssiger als Wasser?
Diese FDP, die ist schlichtweg überflüssig.