Von der Leyens Rede zur Lage der Union - Der Besuch der neuen Dame

In ihrer ersten Rede zur Lage der Europäischen Union wird Ursula von der Leyen deutlich. Aber ob Verschuldung, Mindestlohn und Klimaschutz zu Aufschwung, Wohlstand und digital goldener Zukunft führen, ist ungewiss. Was die EU braucht, ist Einigkeit – doch an der fehlt es.

Ursula von der Leyens erste Rede zur Lage der Europäischen Union / dpa
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Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Ein Intensivpatient namens Europa ist heute erstmals in den Genuss einer Visite seiner Chefärztin gekommen. In ihrer ersten Rede zur Lage der Europäischen Union präsentierte die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor dem Europäischen Parlament in rund anderthalb Stunden ihre möglichen Behandlungsmethoden. Von Corona über Klima, Digitalisierung und Brexit bis hin zu schwerwiegenderen geopolitischen Herausforderungen, etwa mit China, Russland, der Türkei und den USA.

Insbesondere die Vertreter der extremen Rechten im Europaparlament werteten diesen Besuch der neuen Dame ganz im Dürrenmatt'schen Sinn als einen Rachefeldzug mit dem Ziel reiner Zerstörung. Ob Migration, Klima oder Corona: alle Rezepte von der Leyens – ob Aufnahme von Flüchtlingen, CO2-Steuern oder Schuldenaufnahmen – würden Europa unweigerlich den Weg von der Intensivstation ins Hospiz weisen, so jedenfalls der Eindruck, blickt man ausschließlich in diese Ecke des Europaparlaments.

Nun ist Ursula von der Leyen längst keine praktizierende Ärztin mehr und mit vermeintlichen Rachefeldzügen gegen die Gemeinschaft hat sie vermutlich auch nicht viel am Hut. Dennoch ist nicht ausgemacht, ob ihre Programme den EU-Patienten wirklich bald gesunden lassen. So konkret die deutsche Kommissionspräsidentin an einigen Stellen wurde, so rosa-wolkig wie ihr Blazer blieb sie in weiten Teilen ihrer Rede, die vor allem von einem zuversichtlichen Geist geprägt war. So betonte sie im Anschluss an ihre Rede, als sie sich der Kritik der Fraktionsvorsitzenden stellte, dass sie und ihr Handeln von Hoffnung geprägt seien. „Ich teile nicht den düsteren Blick“, stattdessen sei sie Optimistin. Nun ist Hoffnung kein falscher Ratgeber, aber er muss auch von Handeln geprägt sein. Auch ein Optimist kann enttäuscht werden, wenn er zu passiv bleibt und die Realität ihn aktiv einholt.

„Jobs, Jobs, Jobs“

Und so gab ausgerechnet derjenige, der eigentlich gerne dort am Rednerpult als EU-Kommissionspräsident gestanden hätte, einen Geschmack auf die Realität, an der sich Ursula von der Leyen und ihre Kommission werden messen lassen müssen. „Jobs, Jobs, Jobs“, rief Manfred Weber, einst Spitzenkandidat und jetzt immerhin noch Fraktionsvorsitzender der konservativen EVP-Familie im Parlament. Während von der Leyen in ihrer Rede vor allem betonen wollte, dass dank der europaweit und teils EU-koordinierten Kurzarbeitsprogramme viel weniger Arbeitslose als anderswo auf der Welt zu finden seien, machte Weber klar, wie prekär die Lage insbesondere des Mittelstandes in Europa bereits jetzt ist – und vor allem wie desolat sie noch zu werden droht.

„Die soziale Marktwirtschaft ist vor allem eine Wirtschaft für den Menschen, die vor den großen Risiken des Lebens schützt – wie Krankheit, Unglück, Arbeitslosigkeit oder Armut. Sie garantiert Stabilität und hilft, Schocks besser abzufedern. Sie fördert Innovation, Wachstum und fairen Wettbewerb und eröffnet Chancen und schafft Wohlstand“, sagte von der Leyen. Es waren jene Passagen ihrer Rede, bei denen man den Eindruck gewinnen konnte, hier spreche nicht die Chefärztin, sondern die Pressesprecherin des Krankenhauses. Denn allein die Jugendarbeitslosigkeit betrug im Juli 2020 in Spanien rund 42 Prozent, in Griechenland 38 Prozent, in Italien 31 Prozent. Aber auch in Schweden, Portugal und Luxemburg zwischen 26 und 28 Prozent.

Mindestlohn und Druck bei Klimazielen

Aber von der Leyen wurde auch konkret: Einen europäischen Standard für Mindestlöhne will sie erarbeiten, der beides – gesetzliche Mindestlöhne und Tarifregelungen – berücksichtigen soll. Wie schon Tage zuvor kolportiert worden war, „schlägt die Europäische Kommission nun vor, die Zielvorgabe für das Einsparen der Emissionen bis 2030 auf mindestens 55 Prozent anzuheben.“ Sie wisse, dass diese Erhöhung des Einsparziels von 40 auf 55 Prozent für manche zu viel sei, und für andere zu gering. „Aber unsere Folgenabschätzung hat eindeutig ergeben, dass unsere Wirtschaft und Industrie dies bewältigen können.“ 170 Führungskräfte und Investoren hätten ihr geschrieben – darunter seien kleinere Firmen und einige der größten Unternehmen der Welt gewesen. Diese hätten sie aufgefordert, ein Reduktionsziel von mindestens 55 Prozent vorzugeben. Längst nicht alle Teile der deutschen Automobilindustrie dürften unterschrieben haben.

Und dann folgte ein Satz, der an das verunglückte Versprechen des deutschen Wirtschaftsministers Peter Altmaier erinnerte: „Wir haben ein festes Versprechen, dass dabei niemand zurückgelassen wird.“ Mit einem Fonds „für einen gerechten Übergang“ werde man jene Regionen unterstützen, „für die die Anpassung aufwändiger und teurer wird.“ Es könnten Regionen darunter sein, die als Armutsstandorte bislang unverdächtig schienen, die dann aber auch Stuttgart, Wolfsburg oder München heißen. Es ist ein Satz, an dem man sie nun messen muss. Denn ihr „Green New Deal“ ist ähnlich ambitioniert wie ihr Verschuldungsplan „Next Generation Europe“. Von der Leyen wollte diesen jedoch viel eher als Investitionsplan verstanden wissen. „Deshalb werden wir 20 Prozent von NextGenerationEU in Digitaltechnik investieren“, sagte sie in jenem Teil ihrer weitgehend auf Englisch gehaltenen Rede, in dem sie ins Deutsche wechselte.

Hoffen auf die „Digital Decade“

Tatsächlich wollte von der Leyen offenbar ihre Klimax, welche die Digitalisierung und die dazugehörigen Technologien ansprach, auf Deutsch vortragen – oder sagen wir auf Denglish: „Das kommende Jahrzehnt muss Europas „Digital Decade“ sein“, verkündete sie mit Verve. Wohlwissend, dass Europa hier nach wie vor vieles verschläft, insbesondere die Politik. „Industriedaten sind Gold wert, wenn es darum geht, neue Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln“, sagte sie. Diesen Schatz müsse man endlich heben und ihn nicht wie bei der persönlichen Daten den Amerikaner und Chinesen überlassen.

Unternehmen in der EU gibt es dafür längst, aber die Regulierung hinkt hinterher. Von der Leyen kündigte an, die Kommission werde „demnächst eine sichere europäische digitale Identität“ vorschlagen. Diese solle eine sein, der die Bürgerinnen und Bürger vertrauen können und „überall in Europa nutzen können, um alles zu tun, vom Steuern zahlen bis hin zum Fahrrad mieten“. Man darf gespannt sein – gerade in Berliner Bürgerämtern.

Sätze für den Applaus

Stilistisch war die erste Rede der EU-Kommissionspräsidentin eine mit Sätzen, die hängen bleiben können. „Die Rettung von Menschen in Seenot ist keine Option, sondern Pflicht“, war einer dieser Sätze. Doch man fragt sich, weshalb es dann noch immer private Seenotrettung braucht, damit keine Menschen im Mittelmeer ertrinken. Wo ist hier die Europäische Union?

Auch ihr Zitat von Margaret Thatcher, dass sie unmissverständlich an den britischen Premierminister Boris Johnson schickte, machte Eindruck in der Corona-bedingt ausgedünnten Parlamentsrunde. Es lautete: „Großbritannien bricht keine Verträge. Es wäre schlecht für Großbritannien, schlecht für unsere Beziehungen zum Rest der Welt und schlecht für jeden künftigen Handelsvertrag.“ Vertrauen sei das Fundament einer starken Partnerschaft, sagte von der Leyen. Nur, was tun, wenn man auf der Insel stur bleibt?

Hinsichtlich sogenannter LGBTI-freier Zonen in Polen sagte sie: „Man selbst zu sein, ist keine Frage der Ideologie. Es ist eine Frage der Identität. Und die kann einem niemand nehmen.“ Hier gab es den wohl längsten Applaus. Aber wie soll die Frage nach Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit in Staaten sanktioniert werden, wenn dafür im Rat noch immer das Einstimmigkeitsprinzip gilt?

Flehen um Einigkeit

„Fasst Euch ein Herz und erlaubt Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit – zumindest bei Menschenrechtsverletzungen und Sanktionen!“, rief von der Leyen. Es ist der ewige gordische Knoten der EU – sollte von der Leyen diesen ausgehend von ihrem Flehen tatsächlich zerschlagen, würde diese Rede wohl wirklich eine für die Geschichtsbücher sein.

So bleibt ihr erstes „State of the European Union“ ein kosmopolitisches Bekenntnis, das in den emotionalen und philosophischen Passagen am Anfang und am Ende in fließendem Französisch vorgetragen wurde. Ursula von der Leyen will den Multilateralismus, die WHO und die WTO, reformieren. Doch sie weiß, dass dies Zeit braucht und womöglich andere Staatenlenker als Donald Trump, Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdoğan oder Xi Jingping.

Der Herbst wird vieles zeigen

So sehr die Kommissionspräsidentin gerade im letzten Teil ihrer Rede auf die geopolitischen Herausforderungen mit diesen Staaten einging, den Nahen Osten und Nordafrika ließ sie einfach aus. Dabei läge genau dort das Handlungsfeld der sogenannten Fluchtursachenbekämpfung. Immerhin erwähnte sie ihre erste Reise zur Afrikanischen Union. Afrika werde „ein entscheidender Bündnispartner bei unserem Vorhaben sein, die Welt von morgen zu gestalten“, sagte sie, „ob im Bereich Klima, Digitales oder Handel“.

Im Herbst, wenn neue Corona- und womöglich Pleitewellen kommen, wird sich zeigen, wie gut Ursula von der Leyen mit ihrer Kommission wirklich aufgestellt ist – oder ob dann erneut nationalstaatliches Handeln gewinnt. Für die Kommissionspräsidentin ist die Corona-Pandemie damit Risiko und Chance zugleich – und man kann sich wohl sicher sein: Auch sie will, dass der Patient Europa überlebt. Doch es liegt am Ende eben nicht immer nur in der Hand der Ärzte. Auch die Angehörigen haben ein Wort mitzureden.

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