Staatsverschuldung in Deutschland - Die schwarze Null verteidigen

Während Olaf Scholz weiter an der schwarzen Null festhält, versuchen seine innerparteilichen Gegner die Staatsverschuldung anzukurbeln. Das wäre ökonomisch vernünftig. Doch das heißt nicht, dass neue Verschuldung auch politisch klug ist

Olaf Scholz muss seine Politik der schwarzen Null gegen immer mehr Kritiker verteidigen / picture alliance
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Olaf Scholz ist dieser Tage wahrlich nicht zu beneiden. Als Kandidat für den SPD-Vorsitz muss er sich nicht nur für die Folgen der großen Koalition verteidigen, sondern vor allem Angriffe auf seine Haushaltspolitik abwehren. Während seine innerparteilichen Gegner am liebsten die Schleusen öffnen und die Staatsverschuldung wieder ankurbeln würden, hält Scholz unbeirrt an der schwarzen Null fest. Und das aus gutem Grund, obwohl sie ökonomisch völlig unvernünftig ist.

Es ist schon erstaunlich, welche Mythen über die deutsche Schuldenbremse im Umlauf sind. Das Grundgesetz müsse endlich geändert werden, um den Staat durch die Möglichkeit der Verschuldung finanziell wieder handlungsfähig zu machen, heißt es. Dabei ist die Situation eine ganz andere. Ein Blick ins Grundgesetz erleichtert die Rechtsfindung. 

Hintertürchen im Grundgesetz

Das Grundgesetz normiert zwar in Artikel 109, dass die Haushalte „grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen“ sind, aber eben nur grundsätzlich. Es bestehen selbstverständlich Ausnahmen, zum Beispiel bei konjunkturellen Einbrüchen und Notsituationen, auf die der Staat keinen Einfluss hat. In beiden Fällen muss der Staat allerdings anschließend die neu aufgenommenen Schulden wieder zurückführen.

Aber das ist gar nicht der entscheidende Punkt. Das Grundgesetz bietet nämlich ein weiteres Hintertürchen. Verschuldet sich der Bund auch ohne Notsituation oder Konjunkturflaute jährlich mit nicht mehr als 0,35 Prozent des BIP zusätzlich, gilt das Verschuldungsverbot als erfüllt. Mit anderen Worten: Die Strategie der schwarzen Null, also der Verzicht auf Schuldenaufnahmen in Normalzeiten, ist sogar eine politische Verschärfung dessen, was das Grundgesetz eigentlich vorschreibt.

Ausgeglichene Verschuldung

Rechnen wir durch, was das bedeutet: Das deutsche Bruttoinlandsprodukt beträgt rund 3,4 Billionen Euro. Folglich dürfte sich der Bund bei ausgeglichenem Haushalt jedes Jahr um rund 12 Mrd. Euro neu verschulden, ohne die Schuldenbremse zu verletzen. Von diesem Kreditrahmen sind jedoch noch weitere Positionen abzusetzen, wie beispielsweise Sondereinnahmen aus Privatisierungen. Es bleibt somit langfristig ein jährlich zur Verfügung stehender Verschuldungsspielraum von rund 10 Mrd. Euro.

Und diese Zahlen haben eine innere Logik: Da der Bundeshaushalt im Jahr 2020 ein Volumen von rund 360 Mrd. Euro aufweist, bliebe bei einer Nettoneuverschuldung von 10 Mrd. Euro und einem nominalen Wirtschaftswachstum von annähernd drei Prozent das Verhältnis von Staatsschulden und Wirtschaftsleistung (Schuldenstandsquote) konstant. Anders gesagt: Der Staat würde seine wirtschaftliche Situation nicht verschlechtern, wenn er sich immer nur in dem Umfang zusätzlich verschulden würde, wie die Wirtschaft wächst.

Volkswirte in der Minderheit

Das Grundgesetz gewährt also einen deutlich größeren Handlungsspielraum, als der Bund derzeit ausnutzt. Das ist – rein ökonomisch betrachtet – ein ziemlicher Irrsinn. Er kann derzeit selbst bei Krediten mit einer Laufzeit von 10 oder 20 Jahren nicht selten annähernd Null-Zinsen, teilweise sogar negative Zinsen durchsetzen. Wann, wenn nicht jetzt, sollte der Staat also in die Vollen gehen und die wirtschaftlich relevante Infrastruktur modernisieren, quasi für lau? Für jedes Unternehmen wäre das eine Selbstverständlichkeit. Die Investitionen würden Wachstum auslösen und dieses Wachstum höhere Steuereinnahmen zur Folge haben, aus denen sich Zins und Tilgung spielend bedienen ließen.

Aber genau da liegt das Problem: Der Staat ist eben kein Unternehmen, in dem die Anteilseigner ein gleichgerichtetes Ziel verfolgen, nämlich die Maximierung des Profits. Der Staat wird vielmehr von völlig unterschiedlichen Interessengruppen belagert. Diese verschaffen sich über die Parteien und Fraktionen Geltung. Und in denen sind die Volkswirte, die eine strategische Investitionspolitik verfolgen, keinesfalls in der Mehrheit. Sieht man sich die Bundeshaushalte der vergangenen Jahre an, so ist von einer intensiven Belebung der Investitionstätigkeit ziemlich wenig zu spüren. Stattdessen werden vor allem „Wohltaten“ verteilt und konsumtive Ausgaben in die Höhe getrieben. Höchst unwahrscheinlich also, dass in diesem Umfeld bei Preisgabe der schwarzen Null tatsächlich in die Zukunft des Landes investiert würde. Dafür sind die Verlockungen viel zu groß. Stattdessen würde eher die Büchse der Pandora geöffnet.

Ungerechte Steuerbelastung

Und es wäre, ehrlich betrachtet, auch ein bisschen paradox. Worüber nämlich höchst ungern gesprochen wird: In Wahrheit erhöht sich Jahr für Jahr die Steuerbelastung der Bürger ganz wie von selbst. Man nennt das die „kalte Progression“. Da die Einkommensgrenzen, ab denen ein bestimmter Steuersatz fällig wird, nicht Jahr für Jahr mit den Lohnzuwächsen angepasst werden, gleiten die Lohnabhängigen wie von selbst in eine höhere Steuerbelastung. Deutlich wird dies unter anderem an der Steuerquote, also dem Anteil der Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden in Prozent der Wirtschaftsleistung. Während sie im Jahr 2005 noch bei unter 20 Prozent lag, hat sie heute einen Wert von rund 23 Prozent erreicht. Was den Staat freut, ist allerdings sozial höchst ungerecht, weil die relative Steuerbelastung von Geringverdienern deutlich schneller steigt als die von Spitzenverdienern.

Allein durch die kalte Progression in Verbindung mit einem Langzeitkonjunkturhoch verfügt der Bund über vergleichsweise üppig gefüllte Kassen. Gäbe es einen ernsthaften politischen Willen, Deutschland durch strategische Zukunftsinvestitionen fit für das nächste Jahrzehnt zu machen, hätte dies längst geschehen können. Und so lange dieser Wille nicht erkennbar ist, tut Olaf Scholz gut daran, an der schwarzen Null festzuhalten. Nicht alles, was ökonomisch vernünftig ist, ist auch politisch klug. Klingt paradox? Ist aber so!

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