Software für Volkswagen - Das codende Klassenzimmer

Um den Software-Vorsprung von Tesla zu verkürzen, investiert Volkswagen in eine Schule für Programmierer. Warum Max Senges sie leiten soll und warum Friedrich Schiller dabei relevant ist.

Max Senges: Coder und Philosoph / Antje Berghäuser
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Ob Volkswagen Max Senges auch wegen seines alten Holzschranks dazu ausgewählt hat, die technologische Know-how-Lücke zum Elektropionier und Konkurrenten Tesla zu schließen? Indirekt, vielleicht, zumindest in Bezug auf die Ausbildung des künftigen VW-Fachpersonals. Das riesige braune Teil, ein Erbstück, das auch in einer Verfilmung von Thomas Manns „Buddenbrooks“ hätte stehen können, fällt jedenfalls gleich auf bei einem coronabedingt virtuellen Besuch in seiner Wohnung, direkt am Berliner Tempelhofer Feld.

Dort sitzt der 42-Jährige vor seinem Laptop und erinnert äußerlich ein bisschen an den Fußballtrainer Jürgen Klopp – strubbelige blonde Haare, Vier-oder-Fünf-Tage-Bart, Brille. Er trägt einen schwarzen Kapuzenpulli, wie es sich für einen klischeehaften Nerd gehört. Wer mit Senges spricht, merkt schnell, dass diese äußerliche Symbiose aus „alter“ und „neuer“ Welt sich in seinem Denken widerspiegelt, wie wohl nur bei wenigen. Es kann durchaus passieren, dass er zuerst über „mobility ecosystems“ und dann kurz darauf plötzlich über Friedrich Schiller redet.

„Gerade habe ich 205 iMac-Computer bestellt“

Als Max Senges 1995 für ein Austauschjahr in Kanada weilte, kam gerade Netscape heraus, dieser Browser, der das Internet quasi massentauglich machte. „Da war mir sofort klar: Das ist die epochale Chance meines Lebens“, so erinnert er sich heute. Fortan trieb er sich als digitaler Nomade in aller Welt herum, immer an den Schnittstellen zwischen Internet, Wissen und Politik. Er schrieb seine Doktorarbeit in Barcelona, forschte in Stanford, gründete zwei Start-ups, arbeitete für die Vereinten Nationen und zuletzt zehn Jahre lang für Google. 

Es überrascht also nicht wirklich, dass ein deutscher Großkonzern wie VW auf jemanden wie Max Senges kommt, wenn es darum geht, eine Schule für Programmierer auf die Straße zu bringen. Ab Februar 2021 sollen 150 Studenten in die bisher weitgehend ungenutzte Markthalle in Wolfsburg einziehen. Wie wichtig das Projekt für VW ist, verdeutlicht die Investitionssumme: 3,7 Millionen Euro im ersten Jahr, zwei Millionen in den Folgejahren. „Gerade habe ich 205 iMac-Computer bestellt“, sagt Senges und wirkt dabei selbst noch ein bisschen erstaunt über die Dimensionen des Projekts. 

Autos um Software herum bauen

Um zu verstehen, warum VW jetzt Programmierer ausbilden will, muss man sich nur einmal in einen Tesla setzen. In den amerikanischen Autos von Elon Musk ist die Software nicht nur eine nette Spielerei, sondern integraler Bestandteil. Anders als bei herkömmlichen Autos wird bei Tesla alles um die Informationstechnologien herumgebaut – und nicht umgekehrt. Die deutschen Hersteller haben erkannt, dass sie dagegen mit ihrer Ingenieurskunst noch weit zurückliegen, zumal Elektromotoren, einfach gesagt, im Grunde jeder bauen kann. So will VW den Anteil von Eigensoftware in seinen Modellen von 10 auf 60 Prozent erhöhen. Das bedeutet eine Transformation des gesamten Unternehmens, und dafür braucht man viele fähige Softwareleute.

Zum Glück für Volkswagen gibt es dafür bereits eine Blaupause. Die Schule soll der erste deutsche Ableger der sogenannten „42“-Schulen werden, die der Internetunternehmer Xavier Niel, mittlerweile einer der reichsten Franzosen, 2013 gründete. Der Name ist eine Hommage an das Buch „Per Anhalter durch die Galaxis“ von Nerd-Gott Douglas Adams. Das Besondere: Jeder kann sich dort bewerben, Abschlüsse sind nicht erforderlich. Dafür gilt es, einen Online-­Test zu bestehen und dann ein vierwöchiges Auswahlprogramm namens „Piscine“ (Schwimmbecken). Wer sich dort freigeschwommen hat, soll weitgehend selbstständig, angeleitet von Mentoren aus der Praxis die „Codes der Zukunft mitschreiben“, wie die Schule sich selbst werbewirksam beschreibt.

Wieder ganz bei Schiller

Der deutsche Schuldirektor Max Senges pocht auf Unabhängigkeit. „Natürlich gibt es das Interesse von VW, die Ausbildung von Softwareleuten zu beflügeln“, sagt er, „aber wir sind keine VW-Tochter.“ Die Schule soll sich im Sinn ihres Geistes ganz nach dem Interesse der Studenten richten, sie sollen bestimmen, was sie wann, wie und wo lernen wollen – und auch, wo es sie nach dem Abschluss hinzieht. Vielleicht ja durch die ganze Welt wie ihn, der heute als zweifacher Familienvater aber auch ganz froh ist, einen vorläufigen Fixpunkt gefunden zu haben. Die Selbstbestimmtheit aber war für ihn stets entscheidend, und das will er auch seinen Studenten vermitteln. Im Herzen sei er „stets Philosoph“ geblieben, und darauf zu achten, dass es im Beruf und im Leben mehr als um nackte Zahlen geht, das könne in Deutschland womöglich einfacher sein als bei den mitunter arg pragmatischen Amerikanern. „Mir geht es um die Ausbildung der Erhabenheit des Characters“, sagt Senges. Womit wir wieder bei Schiller wären. 

Dieser Text stammt aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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