Russischer Corona-Impfstoff - „Wir werden mehrere Impfstoffe brauchen"

Russland hat den ersten Impfstoff gegen das Coronavirus zugelassen – ohne dabei international anerkannte Standards für klinische Testverfahren zu berücksichtigen. Virologen haben daher erhebliche Zweifel an der Wirksamkeit und Sicherheit von „Sputnik V".

Russland hat nun den ersten Corona-Impfstoff zugelassen / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Johanna Jürgens hospitiert bei Cicero. Sie studiert Publizistik und Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Zuvor arbeitete sie als Redaktionsassistenz beim Inforadio des RBB.

So erreichen Sie Johanna Jürgens:

Anzeige

Der Virologe Prof. Dr. Gerd Sutter von der Ludwig-Maximilians-Universität München forscht derzeit an einem Impfstoff gegen das Coronavirus. Er ist Mitarbeiter des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung und berichtet über die Impfstoffentwicklung. 

Herr Prof. Dr. Sutter, hat Sie die Nachricht aus dem Kreml überrascht? Oder wurde Russland bereits als Vorreiter in der Impfstoffentwicklung gehandelt?
Ich muss sagen, das war schon eine große Überraschung. Der Impfstoff ist ja auch gar nicht so weit getestet worden, dass man unter normalen Gepflogenheiten schon mit einer Zulassung gerechnet hätte. 

Was halten Sie denn von dem Vorgehen der Russen, einen Impfstoff zuzulassen, der noch nicht alle Testphasen durchlaufen hat?
Aus meiner Sicht ist das tatsächlich problematisch, schon allein, weil das nicht den internationalen Standards entspricht. Das hat schon seinen guten Grund, dass man drei Testphasen bei der Impfstoffentwicklung durchläuft. Die erste liefert die ersten Hinweise auf Sicherheit und Qualität, danach geht es darum, eine geeignete Dosis zu finden. Und eigentlich ist genau diese dritte Phase extrem wichtig, gerade auf die kann man aus meiner Sicht nicht verzichten. 

Was genau ist denn der Erkenntnisgewinn in dieser dritten Phase? Warum könnte man nicht aufgrund der Dringlichkeit sagen, man verzichtet auf die letzten Tests?
Die dritte Phase ist zum einen sehr wichtig, und das steht im Moment im Vordergrund, weil man da die Evidenz für die klinische Wirksamkeit von einem Impfstoff als biomedizinischem Arzneimittel gewinnt. Hier werden in der Regel auch erstmals genug Probanden getestet, um überhaupt das Nebenwirkungsprofil adäquat einschätzen zu können und damit sicherzustellen, dass man zumindest häufiger auftretende Probleme dann auch ausschließen kann. 

Klaus Reinhardt, der Präsident der Bundesärztekammer, nannte die Zulassung des Impfstoffs „ein hochriskantes Experiment am Menschen“. Wie schätzen sie das Nutzen-Risiko-Verhältnis von „Sputnik V“ ein?
Das ist in der Tat so, dass ein Impfstoff ohne Daten aus dieser dritten Phase, in der man mindestens 3.000 bis 4.000 Probanden testet, einen sehr experimentellen Charakter hat. Auch wenn wir die in Russland eingesetzte Impfstofftechnologie grundsätzlich einschätzen können, so kann man auf die fehlenden Daten aus der dritten Phase nicht verzichten. Es gibt immer Besonderheiten beim Einsatz eines neuen Antigens oder in der Produktion des Impfstoffes, die eine solche Prüfung notwendig machen.

Prof. Dr. Gerd Sutter

Sind Abkürzungen in der Impfstoffentwicklung denn prinzipiell möglich? Wenn ja, unter welchen Voraussetzungen? 
Grundsätzlich sind solche Abkürzungen in bestimmten Fällen möglich, das haben auch viele Impfstoffentwickler jetzt bei Covid-19 gemacht. Man kann zum Beispiel auf Vorerfahrungen mit etablierten Impfstoffplattformen zurückgreifen, die einen bestimmten Brückenschlag erlauben durch Produktions- und Prüfprozesse, die schon eingeführt und bewährt sind. Das kann bestimmte Dinge beschleunigen. Das trifft insbesondere für die präklinische Qualitätskontrolle zu und erlaubt unter Umständen ein sehr schnelles Einführen eines Impfstoffes in die erste Testphase. Aber gerade bei der Phase drei ist das nicht möglich. Auch wenn es sich dabei um eine Wirksamkeitsprüfung handelt, gehen Abkürzungen dort vor allem auf Kosten der Sicherheit.

Der Leiter des Paul-Ehrlich-Instituts, Klaus Cichutek, kritisierte in den Tagesthemen besonders die fehlende Transparenz, da erste Daten zu „Sputnik V“ weder über die Medien noch über wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht wurden. Was könnte der Grund dafür sein? 
Da muss ich spekulieren. Ich könnte mir vorstellen, dass es einfach noch gar nicht so viele Daten gibt, die zu veröffentlichen wären. Wir wissen jedoch auch wenig über die epidemiologische Situation in Russland und können schlecht einschätzen, wie dringend das medizinische Problem dort schon ist. 

Hinter der Hauruck-Aktion der russischen Behörden könnte also auch ein medizinisches Motiv stecken?
Auch hier können wir nur spekulieren. Mir kommt es manchmal so vor, als würde man versuchen, einen Vorsprung anderer Länder jetzt nun schnell nochmal aufzuholen. Vielleicht in der Hoffnung, dass eine durch Impfstoffe erzielte Schutzwirkung – besonders gegen die schweren Krankheitsverläufe – dabei hilft, im Rennen zu bleiben.

Die Suche nach dem Impfstoff ist längst zum Politikum geworden. Bereits im März wollte sich die US-Regierung angeblich die Rechte an einem potentiellen Impfstoff der Tübinger Firma CureVac sichern. Die Zulassung Russlands schätzen einige Experten als populistische Maßnahme, als Prestigeprojekt ein. Ist es nicht auch von Vorteil, wenn die Impfstoffentwicklung zum Wettbewerb wird?
Das sehe ich auch so. Aus meiner Sicht werden wir mehrere Impfstoffe brauchen, um die große Nachfrage dann wirklich auch bedienen zu können. Meine Hoffnung wäre auch, dass wir möglichst sogar mehrere Impfstoffe zulassen können, die sozusagen aus Covid-19 eine Grippe machen, also die schweren Krankheitsverläufe verhindern. Dabei steht aber natürlich die Sicherheitstestung dieser Impfstoffe als unabdingbar ganz weit vorne. 

Was bedeutet die Zulassung des ersten Corona-Impfstoffes für hiesige Anstrengungen, eine marktfähige Vakzination zu entwickeln? Erhöht der russische Impfstoff den Druck auf deutsche Unternehmen, die an einem Impfstoff arbeiten?
Aus meiner Sicht sind da alle Impfstoffentwickler und Unternehmen gut beraten, sich gar nicht besonders unter Druck setzen zu lassen. Selbst wenn das in Russland jetzt ein zugelassener Impfstoff ist, für mich bleibt das nichts anderes als eine breite klinische Studie. Man wird hoffentlich dann auch irgendwann Daten erfahren. Was sicherlich bedenklich ist, ist das Risiko für die Impflinge, die dort involviert sind. 

Bei aller Bedenklichkeit der russischen „Experimente“ wird die Verabreichung des Impfstoffes in Russland dann nicht auch Erkenntnisse liefern, von denen andere Entwickler profitieren können?
Vielleicht nicht in Bezug auf das Nebenwirkungsprofil, das ist ja auch stark von der Gesamtformulierung und dem Reinheitsgrad des Impfstoffes abhängig. Aber man könnte, wie in der dritten Testphase auch, Erkenntnisse zur Wirksamkeit einer Covid-19-Impfung erhalten. Das sehe ich dann eher von der positiven und weniger von der marktwirtschaftlich-kompetitiven Seite. Wenn wir dann wirklich von mehreren Seiten Evidenz bekommen, dass wir durch Immunisierung eine Schutzwirkung erzielen können, dann sind wir der Lösung des Problems einen gewaltigen Schritt näher gekommen. 

Weltweit gibt es fast 170 Projekte, in der dritten Phase der klinische Prüfung befinden sich schon sechs Impfstoffe. Welche sind das und welchen halten Sie für den aussichtsreichsten Kandidaten?
Das kann man so generell nicht sagen. Ich weiß, dass zwei oder drei der Messenger RNA-Impfstoffe jetzt in der dritten Phase der Entwicklung sind. Der Vektorimpfstoff „ChAdOx1 nCoV-19” auf der Basis eines Schimpansen Adenovirus von Astra Zeneca ebenfalls. Letztlich muss man aber sagen: Es gibt, wenn man sich die Geschichte der Impfstoffentwicklung und auch die der Zulassung so ansieht, immer noch zahlreiche Impfstoffe, die dann tatsächlich erst in der dritten Phase der Testung scheitern. Es dürfen also ruhig noch ein paar mehr Impfstoffe werden, die da vorangehen. Damit rechne ich auch fest. Es gibt sehr große und sehr erfahrene Impfstoffentwickler unter den Pharmaunternehmen wie Sanofi Pasteur, die meines Wissens noch gar nicht in der klinischen Phase sind, dann aber aufgrund ihrer Entwicklungserfahrung sehr schnell sein können. Auch da rechne ich noch mit substantiellen und erfolgreichen Beiträgen.

Kürzlich hat das RKI für Verwirrung gesorgt. In einem Bericht hieß es, man rechne mit einem Impfstoff bis zum Herbst. Nun heißt es, der Bericht sei veraltet, es gebe frühestens 2021 einen Impfstoff in relevanten Mengen. Was ist der Grund für die Verzögerung?
Ich glaube, da darf man auch nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Ich halte persönlich eigentlich auch die Einschätzung für wahrscheinlich, dass wir erst im nächsten Jahr markttaugliche Impfstoffe zur Verfügung haben werden. Es gibt jedoch noch immer Meldungen von einzelnen Unternehmen, die damit rechnen, bereits im Herbst einen Impfstoff auf den Markt bringen zu können. Ich glaube, da kann man einfach noch keine sichere Vorhersage treffen. Das ist auch für das RKI schwierig zu beurteilen, auf das ja gerade ein Sammelsurium an Informationen einprasselt. Da kann keiner eine absolut sichere Zeitlinie geben, mit der Prognose für 2021 sind wir da aber auf der sicheren Seite. 

Man wundert sich ja ohnehin, dass es jetzt plötzlich so schnell geht. Für HIV gibt es ja bis heute keinen Impfstoff. Wäre es nicht sonst auch eine Option, verstärkt an Medikamenten zu forschen, wie zum Beispiel einem Corona-Spray zur Inhalation, an dem bereits Biotech-Firmen arbeiten?
Das sind spannende Entwicklungen, die sich da im Bereich der Therapeutika tun. Man muss aber sagen: Wenn man das Problem auf globaler Ebene lösen will, bleibt ein sicherer Impfstoff die einzige Möglichkeit. Die therapeutischen Ansätze sind wichtig und können hoffentlich dann auch zur Behandlung von schwer Erkrankten beitragen. Aber um der Pandemie weltweit begegnen zu können, braucht es einen Impfstoff.

Die Fragen stellte Johanna Jürgens

Anzeige