Renten-Debatte - „Wir haben die Hände voller Backpfeifen“

Die Rente reiche nicht fürs Leben, heißt es oft. Stimmt das wirklich? Darüber haben wir uns mit einer Rentnerin unterhalten

In der Rentendebatte wird oft das Bild von Flaschen sammelnden Rentnern herangezogen. Trifft das zu? / picture alliance
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Chiara Thies ist freie Journalistin und Vorsitzende bei next media makers.

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Theresa Rüster ist seit drei Jahren in Rente. Sie ist in der DDR aufgewachsen, hat am Theater als Dramaturgin gearbeitet und war alleinerziehend. Nach der Wende hat sie ihren Job verloren und kümmerte sich um ihre stark pflegebedürftige Mutter.

Frau Rüster*, Sie sind jetzt 66 Jahre alt und seit drei Jahren Rentnerin. Wie viel Geld bekommen Sie?
Also zur Zeit bekomme ich 615 Euro.

Reicht Ihnen das zum Leben?
Nein, das reicht natürlich nicht. Ich erhalte dazu Grundsicherung. Aber ich habe ein Talent dafür, auch mit wenig Geld auszukommen. Die Regelsätze sind jedoch zu niedrig. Man kann sich davon ernähren, aber alles andere muss ausfallen: Theater, Konzert, mal ein Cafè-Besuch mit einer Freundin, Kino oder ein neues Buch, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Durch einen Trick der Behörden erhalte ich einmal im Jahr sogar noch weniger Geld.

Was für ein Trick?
Ich habe durch die Zahllücke, die bei der Rentenauszahlung entsteht, einen Monat lang weniger Geld. Denn die Grundsicherung wird Anfang des Monats gezahlt und die Rente am Ende. Die Anpassung der Grundsicherung findet bereits am Anfang des Monats statt. Alle elf Monate habe ich dann also einen Monat lang weniger Geld. Für meine Verhältnisse sind auch die circa 30 Euro, die ich dann weniger habe, viel Geld. 

Wie viel Geld bleibt Ihnen denn nach Abzug aller Fixkosten? 
Das hängt immer vom jeweiligen Monat ab. Nach Abzug aller Kosten bleiben mir ungefähr zwischen 220 und 260 Euro zum Leben. Ich bin vor fünf Jahren in die Stadt gezogen, weil ich so in der Nähe meiner Tochter sein kann. So wird die altersnotwendige Betreuung später leichter werden. Ich muss jedoch sagen, dass ich eigentlich noch nicht in Rente gehen wollte.

Was meinen Sie damit?
Ich wurde vom Arbeitsamt in die „Zwangsrente“ geschickt, weil mir kein Hartz IV mehr bewilligt wurde. Geht man jedoch vorzeitig in Rente, erhält man Abschläge, also noch weniger Geld. Ich würde ohne diese „Zwangsrente“ jetzt bei 750 Euro liegen. Würde ich in dieser Situation Wohngeld beantragen, bin ich aus der Grundsicherung raus. Dieser Trick schönt jeden Monat die Arbeitslosenstatistik. 

Kann man sich dagegen wehren?
Ja. Auch ich hatte das versucht. Sie können den Zwang eventuell umgehen, wenn sie sich für diese Zeit irgendeinen Minijob suchen und damit dem Arbeitsamt etwas vormachen. Aber selbst dann ist es sehr, sehr schwierig. Bei mir hat es nicht geklappt, ich musste rückwirkend einen Antrag auf Frühverrentung stellen. 

Haben sie das auch versucht?
Das habe ich. Aber oft findet sich einfach nichts. Außerdem hatte ich vor einem Jahr das erste Mal Krebs. Ein Nebenjob ist jetzt einfach nicht mehr optimal. 

Sie haben Ihre Tochter alleinerziehend großgezogen und am Theater gearbeitet. Nicht die besten Bedingungen für eine hohe Rente. Wie sahen denn Ihre Beitragsjahre aus? 
Letztlich gehöre ich zu den sogenannten Wendeopfern. Durch die Wende haben die Theater im Osten alle den Westvertragsmodus übernehmen müssen. Laut denen gibt es in den ersten 15 Jahren in einem Theater befristete Verträge und danach zwingend unbefristete. Das hat auch mich getroffen. Meine Tochter war da gerade acht Jahre alt, der Arbeitsmarkt war nach der Wende mehr als überfüllt. Mit meiner Dramaturgie-Ausbildung hatte ich natürlich Schwierigkeiten, einen neuen Job zu finden. Außerdem war meine Mutter hochgradig pflegebedürftig. Ich konnte also unmöglich umziehen, weil ich mich um sie kümmern wollte. 

Wie lange haben sie davor schon gearbeitet?
Meinen Abschluss habe ich 1974 gemacht, also etwa 20 Jahre lang. Schon zu DDR-Zeiten war mein damals sehr junges Kind öfters mal krank, das ist ja nicht ungewöhnlich. Bereits da hatte der Intendant vor, mir wegen dieser Fehlzeiten zu kündigen. Das ließ sich mit einem Besuch beim Arbeitsgericht jedoch schnell aus der Welt schaffen. Nach der Wende hat er dann die Gelegenheit genutzt und mir gekündigt. 

Haben Sie privat vorgesorgt?
Zu DDR-Zeiten hatte ich die FZR, die freiwillige Zusatzrente, abgeschlossen. Das sind immerhin einige wenige Rentenpunkte. Im Theater musste ich dann für die bayerische Versorgungskammer mit einzahlen. Als mir gekündigt wurde, war ich jedoch zu kurz Mitglied gewesen, um es weiterführen zu dürfen. Das war alles in den Sand gesetztes Geld. Dadurch dass ich alleinerziehend war und dann die Wende kam, konnte ich nicht viel Geld zur Seite legen. Die von mir leistbaren Zusatzbeiträge hätten mir nicht genug im Alter gebracht. Monatlich wäre das jetzt gerade mal ein Unterschied von ein paar Cent. 

Als Sie nach der Wende Ihren Job verloren haben, wie sind Sie mit der Situation umgegangen?
Das war 1993. Zu dem Zeitpunkt habe ich eine ganze Weile Arbeitslosengeld erhalten, schließlich dann Hartz IV. Ich habe natürlich versucht, eine neue Arbeit zu finden. Bei einem Vorstellungsgespräch fragte mich der gesprächsleitende „Wessi“, wo ich denn mein Kind lassen wolle, wenn es krank sei. Daraufhin habe ich ihn gefragt, ob er das auch Männer frage. Er verneinte das, denn ein anständiger Mann habe schließlich eine Frau zuhause, die sich um die Kinder kümmere. 

Was hätten Sie denn gerne gemacht?
Vieles. Schon zu DDR-Zeiten wäre ich gerne Kindergärtnerin geworden. Das ging aber nicht, weil ich Abitur hatte. In der DDR bedeutete das, dass ich in der Verwaltung hätte arbeiten sollen, was mich nicht gereizt hat. Mit der Erziehung hätte ich nichts zu tun gehabt. Schließlich wollte ich Tagesmutter werden. Das ist dann gescheitert, weil mich das Arbeitsamt zwar beim Kurs finanziell unterstützt hätte, aber nicht bei den Fahrtkosten. Das konnte ich mir als Hartz IV-Empfängerin schlicht nicht leisten. 

Die Pflege von Angehörigen wird auf die Rente angerechnet. Wie war das bei Ihnen und Ihrer Mutter?
Ja, theoretisch ist das so. Dafür müssen sie jemanden allerdings 15 Stunden die Woche pflegen. Wenn sie so etwas aber mehr als 14 Stunden die Woche machen, kriegen sie kein Hartz IV mehr. Ich konnte also entweder die Pflegepunkte erhalten oder das Arbeitslosengeld. Beides gleichzeitig ging nicht. Ich habe mich letztendlich für das Arbeitslosengeld entschieden. Einfach deswegen, weil ich auch nicht abschätzen konnte, wie sich das Rentensystem weiterentwickelt. Das ist auch eine Frage der Selbstständigkeit, wenigstens „etwas eigenes zu haben“.

Um diese Abhängigkeit geht es auch oft in der Rentendebatte.
Genau und das ist auch völlig berechtigt. Hätte ich diese Abschläge durch die Zwangsrente nicht, würde ich mit Wohngeld über die Runden kommen. Damit würde ich mich viel besser fühlen. Einmal im Jahr muss ich vor dem Grundsicherungsamt blank ziehen. Jedes Jahr wollen die von drei Monaten sämtliche Kontoauszüge sehen, um zu schauen, ob ich auch nicht nirgendwo heimlich Geld extra gekriegt habe. Da muss man sich entscheiden ob man drüber steht oder es als entwürdigend empfindet.

Und stehen Sie drüber?
Ja, ich setze mich quasi breit auf das Problem drauf und sage mir, dass es nicht meine Schuld ist. Die Verhältnisse haben sich so geändert, dass es nicht anders geht. Da ich einen unsicheren Beruf hatte, hat es mich eben voll getroffen. Schuldgefühle schiebe ich von mir weg – ob berechtigt oder nicht, weiß ich nicht. 

In der Rentendebatte wird oft das Bild von Flaschen sammelnden Rentnern herangezogen. Entspricht das der Realität?
Das hängt natürlich oft von den familiären Verhältnissen ab. Bei vielen Rentnern würde es ohne die Unterstützung der Familie nicht klappen. Offiziell darf einen die Familie nicht unterstützen, sonst wird das von der Grundsicherung abgezogen. 

Ganz plump gefragt: Ist unser Rentensystem gerecht?
Nein! Die Ungerechtigkeit fängt schon bei den Beamten an. Es sollte eine Grundrente eingeführt werden. Man sollte nicht so sehr unterscheiden was jemand verdient hat, sondern wie lange er gearbeitet hat. Ein Heizer, der 40 Jahre lang gearbeitet hat, sollte im Alter etwa genauso viel Geld wie ein Professor erhalten. 

Fordern Sie also mehr Umverteilung?
Ja, da merkt man wahrscheinlich auch meine sozialistische Vergangenheit. Allein die Gehaltsunterschiede finde ich irre. Bei Gehältern beispielsweise von Fußballern oder prominenten Künstlern packt mich nicht der Neid, sondern die Wut. Das was sie bezahlt bekommen, können sie gar nicht für die Allgemeinheit leisten. Bei uns läuft einfach vieles aus dem Ruder. Gebe es eine höhere Umverteilung, würden vielleicht auch diese Hass- und Neiddebatten aufhören und damit auch die politischen Verirrungen. Parteien wie die AfD hätten bei uns keinen Fuß auf die Erde bekommen, wenn die Ungerechtigkeit nicht so hoch wäre. Die Menschen haben die Hände voller Backpfeifen und niemanden, dem sie die geben können.

Wie meinen Sie das?
Ich habe zum Beispiel an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales geschrieben. Diesen Brief haben die mit Sicherheit einfach nur eingescannt und mir ein vorgefertigtes Antwortschreiben geschickt. Denn mit meinem Schreiben hatte die Antwort inhaltlich absolut nichts zu tun. Das hatte ich schon mehrfach, denn ich schreibe oft solche Briefe. 

An wen haben Sie alles geschrieben?
Ach, an viele. Seinerzeit sogar noch an Renate Schmidt, als sie noch Familienministerin war. Was das betrifft, habe ich eine reiche Korrespondenz. Man soll aber nicht nur meckern. Viele Dinge muss man einfach ausprobieren.

Was erwarten Sie denn von der Politik?
Es wäre gut, wenn Politiker nicht mehr in ihrem Wolkenkuckucksheim leben und nur auf ihre eigenen Diäten achten. Sie sollten schauen, wie es der Bevölkerung wirklich geht. Was das betrifft, haben sie viel zu wenig Ahnung. Und falls doch, dann schaffen sie es nicht, das der Bevölkerung zu vermitteln. 

Ist es denn von den Behörden überhaupt zu leisten, auf jeden einzelnen Brief zu antworten?
Bei der Größe unseres Bundestages: ja. Der ist jetzt um ein Sechstel größer, als er eigentlich sein soll. Da könnte vielleicht mal jemand Zeit haben. 

Waren Sie mal bei der Verbraucher Zentrale oder der deutschen Rentenversicherung, um sich beraten zu lassen?
Die Verbraucher Zentrale kann mich dazu gar nicht groß beraten und kostet dazu. Die Rentenversicherung teilt mir bloß mit, dass sie darauf keinen Einfluss hat. Sie wüssten, dass sich da viele beschweren, könnten aber nichts machen. 

„Wie es im wirklichen Leben aussieht, davon habt Ihr doch keine Ahnung“ – diesen Vorwurf hören Politiker immer wieder, aber auch Journalisten. Gerade wenn sie – wie wir in der Cicero-Redaktion – in der Hauptstadt Berlin leben und arbeiten, wirkt das auf viele offenbar so, als seien wir auf einem fernen Planeten unterwegs. Und sie kritisieren, dass wir zwar gern über Menschen sprechen und schreiben, aber kaum mit ihnen reden. Der Vorwurf trifft uns hart, und wir nehmen ihn sehr ernst. Deswegen starten wir auf Cicero Online eine Serie, in der wir genau das tun: Mit Menschen sprechen, die nicht in der Öffentlichkeit stehen, aber mitten im Leben, und dort täglich mit den Folgen dessen zurechtkommen müssen, was in der fernen Politik entschieden wird. Den Auftakt macht ein Gespräch mit einem Mann, der illegal in Deutschland lebt. 

*Frau Rüster heißt eigentlich anders, möchte aber durch dieses Interview keine weiteren Probleme mit ihrer Rente bekommen

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