Preispolitik der EZB - Die Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel

Wenn die Europäische Zentralbank nicht energisch die Zinsen erhöht, droht ihr die Inflationsentwicklung zu entgleiten. Das könnte eine Lohn-Preis-Spirale in Gang setzen. Da passt es wie die Faust aufs Auge, dass die künftige Ampelkoalition den Mindestlohn um 25 Prozent steigern möchte.

Möwen fliegen in Frankfurt vor der Europäischen Zentralbank (EZB) über den Main / dpa
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Bernd Lucke war Mitbegründer und Vorsitzender der AfD, deren marktwirtschaftlichen und liberalen Flügel er bis zu seiner Abwahl im Juli 2015 vertrat. Nach seinem Austritt aus der AfD gründete der 58 Jahre alte Wirtschaftsprofessor die Partei Alfa heute Liberal-Konservative Reformer , für die er bis 2019 im EU-Parlament saß. Lucke lehrt Makroökonomie an der Universität Hamburg.

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Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Inflation. Sind die Zeiten der Preisstabilität vorbei? Schauen wir zunächst auf die nackten Zahlen:

Seit neun Jahren liegt die Inflationsrate in der Eurozone unter 2 Prozent – meist sogar deutlich. Im Corona-Jahr 2020 zum Beispiel betrug sie knapp 0,3 Prozent. Ebenso in Deutschland. Für September 2021 aber ermittelt das Statistische Bundesamt den höchsten Preisauftrieb seit 1993: Die deutschen Verbraucherpreise stiegen um 4,1 Prozent, die gewerblichen Erzeugerpreise um 8,3 Prozent. Letzteres freilich nur, wenn man die um 24 Prozent gestiegenen Energiepreise herausrechnet. Unter Einschluss der Kosten für Energie sind die Erzeugerpreise in Deutschland um 12 Prozent gestiegen! Immer im Vergleich zum September 2020.

Diese Entwicklung findet viel Aufmerksamkeit. Denn stets wollte die Europäische Zentralbank (EZB) die Inflation „knapp unter 2 Prozent“ halten. Erst unlängst änderte die EZB dieses Ziel auf „genau 2 Prozent“ und erläuterte, dass „genau 2 Prozent“ auch heißen kann, dass die Inflationsrate manchmal über 2 Prozent liegt. Wie oft, wie lange, wie weit über 2 Prozent erläuterte die EZB nicht.

Prompt sind wir über 2 Prozent. Nach Ansicht der EZB aber nur vorübergehend. Sie führt den jetzigen Preisanstieg auf sogenannte „Basiseffekte“ zurück. Basiseffekte bedeuten, dass die Preise im Vorjahr Corona-bedingt ungewöhnlich niedrig waren. Jetzt, wo sich die Lage normalisiere, stiegen die Preise eben wieder. Aber nur vorübergehend. Für das nächste Jahr prognostiziert die EZB eine niedrigere Inflationsrate.

Pfeifen im dunkeln Walde?

Man muss das nicht gleich für Pfeifen im dunklen Walde halten. An der Sache mit den Basiseffekten ist schon etwas dran. Aber andererseits sollte man sich auch nicht unkritisch auf beruhigende Prognosen der EZB verlassen. Nur zur Erinnerung: Vor einem Jahr, im September 2020, hatte die EZB für 2021 eine Inflationsrate von 1 Prozent vorausgesagt. Seither sind die Preise in der Eurozone um 3,4 Prozent gestiegen – und der Trend zeigt nach oben.

Als Basiseffekte verweist die EZB darauf, dass die Energiepreise durch den wirtschaftlichen Einbruch im Vorjahr besonders niedrig waren. Auch habe Deutschland die Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte gesenkt. Seit Jahresanfang muss aber wieder der volle Mehrwertsteuersatz bezahlt werden, und außerdem startete gleichzeitig das deutsche Brennstoffemissionshandelssystem, das den Verbrauch fossiler Energieträger verteuerte.

Diese Argumente sind richtig, aber sie tragen nicht so weit, wie es die EZB glauben machen möchte. Denn die Basiseffekte waren im September 2020 natürlich bereits absehbar. Es war bekannt, dass die deutsche Mehrwertsteuer wieder steigen würde und dass in Deutschland die CO2-Bepreisung beginnt. Und dass mehr Nachfrage nach Energie zu höheren Energiepreisen führt, wusste die EZB auch. Mit diesem Wissen hat sie eine Inflationsrate von 1 Prozent prognostiziert. Da sind die Basiseffekte also schon drin. Aber die tatsächliche Inflation ist deutlich höher. All das an Inflation, was die EZB nicht gesehen hat, kann nicht auf Basiseffekte zurückgeführt werden.

Unvorhergesehene Inflation

Nun gibt es natürlich unvorhersehbare Ereignisse. Da bleibt ein Tanker im Suezkanal stecken und blockiert wichtige Warenlieferungen. Da schließt China einen großen Containerhafen wegen eines Corona-Ausbruchs. Da funktionieren globale Lieferketten nicht wie gewohnt, und Rohmaterialien oder wichtige Vorleistungen sind nicht oder nur stark verteuert verfügbar.

Kein Vorwurf, wenn die EZB das nicht erwartet hat. Aber jetzt wissen wir es, und die unvorhergesehene Inflation ist da. Die Frage ist, ob die EZB angemessen reagiert, wenn sie im Wesentlichen nur verbal beschwichtigt.

Denn auch zu den Lieferkettenschwierigkeiten sagt die EZB: Das ist temporär. Das gibt sich. Kein Grund zur Besorgnis.

Alles nur vorübergehend?

Das, mit Verlaub, überzeugt nicht. Wir wissen nicht, wie die Unternehmen, die von Lieferengpässen betroffen sind, darauf reagieren werden. Es kann auch künftig passieren, dass große Häfen wegen Corona geschlossen werden. Unternehmen werden sich überlegen, wie sie dagegen Vorsorge treffen können. Mehr Lagerhaltung, weniger Just-in-time-Produktion – das wäre eine Möglichkeit. Stärkere Regionalisierung der Produktion, weniger globalisierte Lieferketten – das wäre eine andere. Beides senkt die Unsicherheit, aber beides steigert die Kosten. Und die Preise für die Verbraucher.

Dabei sind steigende Preise per se gar nicht schlimm. Wenn ein Gut knapp ist, steigt sein Preis. Dadurch sinkt die Nachfrage, und es steigt das Angebot. Das ist erwünscht. So wird die Knappheit behoben. So funktioniert eine Marktwirtschaft.

Dass Preise steigen, wenn bestimmte Güter knapp sind, ist keine Inflation. So paradox es klingt: Steigende Preise allein sind noch keine Inflation. Inflation entsteht erst durch steigende Inflationserwartungen! Denn steigende Inflationserwartungen führen zu höheren Lohnforderungen der Arbeitnehmer, und höhere Löhne führen zu höheren Preisen.

Gesteigerte Inflationserwartungen

Inflation ist ein Phänomen, bei dem im Wesentlichen alle Preise gleichmäßig steigen. Es geht nicht um einzelne Preise wie Energie, Baustoffe oder seltene Erden. Sondern es geht darum, dass alle Preise in ungefähr demselben Ausmaß steigen. Das passiert dann, wenn die Löhne steigen, denn die menschliche Arbeit ist der wichtigste Kostenfaktor.

Es geht also um die Inflationserwartungen. Hier kommen wir zum Kernproblem der EZB: ihrer Glaubwürdigkeit. Jahrelang hat die EZB in unvorstellbarem Ausmaß frisches Geld in die Eurozone gepumpt, ohne dass es zu einer Inflation kam. Jetzt aber ist die Inflation da, und die EZB hat sie nicht kommen sehen. Das kratzt an der Glaubwürdigkeit. Noch schlimmer wird es, wenn die Inflation jetzt trotz gegenteiliger Versicherungen der EZB doch nicht vorübergehend sein sollte. Wenn sie anhält und vielleicht sogar noch zunimmt.

Wenn eine Zentralbank glaubwürdig ist, kann sie die Inflationserwartungen „verankern“, weil sich die Bürger an den Inflationsprognosen der Zentralbank orientieren. Bislang ist der EZB diese Verankerung gut gelungen – die Inflationserwartungen waren niedrig. Jetzt aber steht ihre Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Wenn die Arbeitnehmer in die Lohnrunde des nächsten Frühjahrs mit merklich gesteigerten Inflationserwartungen gehen, dann werden die Löhne steigen – und die Preise auch. Die Inflationserwartungen werden dann eine selbsterfüllende Prophezeiung.

Die Zinsen müssen steigen

Jedem guten Makroökonomen ist dieses Problem bekannt. Eine Zentralbank kann die Kontrolle über die Inflation verlieren, wenn sich selbsterfüllende Inflationserwartungen bilden. In der modernen makroökonomischen Theorie ist sehr präzise ermittelt worden, was gegen diese Gefahr zu tun ist: Wenn die Inflation steigt, muss die Zentralbank die Zinsen erhöhen. Und zwar stärker als die Inflationsrate steigt! Nur so kann die Zentralbank die Inflation dahin führen, wo sie sie haben will.

Unglücklicherweise ignoriert die EZB diese weithin akzeptierte Regel: Sie erhöht die Zinsen nicht. Nicht kräftig, wie es nötig wäre, und noch nicht einmal ein bisschen. Dass sie die Zinsen nicht erhöht, hat mit der strukturellen Schwäche der Eurozone und den hohen Schulden einiger Eurostaaten zu tun. Ein weites Feld – zu weit für diesen Beitrag. Aber Fakt ist: Wenn die EZB nicht energisch die Zinsen erhöht, droht ihr die Inflationsentwicklung zu entgleiten.

Statt einer Zinserhöhung versucht die EZB die Inflationserwartungen zu steuern, indem sie beschwichtigend von einem nur temporären Anstieg der Inflation spricht. Hier kommt ein zweites Problem: Was der Information der Bürger dienen soll, ist tatsächlich völlig uninformativ. Denn ganz egal wie die Lage ist, die EZB muss stets sagen, dass alles nicht so schlimm ist.

Die EZB in der Zwickmühle

Die EZB ist in einer Zwickmühle: Selbst wenn sie der Überzeugung wäre, dass die derzeitige Inflation gefährlicher ist, als sie es darstellt – öffentlich sagen dürfte sie es nicht. Denn wenn die EZB heute vor steigender Inflation warnen würde, dann würde sie die (niedrigen) Inflationserwartungen aus ihrer Verankerung reißen. Dann wäre die EZB selbst die Ursache dafür, dass die Inflationserwartungen steigen. Aber genau das muss die EZB verhindern.

Für den aufmerksamen Beobachter ist es deshalb belanglos, dass die EZB den Inflationsanstieg für ein rein temporäres Phänomen hält. Etwas anderes kann sie halt nicht sagen. Wer das versteht, weiß, dass er sich sein eigenes Bild von der Lage machen muss, um die künftige Inflation abzuschätzen.

Je weniger sich die Bürger an der EZB-Einschätzung orientieren, desto weniger kann die EZB die Inflationserwartungen steuern. Und hinzu kommt, dass die Glaubwürdigkeit der EZB weiteren Schaden nehmen würde, wenn sich ihre optimistisch-entwarnende Einschätzung der Inflation als falsch herausstellen sollte. Dann ginge der Schuss nach hinten los.

Was tut die Ampelkoalition?

Wenn die EZB den Mut zu Zinserhöhungen nicht aufbringt, steckt sie in einem Dilemma, das sie selbst nicht mehr lösen kann. Viel hängt dann von der nächsten Tarifrunde ab. In einem inflationsgefährdeten Umfeld sollte man alles unterlassen, was eine Lohn-Preis-Spirale in Gang setzen könnte. Dass die künftige Ampelkoalition den Mindestlohn um 25 Prozent (!) steigern möchte, passt da wie die Faust aufs Auge. Ein Narr, wer glaubt, dass dies nicht Auswirkungen auf das gesamte Lohngefüge haben muss.

Und wenn die Löhne übermäßig steigen, dann steigen auch die Preise. Dann ist die Inflation mehr als ein Gespenst.

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