Leihräder in Großstädten - Unterm Rad

Leihräder fluten Innenstädte in ganz Europa. Die Mobilität der Zukunft droht im Chaos zu enden – dabei könnten Chancen endlich genutzt werden

Erschienen in Ausgabe
Umfaller ohne Aufsteller – manche Räder wie die von Mobike liegen tagelang auf dem Großstadtasphalt / Jörg Brüggemann
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Andrea Reidl schreibt als freie Journalistin zu nachhaltiger Mobilität in Städten. Foto: Dörenbruch

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Ofo ist gelandet – an der Berliner Linienstraße, der wohl berühmtesten Fahrradstraße im Bezirk Mitte. Hier im Haus Nummer 42 begrüßt Alexandra Cappy zurzeit viele Journalisten. Die 34-Jährige ist die General Managerin von Ofo, einem der beiden größten Bikesharing-Unternehmen der Welt. Der chinesischen Firma gehören weltweit inzwischen zehn Millionen Leihfahrräder in 250 Städten. 200 Millionen Menschen haben die dazugehörige Ofo-App runtergeladen und mieten täglich 32 Millionen Mal ein Fahrrad – das sind im Schnitt drei Fahrten pro Bike.

Jetzt soll Alexandra Cappy die Ofos auch in Deutschland großmachen. Die ersten 100 quietschgelben Räder mit Dreigangschaltung stehen auf Berlins Straßen. Bald sollen es 2000 sein. Doch sie sind nicht allein: Mit Nextbike, den Lidl-Bikes, Donkey Republic Bikes, Byke Mobility, Obike, Mobike und Limebike werden Bürgersteige und Freiflächen der Hauptstadt derzeit zugestellt. Die Bike­sharing-Anbieter aus Asien, den USA und Europa haben die deutschen Städte von München bis Hamburg spät, dafür aber nun umso intensiver als Markt entdeckt. Tausende Kunden schätzen inzwischen nicht nur Carsharing, sondern auch das Angebot digital mietbarer Bikes.

Berlin will Koppenhagener Verhältnisse

Zugleich aber wächst die Kritik an den neuen Anbietern. Die Fahrräder überschwemmen die Innenstädte, versperren Fußgängerwege und Bushaltestellen, oder sie werden achtlos umgeworfen, bleiben liegen und landen in Sträuchern und Hecken, weil sich keiner verantwortlich fühlt und es nur selten vorgeschriebene Stellplätze gibt. Datenschützer kritisieren, das eigentliche Geschäftsmodell seien zudem die Bewegungsdaten der Kunden. Auch der Komfort der oftmals zu kleinen und langsamen Räder scheint noch nicht ausgereift zu sein. Dabei könnten stationäre wie stationslose Leihradsysteme den Städten helfen, eine von ihnen angesichts von Staus, Smog und Feinstaub so herbeigesehnte Verkehrswende zu gewährleisten. Doch dafür müssen die Kommunen eine konfliktträchtige Frage beantworten: Wem gehört der Platz in der Stadt?

Ofo-Managerin Alexandra Cappy will von der deutschen
Verkehrswende profitieren

In Berlin scheinen die Startbedingungen für den chinesischen Anbieter Ofo eigentlich hervorragend. Fahrradfahren boomt. Nicht nur auf der Linienstraße sind Bikefahrer bereits in der Mehrheit. Autofahrer überlegen sich hier zweimal, ob sie mit Tempo 10 hinter den Zweiradkolonnen herkriechen wollen. Entnervt entscheiden sich die meisten für die 100 Meter entfernte Torstraße, um dann dort nicht selten im Stau zu stehen. Fahrradfahrer kommen auf der Linienstraße schnell voran, haben Vorfahrt, aber kaum Abgase. Geht es nach der Berliner Senatsverwaltung, wird es bald viel mehr solcher Fahrradstraßen geben, ebenso wie ein sicheres Radwegenetz. Wie viele deutsche Städte will auch die Hauptstadt eine sogenannte Fahrradstadt sein. Dafür investiert der Senat noch in dieser Legislaturperiode 60 Planstellen und 200 Millionen Euro. Im Juni sollen die Abgeordneten zudem das erste Mobilitätsgesetz in Deutschland verabschieden. Berlin will Kopenhagener Verhältnisse schaffen – die dänische Hauptstadt gilt seit Jahren als fahrradfreundliche Vorzeigestadt.

Viele Städte wirken überfordert

Die Probleme jeder Großstadt weltweit ähneln einander: Staus zu Stoßzeiten, fehlende Parkplätze, schlechte Luftqualität, überlasteter ÖPNV, stetig wachsende Stadtbevölkerungen und Lieferverkehre. Digitalisierung und Smartphones könnten nun einen Mobilitätsmix aus E-Scootern, Mieträdern, Carsharing-Angeboten, ÖPNV und herkömmlichem Verkehr schaffen. Auch wenn viele Kunden ärgert, dass die Leihräder oft zu klein und ohne Gangschaltung zu langsam sind – immer mehr nutzen sie, um Lücken zu überbrücken: den Weg von der Wohnung zur Bahnstation oder der Bushaltestelle zum Büro. Wer Bus oder Bahn verpasst, sattelt um, und Touristen erkunden nun Bezirke auch jenseits der Hotspots.

Doch viele Städte wirken überfordert. Teils haben sie die Entwicklung verschlafen, teils kamen Leihradanbieter erst gar nicht, dann massenhaft. Geschickt nutzen sie Regulierungslücken, die vorhandene Nachfrage und den öffentlichen Raum. Ofo & Co. bauen ihre Radflotten aus und zwingen die Städte zu Antworten auf die Frage: Wie soll der Verkehr der Zukunft aussehen? Plötzlich ist dieser Gegenwart und geprägt vom Kampf um die Vorherrschaft am Markt.

Angemietet und abgelegt: Bikesharing-Systeme fordern die Innenstädte heraus

So hatte unlängst der singapurische Ofo-Konkurrent Obike in München quasi über Nacht fast 7000 seiner schwarz-gelben Räder auf die Straßen gestellt. Die Anbieter wissen: Erfolg haben sie nur, wenn ihre Räder überall im Stadtgebiet stehen. Solange es noch keine Meta-Mobilitäts-App gibt, die jegliche Anbieter vereint, laden Kunden nicht zehn verschiedene Apps auf ihr Smartphone, sondern den Service mit der besten Abdeckung. So standen „bis zu 25 Räder nebeneinander“, sagt Lukas Raffl von der Stabsstelle Radverkehr in München. Tatsächlich dürfen Fahrräder auf Gehwegen nur stehen, solange sie Fußgänger nicht behindern. Außerdem landeten die ­Bikes in Gräben, hingen an Straßenschildern, wurden ins Gebüsch und sogar in die Isar geworfen.

Freiwillige Leitfäden für Fahrradverleiher

Kein rein deutsches Phänomen – auch in Paris und Zürich finden Leihräder in der Seine und der Limmat immer öfter ein nasses Grab. „Wenn die Anbieter die kaputten Räder nicht sofort aus dem System nehmen oder umgefallene Räder wieder aufstellen, wird Vandalismus zum Sport“, beschreibt Raffl die Entwicklung in München. Obike reagierte, indem es weitgehend kapitulierte. Das Unternehmen zog fast alle Räder ab und will sie nun in Dortmund verteilen.

In Berlin drängeln sich Touristen und Einheimische am Hackeschen Markt durch ohnehin schon enge Gassen. Seit neben privaten Rädern immer mehr Leihbikes und Leihroller auf den Gehwegen stehen, weichen manche Menschen auf die Straße aus. Autofahrer hupen und Tramfahrer klingeln die verschreckten Fußgänger mit Shoppingtüten zurück ins Räderchaos. „In Mitte häufen sich die Beschwerden von Anwohnern über zugestellte und nur noch schwer passierbare Gehwege“, sagt Stephan von Dassel, der Grünen-Bürgermeister von Berlin-Mitte. Er will nun eine Sondernutzungsgebühr von bis zu zehn Euro pro Leihrad durchsetzen. Jedes soll eine sichtbare Nummer bekommen. Für die Anbieter könnte das teuer werden. Die Berliner Senatsverwaltung schätzt, dass es 16 000 Leihräder in Berlin gibt. 2017 waren es noch 5500. Ob die Gebührenmaßnahme wirklich Vandalismus eindämmen kann, ist fraglich.

Auch mit anderen Regeln versuchen die Verwaltungen Ordnung herzustellen. Inzwischen haben die meisten Städte und Gemeinden in Deutschland allerdings bislang noch freiwillige Leitfäden für Fahrradverleiher herausgegeben. In Berlin und München legen diese etwa fest, wie viele Räder in Straßen abgestellt werden dürfen. In Köln sind bestimmte Flächen in der Innenstadt für sogenannte Freefloating-Räder, also jene ohne eigene Abgabestationen, komplett verboten. Die Städte wollen die Anbieter erziehen. Dazu gehört neben der Wartung auch das dauernde Umstellen von Rädern, damit diese sich nicht an einem Ort häufen und woanders fehlen.

Autoparkplätze in Fahrradstellplätze umwandeln

Die Anbieter versuchen sich als Partner der Städte zu vermarkten. „Wir wollen mit unseren Rädern den Städten helfen, nachhaltigen Verkehr aufzubauen“, sagt der 33-jährige Jimmy Cliff, General Manager vom ebenfalls chinesischen Ofo-Konkurrenten Mobike. Der Firma gehören mit 10 000 Rädern fast zwei Drittel aller Berliner Leihbikes. Er fordert ein Umdenken. „Das Platzproblem und die Staus auf den Straßen werden hauptsächlich durch Autos verursacht“, sagt er. Berlin habe mehr als 1,5 Millionen Autos. „Jetzt diskutieren wir über ein paar Tausend Fahrräder.“

 

Tatsächlich ist der Verkehr eines der drängendsten Stadtprobleme. Der CO2-Ausstoß durch ihn lag im Jahr 2016 bundesweit um zwei Millionen Tonnen höher als noch 1990. Die Autodichte steigt weiter: Mit 555 Pkw je 1000 Einwohner erreichte die Autoanzahl 2016 einen neuen Höchststand. Zudem verklagt die EU-Kommission nun Deutschland wegen Missachtung der Stickoxid-Grenzwerte vor dem Europäischen Gerichtshof. Für gut zwei Drittel aller Berufspendler bleibt das Auto Transportmittel Nummer eins, trotz bis zu 51 Staustunden in Großstädten pro Jahr. Auch S-Bahn-Netze geraten zur Rushhour an ihre Kapazitätsgrenzen.

Carsten Hansen ist Referatsleiter für Wirtschaft, Tourismus, Verkehr beim Deutschen Städte- und Gemeindebund und will das Rad- und Verkehrsproblem lösen: „Die Gehwege sind fürs Fahrradparken weder gedacht noch geeignet“, sagt 53-Jährige. Aber das neue stationslose Bike­sharing würde die etablierten Systeme von Nextbike oder Call a Bike von der Deutschen Bahn gut ergänzen, weil es Bequemlichkeitsfahrten ersetzen kann, die auch mit Carsharing-Diensten noch problematisch seien. „Dann kommen wir unserem Ziel näher, Lärm und Stau in den Städten zu minimieren und die Luftqualität zu verbessern.“ Damit das funktioniert, müssten die Verkehrsflächen in der Stadt neu verteilt werden. Konkret könnte das heißen, Autoparkplätze in Fahrradstellplätze umwandeln. „Unter dem Aspekt Verkehrssicherheit könnten einige Städte zum Beispiel Autoparkplätze vor Kreuzungen mithilfe von Abstellbügeln in Fahrradstellplätze verwandeln und so die Sichtachsen für alle Verkehrsteilnehmer verbessern“, sagt Hansen.

„Daten sind eine interessante Währung“

Während Großstädte das plötzliche private Radangebot samt wachsender Verkehrsströme managen müssen, hatten kleinere Kommunen die Bikesharing-Anbieter schon lange herbeigesehnt. Die Deutsche Bahn mit Call a Bike und das Leipziger Unternehmen Nextbike hatten mit ihren stationären Systemen bislang nur Großstädte im Blick. Nur hier schien es rentabel. Berlin etwa subventioniert Nextbike mit 1,5 Millionen Euro pro Jahr. Für viele kleinere Kommunen ist ein eigenes oder städtisch subventioniertes System oft nicht finanzierbar. Auch der hessischen Kleinstadt Bad Vilbel mit rund 33 000 Einwohnern war das zu teuer. Die neun Kilometer entfernte Bankenmetropole Frankfurt kreist Bad Vilbel von drei Seiten förmlich ein. Starker Durchgangsverkehr und häufiger Stau in der Stadt sind die Folge.

Als die neuen Bikesharing-Anbieter in Deutschland auftauchten, rief der CDU-Stadtrat Sebastian Wysocki das deutsche Start-up Byke an. Die Geschäftsführerin Julia Boss reiste an, zwei Gespräche später standen die Rahmenbedingungen. Byke stellt 50 Freefloating-Räder in Bad Vilbel auf – ohne Kosten für die Stadt. „Wir haben keine vertragliche Beziehung, trotzdem sprechen wir alles mit Byke ab“, sagt Wysocki. „Alles“ reicht von der Anzahl der Räder bis zu den Stellflächen. Er ist zufrieden. Inzwischen fahren einige Bürger sogar die neun Kilometer nach Frankfurt. Das geht, weil Byke sein stationsloses System auch in Frankfurt betreibt. 30 Minuten Ausleihe kosten 50 Cent.

Eine Radwende wagen – Carsten Hansen will Parkplätze in Fahrradstellplätze umwandeln

Wie die Anbieter solche Preise ohne Zuschuss von Verwaltungen finanzieren, darüber rätseln Verkehrsplaner. Einige, die nicht genannt werden wollen, unterstellen, dass es den Firmen vor allem darum gehe, die Daten der Nutzer zu Geld zu machen. „Reich wird man mit den marginalen Mieteinnahmen als Unternehmer nicht“, sagt auch Marion Jungbluth vom Verbraucherzentrale Bundesverband. „Deshalb liegt der Verdacht durchaus nahe.“ Daten seien eine interessante Währung. Getrackte Bewegungsprofile geben Alltagsgewohnheiten preis oder zeigen an, ob Fahrer sportlich oder gemütlich unterwegs sind. Die chinesische Firma Mobike bietet den Städten anonymisierte Daten an, um ihre Radverkehrs­planung zu optimieren. Nutzer, sagt Jungbluth, sollten die Allgemeinen Geschäftsbedingungen lesen, Standortdaten nur bei Ausleihe und Rückgabe der Räder aktivieren und keine Telefonbuch- oder Kontaktdaten freigeben.

Kommt das große Geschäft erst noch?

Wie bei allen digitalen Diensten kann es allerdings auch bei Bikesharing-Anbietern zu Datenlecks kommen – geschehen Ende 2017 bei Obike. Persönliche Daten und Bewegungsdaten der Kunden waren weltweit frei zugänglich. Datenschützer prüfen, ob Obike gegen Datenschutzgesetze verstoßen hat. Mit empfindlichen, drohenden Strafen könnte die neue Datenschutz-Grundverordnung der EU ab sofort zumindest Anreiz sein, sorgsamer mit Kundendaten umzugehen.

Ein weiteres Indiz stützt die Vermutung, dass das große Geschäft erst noch kommt und auf den zu erwartenden riesigen Datenmengen beruhen wird. Mobike und Ofo sind beliebt bei Investoren der Digitalwirtschaft. Der Internetkonzern Alibaba – das chinesische Pendant zu Ebay und Amazon – hat sich mit Ofo zusammengetan. Der iPhone-Zulieferer Foxconn und die Tencent-Gruppe, zu der das Whatsapp-Pendant Wechat gehört, haben im vergangenen Jahr Hunderte Millionen US-Dollar in Mobike investiert. Inzwischen wurde Mobike gekauft: Das chinesische E-Commerce-Unternehmen Meituan-Dianping zahlte Anfang April rund 2,7 Milliarden Dollar für das Bike­sharing-Unternehmen. Mit diesem Investitionspolster treten die Bikesharing-Anbieter selbstbewusst auf.

Verstärkte Konflikte in Aussicht

Die Entwicklung schreitet voran. Mit Limebike sind inzwischen Räder mit Elektroantrieb unterwegs, hinzu kommen Anbieter von E-Scootern wie Coup, Emmy oder Stella und fordern ihren Platz in den Städten. In naher Zukunft werden erste Testflotten autonomer Autos erwartet. Sie alle sind Teil der Mobilität von morgen. Ob Deutschland darauf vorbereitet ist, wird sich zeigen. In den Niederlanden gehören Fahrradparkhäuser längst zum Stadtbild. Unter dem Bahnhof von Utrecht entsteht derzeit das größte Fahrradparkhaus der Welt, komplett befahrbar mit insgesamt mehr als 12 000 Stellplätzen. In Berlin, München, Hamburg und Köln drängen sich auf Bahnhofsvorplätzen durcheinander abgestellte Räder oder knubbeln sich an Zäunen und Laternen.

Wird nicht gehandelt, dürften die Konflikte zunehmen, auch weil immer mehr Radfahrer ihren Platz einfordern. Einen Eindruck davon gab es kürzlich am Berliner Hermannplatz: Dort stellten Radliebhaber in einer Aktion Leihräder quer zur Fahrtrichtung auf Autoparkplätze. Das geht, denn laut Straßenverkehrsordnung sind Fahrräder Fahrzeuge.

Fotos: Jörg Brüggemann

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.













 

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