Pandemie - Die Kommunikationsmutante

Die von Risikovermeidung geprägte DNA der politischen Covid-Rhetorik droht den Verantwortlichen auf die Füße zu fallen. Kaum wichen die Forscher ab und gaben keine Impfempfehlung für Kinder, wurde politischer Druck aufgebaut. Follow the Science? Das hat so wohl noch nie gestimmt.

Eine rote „Schmelzkurve“ zeigt in einem Corona-Test-Labor die Delta-Variante an Foto: Boris Roessler/dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Frohe Botschaft: Die vierte Welle ist da. Noch ist sie nicht einmal eine kleine Erhebung. Geschweige denn ein Wellchen. Aber ohne Zweifel: Die vergangene Woche war der Wendepunkt. Erst flachte sich der Rückgang der Infektionszahlen prozentual merklich ab. Dann kam der Umschwung. Und auch ohne Kristallkugel im Schrank kann man prognostizieren, dass von nun an die Infektionszahlen wieder nach oben gehen werden. Erst gemächlich. Dann weniger gemächlich. Dann schneller. Und das Mitte Juli und mit 40 Prozent vollständig Geimpften. Schöne Aussichten.

Schuld daran ist, wie jeder weiß, der nicht hinter dem Mond lebt, die Delta-Variante, nur von Ignoranten noch die „indische“ genannt und von Fachleuten liebevoll B.1.617.2. Seit Ende Juni meldet Impf-Vorzeigeland Israel trotz mediterraner Lage und hochsommerlichem Wetter steigende Infektionszahlen. Dann kam Portugal an die Reihe. Dann Spanien. In England, aufgrund seiner engen Verbindung zum Mutationsmutterland ein Sonderfall, steigen die Zahlen schon seit Ende Mai. Sieben-Tage-Inzidenz Stand Donnerstag: 256. Der Rest von Europa wird folgen. Auch ganz ohne volle Fußballstadien und Public Viewing.

Ein Rennen gegen die Zeit

Der Sommerurlaub kann zu einem Rennen gegen die Zeit werden. Glücklich, wer schon im Urlaub ist oder kommende Woche in Urlaub fährt. Den Baden-Württembergern und Bayern, die erst Ende August oder Anfang September die Koffer zu packen gedenken, stehen hingegen spannende Wochen bevor.

Die eigentliche Pointe an der Entwicklung: Wie eine in dieser Woche vorgelegte israelische Studie nahelegt, ist das Vakzin von Biontech gegen die Delta-Variante weniger wirksam als gegen die Ursprungsvariante. Die ursprüngliche Schutzwirkung ist nur unter Einschränkungen des öffentlichen Lebens herstellbar. Mit ein wenig Phantasie zeichnet sich Albtraumszenario ab: Geimpft im Winter-Lockdown. Was nun?

Hohe Steuerungsdichte

Nicht nur Viren mutieren. Auch das Kommunikationsverhalten unterliegt einem evolutionären Prozess. Am Anfang einer Krise gibt es eine Vielzahl von Vorschlägen, Begriffen und Sprachregelungen. Nach und nach setzt sich jedoch eine durch. Das ist nicht notwendigerweise die beste, aber diejenige, die von den relevanten Entscheidungsträgern übernommen wird.

Im Fall von Covid-19 obsiegte in Deutschland sehr bald eine Kommunikationsmutante, die von größter Vorsicht geprägt war, hoher Steuerungsdichte, Planungen und Vorschriften. Entsprechend wurden auch die medizinischen Berater ausgewählt.

Verstrickt in ein Sicherheitsdenken

Diese von maximaler Risikovermeidung geprägte DNA der politischen Covid-Rhetorik droht den Verantwortlichen und damit der Gesamtgesellschaft nun auf die Füße zu fallen. Man hat sich verstrickt in ein Netz aus Sicherheitsdenken, Grenzwertmentalität und Inzidenzfixierung. Die Geschichte schreibt sich fort. Und weil alle Protagonisten ein Teil von ihr sind, droht das Ganze kein Ende zu nehmen.

Wie sehr das herrschende Narrativ das Denken beherrscht, wurde an der Debatte um die Ständige Impfkommission deutlich. Kaum wichen die Wissenschaftler von der bisherigen Linie ab und gaben keine Impfempfehlung für Kinder, wurde politischer Druck aufgebaut. Follow the Science? Das hat so wahrscheinlich noch nie gestimmt. Das politische Handeln richtet sich nicht nach den Wissenschaftlern, sondern nach den verinnerlichten Kommunikationsmustern, die kein Abweichen von der einmal eingeschlagenen Erzählung erlauben. Jedes Verlassen der bisherigen Linie wäre ein mögliches Eingeständnis zuvor gemachter Fehler. Das aber darf nicht sein. Also hält man rhetorisch Kurs.

Geimpft und mit Maske vorm Weihnachtsbaum

Einmal eingespielte und halbwegs erfolgreiche Denk- und Sprachmuster zu durchbrechen, ist extrem schwierig. Insbesondere wenn man sich permanenter Kritik einer breiten Öffentlichkeit gegenübersieht.

Doch die neue Corona-Situation – hohe Impfquote, immunisierte Risikogruppen, geringe Hospitalisierungsquote – machen neue Ansätze notwendig. Die politisch Verantwortlichen dürfen nicht länger Gefangene ihrer Rhetorik des vorigen Jahres bleiben. Wir müssen raus aus der Logik maximaler Risikovermeidung. Sonst sitzen wir alle geimpft und mit Maske vor dem Weihnachtsbaum, weil gerade die Sigma-, Tau- oder Ypsilon-Variante die Runde macht.

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