Nord Stream 2 - Oberste Meeresleitung

Wladimir Putin hat Kanzlerin Angela Merkel im Streit um die Nord-Stream-2-Pipeline zugesagt, auch zukünftig Gas durch die Ukraine zu leiten. Nun kämpft US-Präsident Donald Trump gegen die Pipeline. Hat Merkel hat die geopolitische Dimension des Riesenprojekts unter­schätzt?

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Rund 1200 Kilometer lang soll die Röhre vom russischen Wyborg bis ins deutsche Lubmin werden / picture alliance
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Christian F. Trippe ist Korrespondent der Deutschen Welle und lebt in Berlin. Zurzeit arbeitet er gemeinsam mit dem Leipziger Autor Ulli Wendelmann an einem Dokumentarfilm über Nord Stream 2. Die Ko-Pro­duk­tion zwischen MDR und 
DW wird im Frühjahr 2018 im deutsch-französischen Kanal Arte zu sehen sein.

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Die Kennzahlen und Rahmendaten sind eindeutig. Aus rein wirtschaftlicher Sicht dürfte kaum einer am Projekt Nord Stream 2 zweifeln. Europa braucht neue Primärenergiequellen, weil die britische, die norwegische und die niederländische Gasförderung kontinuierlich zurückgehen – um durchschnittlich 2,5 Prozent in jedem Jahr. Russisches Erdgas ist preiswert. Nun eine zweite Röhre neben der bestehenden Ostseepipeline Nord Stream zu verlegen, gilt technisch und planerisch als nicht sonderlich aufwändig. Die voraussichtlichen Baukosten von rund zehn Milliarden Euro könnten sich dementsprechend relativ rasch amortisieren. 

So zumindest kalkuliert ein vom russischen Energiekonzern Gazprom geführtes Konsortium, das sich vor zwei Jahren zusammenfand. Etwa die Hälfte von dessen Anteilen verteilt sich auf die beiden deutschen Unternehmen Uniper (ehemals Eon) und Wintershall (BASF-Tochter), auf die niederländisch-­britische Shell, die österreichische OMV und die französische Engie. Die fünf europäischen Konzerne und Gazprom warten nur darauf, dass die Pipe­linebauer damit beginnen, die zweite Energieader in der Ostsee zu verlegen. Rund 1200 Kilometer lang soll die Röhre werden, vom nordwestrussischen Wyborg bis zum vorpommerschen Lubmin bei Greifswald. 

Energischer Protest

Doch schon als das Projekt angekündigt wurde, begann eine zum Teil wüste Debatte um das Für und Wider – und sie hält bis heute an. Die Bundesregierung, allen voran Bundeskanzlerin Angela Merkel, verteidigt Nord Stream 2 als rein wirt­schaftliches Projekt. Aber selbst Parteifreunde widersprech­en dem energisch. „Seit das Feuer erfunden worden ist, ist Energie eine politisch-strategische Angelegenheit“, sagt Elmar Brok, CDU-Urgestein, anerkannter Außenpolitiker und der dienstälteste Abgeordnete im Europaparlament. „Das haben offensichtlich manche Leute in Deutschland nicht verstanden.“ Derzeit bezieht die EU rund ein Drittel ihres Erdgases aus Russland; mit Nord Stream 2 dürfte sich diese Importquote in Zukunft auf 40 Prozent steigern. Elmar Brok will eine derart enge Bindung an Putins Staatswirtschaft nicht hinnehmen: „Ich möchte von niemandem, der ein anderes europäisches Land überfällt und ein Autokrat ist, in einem solchen Umfang abhängig sein.“ 

Broks Kritik klingt noch gemäßigt verglichen mit dem, was vor allem aus Ost- und Mitteleuropa zu hören ist. Der slowakische Ministerpräsident Robert Fico etwa sieht in dem Projekt einen „Verrat“ – begangen von den Deutschen. Schon die erste Nord-Stream-Röhre hatte Mitte der 2000er Jahre ähnlich historisch aufgeladene Diskussionen provoziert. In Polen wurde sie gern mit dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 verglichen, jenem Abkommen, in dem die beiden Diktato­ren Ostmitteleuropa unter sich aufgeteilt hatten. „Das ist ein normales Wirtschaftsprojekt“, es ziele allein auf die Gewährleistung von Europas Energiesicherheit, hält Russlands Premier Dmitri Medwedew dagegen. Angela Merkel hätte es nicht schöner sagen können. 

USA sind ausdrücklich dagegen

In den nächsten Monaten entscheidet sich, ob Nord Stream 2 gebaut oder in der Schlussphase noch abgefangen wird. Das Endspiel um die Röhre ist eröffnet. Es wird vor allem in Brüssel und in Washington ausgetragen. Die EU-Kommission hatte zwar versucht, über ein Mandat der Mitgliedsländer direkt mit Moskau zu verhandeln, scheiterte damit aber. Doch die Pipelinegegner suchen neue Wege, um das Projekt zu verzögern und letztendlich zu verhindern.

In den USA hatte der Kongress im Juli über eine Art Vorratsbeschluss den Weg für weitere Sanktionen gegen Russland bereitet. Vordergründig sollten sie dem ungeliebten Präsidenten Donald Trump russlandpolitisch die Hände binden. Aber die Sanktionen könnten auch den Bau der Ostseepipe­line torpedieren. Nord Stream 2 wird in dem Sanktionsbeschluss explizit als unerwünschtes Projekt genannt, dem Export von US-Energieträgern Vorrang eingeräumt. Der Historiker Gregor Schöllgen nannte das in der FAZ eine „Kriegserklärung“ der USA an Europa. Weniger martialisch erkennt Kirsten Westphal, Energieexpertin der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, eine „historisch nie da gewesene Situation, dass die USA und Russland um Marktanteile in wichtigen Märkten konkurrieren“.

Sozialdemokratische Ostpolitik

Denn die USA verfügen mittlerweile über Fracking-Gas, das sie als Flüssiggas (LNG) auf die Weltmärkte drücken wollen. Politischer Widerstand gegen Nord Stream 2 aus purem Gewinnstreben? So zumindest sieht es Sigmar Gabriel, der sich erst als Wirtschafts- und dann als Außenminister für das Projekt starkgemacht hat. Gabriel steht in der Tradition sozialdemokratischer Ostpolitik, die mit den Namen der drei SPD-Bundeskanzler verbunden ist: „Wandel durch Annäherung“, hieß einst die Losung, mit der Willy Brandt und sein Berater Egon Bahr 1970 das erste Erdgasröhrengeschäft mit der damaligen UdSSR durchgeboxt hatten – auch damals gegen den Widerstand des Hauptverbündeten USA. Elf Jahre später sollte sich das Muster wiederholen: Bundeskanzler Helmut Schmidt ignorierte die Mahnungen aus Washington und schloss mit dem Kreml ein Erdgasgeschäft ab. Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan erst wenige Monate zuvor störte die energiepolitische Harmonie zwischen Moskau und Bonn nicht.

Das klingt vertraut – heute, da Altbundeskanzler Gerhard Schröder Kritik an seinem Engagement als Aufsichtsratschef im Nord-Stream-2-Konsor­tium nicht gelten lässt; heute, da Moskau wieder aggressive Außenpolitik betreibt, jetzt nicht mehr sow­jetisch, sondern imperial-großrussisch. Die ursozialdemokratische Hoffnung, die Moskauer Macht­elite durch Energiegeschäfte mäßigen zu können, scheint durch nichts zu erschüttern zu sein. 

Der ukrainisch-russische Gaskrieg

Süd-Osteuropa ist der zweite Schauplatz des Great Game um Gas und Macht. Dort wird es deutlich härter ausgetragen als in Nord­europa. Der quasistaatliche russische Gasriese Gazprom plante hier eine Leitung quer durch das Schwarze Meer, von Südrussland bis nach Warna in Bulgarien. South Stream sollte Zentraleuropa und Italien mit russischem Gas beliefern. Mit diesem Röhrenprojekt reagierte Russland auf den sogenannten „Gaskrieg“ im Winter 2008/2009. Wochenlang waren hierbei Bulgarien, die Republik Moldau, die Slowakei und Serbien von jeglicher Erdgaszufuhr abgeschnitten. Die Folgen: Hunderttausende froren, Industriebetriebe machten dicht, vielerorts wurde der Kältenotstand verhängt. Gazprom verlor nach Kreml-Angaben in diesen Winterwochen mehr als eine Milliarde US-Dollar. 

Zum „Gaskrieg“ kam es, weil sich die Spannungen zwischen der Ukraine und Russland wieder einmal in der Energiepolitik entladen hatten – nicht zum ersten Mal, aber so heftig wie nie. Moskau warf Kiew vor, seine Gasrechnungen nicht bezahlt und Gas aus dem maroden Pipelinesystem abgezweigt zu haben. Kiew beschuldigte Moskau, die Ukraine mit sittenwidrigen Gaslieferverträgen wirtschaftlich und politisch knebeln zu wollen. Der Streit gipfelte darin, dass Russland die Gaslieferungen einstellte und die Ukraine die Durchleitung nach Westen blockierte. Die Eiszeit zwischen zwei ehemaligen Sowjetrepubliken bescherte Hunderttausenden EU-Bürgern verfrorene Weihnachten. 

Das Reverse Flow-Verfahren

Der russisch-ukrainische Gasstreit wird seit Jahren vor einem internationalen Stockholmer Schiedsgericht verhandelt; kürzlich wurde der Ukraine dort in einigen Punkten recht gegeben. Das wird ihr aber kaum helfen, sich für die bisherige Rolle als Transitland für russisches Gas zu empfehlen. Das Gastransportsystem der Ukraine gilt als veraltet, notwendige Investitionen in die Erneuerung von Röhren und Pumpen blieben bislang weitgehend aus. Allerdings klaffen die Schätzungen weit auseinander, wie teuer die Sanierung würde. 

Karte: Hansjakob Fehr

Moderne ukrainische Anlagen gibt es bei Uschhorod zu besichtigen, einer Kleinstadt auf der Grenze zur Slowakei. Hier laufen drei Pipelines aus Russland zusammen, der Gasstrom wird in blau-gelb lackierten Stationen verdichtet und durch die transkarpatischen Berge in die Slowakei gepumpt. Dort lagert das Erdgas kurz in Speichern, wird mit Gas aus der EU gemischt und dann sofort zurückgepumpt in die Ukraine, Hunderte Kilometer nach Osten. Das Verfahren nennt sich Reverse Flow – und die Ingenieure auf der Gasstation sind sehr stolz darauf, diesen Umkehrstrom technisch zu beherrschen. Dabei mutet die Prozedur absurd an: Gas aus Russland wird nach einem technischen Moment als EU-Gas reimportiert – und ist dann für die Ukraine preiswerter, als es der Direktbezug russischen Gases auf deutlich kürzerem Transportweg wäre. 

Politisches Tauziehen

Es besteht kein Zweifel, die Preise von Gazprom richten sich nicht nur nach Kaufkraft und Marktgeschehen, Putin macht mit Pipelines Politik. Gazprom muss bei alldem eine Doppelrolle spielen: Einerseits soll der Konzern auf seinen Börsenkurs achten, andererseits hat er die geopolitischen Interessen der Kreml-Führung zu berücksichtigen. Wobei letztere im Zweifel den Ausschlag geben. Das Ziel der russischen Führung, die Ukraine als Transitland auszuschalten, macht das Land verwundbarer. Dieser Einschätzung widersprechen nicht einmal die Befürworter der zweiten Nord-Stream-Röhre. Sie fügen allerdings an, mit dem politisch erzwungenen Reverse Flow sei Kiew doch ausreichend kompensiert. 

Auf diese geopolitische Gemengelage im Gefolge der Gaskrise hat die Europäische Union mit einer Energieunion geantwortet: Diversifizierung bei Lieferanten und Lieferwegen, weg von Importabhängigkeiten, Förderung des Energiemixes, Schaffung eines EU-weiten Energiemarkts. Der geballten Angebotsmacht von Gazprom versucht die EU ihre Macht als Nachfragekartell entgegenzusetzen. Die Kritiker der geplanten zweiten Ostseepipeline weisen immer wieder darauf hin, dass diese übergeordneten politischen Ziele kaum mit Nord Stream 2 in Einklang zu bringen sind. 

Der Ukraine-Krieg und seine Folgen

Putins energiepolitisches Powerplay ist seit Jahren bekannt, im Westen wird es manchmal etwas verdruckst als „Ökonomisierung der Außenpolitik“ bezeichnet. Seit Anfang 2009 betreibt Russland den Bau einer Pipeline im südlichen Korridor durch das Schwarze Meer. Das Ziel, die Ukraine als Transitland zu umgehen, ist somit älter als 2014 – jenem Jahr, in dem die russlandfreundliche Regierung in der Ukraine durch den Maidan-Aufstand vertrieben wurde. Die Folgen des Machtwechsels in Kiew sind bekannt. Im Handstreich annektierte Russland anschließend die ukrainische Halbinsel Krim und begann damit, separatistische Stimmungen in der Ostukraine zu schüren. Russland lieferte den Separatisten Waffen, es intervenierte mit Spezial­kräften und Söldnern und setzte auch mehrmals reguläre Armeeeinhei­ten dort ein. Den Krieg im Donbass nennt die russische Führung unbeirrt einen „Bürgerkrieg“ und leugnet ihre Verstrickung.

Ein Leugnen, auf das die USA und die EU mit Sanktionen reagierten. Zunächst gegen Personen, dann gegen Wirtschaftsbetrie­be, ganze Branchen und den Finanzsektor. Parallel dazu versuchte die EU mit allem, was sie rechtlich und politisch aufzubieten hatte, den Bau von South Stream zu hintertreiben. Besonders auf Bulgarien wurde erheblicher Druck ausgeübt, auch aus den USA und aus Deutschland. Immer wieder wurde versucht, das sogenannte „dritte EU-Energiepaket“ auf die geplante Röhre anzuwenden. Gazprom sollte mürbe werden. Im Kern schreibt dieses Gesetzespaket vor, dass Gasanbieter und Netzbetreiber wirtschaftlich und rechtlich voneinander getrennt sein müssen. Auf das Bestreben der Russen, eine geschlossene Wertschöpfungskette zu kontrollieren, antwortet die EU mit ihrer Forderung nach „Unbundling“, nach der Entflechtung von Marktmacht. Unausgesprochen geht es dabei immer um Geopolitik, um die Sorge, dass ein quasistaatlicher Konzern wie Gazprom eine politische Agenda im Gepäck haben könnte. Für das dritte Energiepaket hat sich im Brüsseler Jargon der Begriff „Lex Gazprom“ eingebürgert. Mit Ausbruch der Ukrainekrise wurde es von den EU-Unterhändlern besonders pingelig ausgelegt. 

Leere Drohungen

Ende 2014 platzte dem russischen Präsidenten Wladimir Putin schließlich der Kragen. Er – und nicht etwa Gazprom-CEO Alexej Miller – gab das Ende von South Stream bekannt: „Russland wird seine Ressourcen in andere Regio­nen der Welt transportieren. Wir werden andere Märkte erschließen, und Europa wird diese Mengen nicht erhalten, jedenfalls nicht von Russland“, so Putins Drohung damals. Heute wissen wir: Letztlich war das Theaterdonner. Inzwischen baut Gazprom im Schwarzen Meer „Turk Stream“ – eine abgespeckte Version von South Stream. Das Gas soll nun nicht über Bulgarien, sondern in die Türkei fließen. Russlands viel beschworene Wende nach Osten hat energiepolitisch nicht funktio­niert. Mit China gibt es zwar Lieferverträge, die aber sind für Gazprom weder sonderlich vorteilhaft noch ertragreich. Die besten Kunden sind nach wie vor in Europa. 

Diesen Hintergrund muss sehen, wer das politische Beben verstehen will, das Nord Stream 2 ausgelöst hat. Der damalige EU-Energiekommissar Günther Oettinger hatte im März 2014 angekündigt, er werde den Bau von South Stream verzögern – so, wie es wahrscheinlich jeder Energiekommissar auf dem Höhepunkt der Krimkrise getan hätte. Doch Oettingers Nationalität leistet der nach wie vor existenten bösen Brüsseler Erzählung Vorschub, deutscher Druck habe South Stream in Brüssel torpediert, während insgeheim bereits an Nord Stream 2 gearbeitet worden sei. Das wäre in der Tat ein energiepolitisches Schurkenstück. Nur fehlt dazu jeglicher Beleg. Es bleibt ein politisches Konstrukt. 

Deutschlands Alleingang in der EU-Energiepolitik

Befeuert hat diese Sicht vor allem der damalige italienische Premier Matteo Renzi. Während der römische Eni-Konzern noch mit 20 Prozent an South Stream beteiligt war, spielt Italiens Energiewirtschaft bei Nord Stream 2 keine Rolle mehr. Auf dem EU-Gipfel im Dezember 2015 kam es zum Showdown zwischen Renzi und Bundeskanzlerin Merkel. Der italienische Regierungschef fühlte sich von der Deutschen hintergangen. Nach der Krimannexion und dem Kriegsbeginn in der Ostukraine hatte die Berliner Bundesregierung die gesamte EU auf einen Sanktionskurs gegenüber Russland eingeschworen. Es waren die Berliner, die seitdem dafür sorgen, dass diese Sanktionen alle sechs Monate verlängert werden – gegen Widerstände vor allem südeuropäischer Länder, deren fragile Ökonomien Einbußen im Russlandgeschäft lange nicht so souverän verschmerzen können wie die robuste deutsche Wirtschaft. 

Die neuerliche nordeuropäische Ener­gieallianz zwischen Moskau und Berlin brachte Matteo Renzi auf die Palme. Er erinnerte an das Aus für South Stream und fragte, wie das Nord-Stream-Projekt „plötzlich und ganz still“ geboren worden sei. „Ist das eine energiepolitische Entscheidung der EU?“ Renzis rhetorische Frage verhallte. Die Bundesregierung drang erfolgreich darauf, dass aus der Schlusserklärung des EU-Gipfels kritische Worte zur Unvereinbarkeit von Nord Stream 2 mit den Zielen der Energie­union gestrichen wurden. 

Die Deutschen haben in Brüssel den Ruf, in Energiefragen eine Doppelmoral zu pflegen, hinter der mehr als nur wirtschaftliche Interessen stehen könnten. Hege­moniestreben? Ein deutsch-russischer Sonderweg? Deutschland würde mit Nord Stream 2 und als privilegierter Partner Russlands zum zentralen Gas-Hub der EU. Der Russlandexperte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Stefan Meister, sagt, Merkel habe „die politische Sprengkraft in der Europäischen Union völlig unterschätzt“. Deutschland konter­kariere teilweise die Sanktionspolitik: „Solange große russische Staatsunternehmen solche Projekte machen, haben sie relativ wenig Probleme mit Sanktionen.“ Deren Gewinne stabilisierten das putinsche Herrschaftssystem.

„Wir können alles. Außer Geopolitik“

In Brüssel versuchen die Gegner von Nord Stream 2 nun, das EU-Recht rückwirkend zu ändern. Genau genommen soll eine Rechtslücke geschlossen werden. Denn bislang bleibt offen, ob für Pipelines, die über den Seeweg kommen, EU-Recht oder nationales Recht gilt. „Natürlich wissen wir, dass es einen politischen Aspekt gibt“, räumt Maros Sefcovic ein, in der EU-Kommission für die Energieunion zuständig und entschiedener Kritiker der deutsch-russischen Allianz: „Uns ist klar, dass hier verschiedene Rechtslagen aufeinandertreffen. Deswegen müssen wir einen Weg finden, wie russisches Recht, internationales Seerecht und EU-Recht angewendet werden können.“ Rechtsvorschriften rückwirkend zu ändern, ist heikel. Kirsten Westphal von der Stiftung Wissenschaft und Politik findet die Debatte befremdlich. Sie glaubt, der Pipelinebau sei nicht mehr aufzuhalten: „Es geht tatsächlich um die Bedingungen für den Betrieb, die jetzt im Fokus stehen.“ Russlands Premier Medwedew versteht die Botschaft des hinhaltenden Brüsseler Widerstands anders: Das alles wirke auf ihn wie der Versuch, „Russland zu zwingen, das Projekt abzusagen“, zitiert ihn die Nachrichtenagentur Interfax. 

Ein Ausstieg Russlands würde sicherlich vielen gefallen, in Brüssel, in Ostmitteleuropa und in der Ukraine sowieso. Doch Gazprom kann kaum aussteigen. Russland ist auf seine Einnahmen aus dem Gasgeschäft ebenso angewiesen wie die Europäer auf sichere Energiezufuhren. Auch wenn Russland die EU nicht mit am Tisch haben will, sondern stattdessen auf bewährte bilaterale Modelle setzt. Die Moskauer Elite sieht sich selbst längst als strategischen Widersacher der EU. 

Nach der ukrainisch-russischen Gaskrise hatte ein Spötter in Brüssel – den Dialekt des einstigen Energiekommissars nachahmend – einen damals populären Werbeslogan auf die EU umgemünzt: „Wir können alles. Außer Geopolitik.“ Neun Jahre später hat die EU-Spitze dazugelernt. Sie muss nun aber mit ansehen, dass Deutschland als mächtigstes Mitgliedsland die Energieunion sabotieren will.

Dieser Text stammt aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.

 

 

 

 

 

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