Nahrungskrise durch Ukraine-Krieg - Weizen als Waffe

Infolge des Ukrainekrieges werden Getreide und Dünger knapp. Denn die Ukraine gilt als die Kornkammer der Welt. Gerade afrikanische Länder sind auf Weizenimporte aus Russland und der Ukraine angewiesen. Eine globale Nahrungsmittelkrise droht.

Ein Mühlenarbeiter im Jemen trägt Säcke mit importiertem Weizen / dpa
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Autoreninfo

Jan Grossarth ist Professor für Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft an der Hochschule Biberach. Von ihm erschien 2019 das Buch ,,Future Food - Die Zukunft der Welternährung" (wbg Theiss).

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Rodina Mat, die Mutter Heimat. Mit Schwert, Schild und eisernem Blick nach Moskau triumphiert sie, als monumentale Statue aus der Sowjet­zeit, über die vertriebenen faschistischen Feinde. Imposante Exemplare der Mutter Heimat stehen jeweils in Wolgograd und in Kiew. Zwischen dem russischen Wolgograd – früher Stalingrad – und der Hauptstadt der Ukraine liegt weite Steppe. Hier befinden sich auch die berühmten Schwarzerdeböden, die dieses Land zu einer wahren Kornkammer der Welt machen.

Putins Invasion ist auch ein Kampf um fruchtbares Land und um Transportwege, die wichtigen Getreidefrachthäfen Richtung Süden. Das Schwarzerdeland hält für die russische Expansion Mittel der Herrschaft bereit, die langfristig mächtiger sind als das Schwert: Weizen, Mais, das Öl der Sonnenblumen.

Das Land gehört der Ukraine. Mehr als 30 Millionen Hektar Ackerland gibt es hier, das ist rund ein Drittel der Ackerflächen der Europäischen Union. Die große globale Lebensmittelkrise von 2007 und 2008, die weite Teile der arabischen Welt destabilisierte, ist auch hier nicht vergessen. Ihr waren Missernten und Export­restriktionen in der Ukraine vorangegangen. Ukrainisches Land war seitdem als Geldanlage heiß begehrt.

Die Bedeutung der Kornkammer Ukraine

Die Ukraine wird als Tummelplatz für Agrarinvestoren beschrieben. Vor allem westlicher: Die meisten ausländischen Großinvestoren kommen laut der Datenbank Landmatrix aus europäischen Staaten, aus der Schweiz (Glencore), den Vereinigten Staaten. Cargill aus Amerika zum Beispiel, einer der großen Getreidehändler der Welt, hält Anteile an der großen ukrainischen Holding Ukrlandfarming. Aber Russland – selbst ein nicht minder großer Getreideexporteur – war aus dem großen ukrainischen Weizenroulette auch nicht ausgeschlossen. Russisches Geld floss in die Pacht Hunderttausender Hektar ukrainischen Landes. Die Ernten anderer Großflächen übernahmen saudische Holdings, zur Versorgung des Wüstenlands. Und auch deutsche Landwirte pachteten Flächen und Betriebe, darunter bayerische Biobauern – denn in Deutschland ist Biogemüse so knapp wie Biogetreide.

Ist Putins Krieg auch einer um fruchtbaren Boden? Es gibt gewiss nicht nur den Fluch des Erdöls, sondern auch den Fluch des Weizens. Erdöl füttert Panzer und nährt Despoten. Doch wer Weizen hat, und sonst nicht viel, dem droht der Überfall.

Die unmittelbaren Kriegsfolgen betreffen Lager und Felder. Bomben zerstören Böden, Silos, Maschinenhallen samt Inhalt. Alex Lissitsa, zweiter Vorsitzender des Osteuropaausschusses der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft, zeigte der Tagesschau Fotos von zerstörten Anlagen seiner Agrarholding IMC in der Ukraine. Trotzdem versucht diese, ihre 124 000 Hektar Agrarfläche weiter zu bestellen. Lissitsa berichtete von zwei Bombardements auf Getreidelager, bei denen 20 000 Tonnen Mais verbrannten.

Aus vielen Gründen steht infrage, wie viel Weizen die Ukraine in diesem und dem kommenden Jahr für sich und die Welt noch wird ernten können: Auch weil viele Landwirte und Feldarbeiter derzeit ihr Land gegen die russischen Invasoren verteidigen. Weil Dieseltanks brennen. Weil die Verbindungen zum Schwarzen Meer verloren sind. Und die Landwege nicht die großen Frachtmengen führen können. 

Rund 2 Prozent der Welternten von Weizen kommen in normalen Jahren aus der Ukraine. Das mag zunächst nicht nach schicksalhafter Abhängigkeit klingen. Aber die Rolle des osteuropäischen Landes als Exporteur für unterversorgte Länder in Afrika ist sehr groß. Laut den Vereinten Nationen stammt rund ein Drittel des Weizenbedarfs von 25 afrikanischen Staaten aus Russland und der Ukraine. Ägypten, Sudan und das chronisch hungernde Somalia sind am stärksten abhängig, aber auch Indonesien, Pakistan, Bangladesch und Marokko. Bäcker im Jemen bangen ebenso um den Nachschub des Weizens wie die Menschen in den Palästinensergebieten, deren Versorgung zu 95 Prozent vom Weizenimport abhängt. In Ägypten steigen die Inflationsraten bereits bedrohlich an. Auch in der Türkei verschärft die Getreidepreissteigerung die ohnehin große Geldentwertung.

Hunger als Kriegswaffe?

Der Welthunger steigt schon seit einigen Jahren wieder – nach guten Jahrzehnten, nach einem langen Rückgang der Anzahl der weltweit Hungernden, relativ und absolut betrachtet. Russlands militärische Aggression zerstört nun auch den Traum, dass das selbst gesetzte Ziel der Vereinten Nationen erreicht wird – eine Welt, die 2030 frei vom Hunger sei. Grundnahrungsmittel waren nach einem weiteren kräftigen Anstieg im April global so teuer wie seit 50 Jahren nicht. Besonders stark stieg der Preis für Weizen und Pflanzenöle.

Die globale Ernährungsfrage ist unmittelbar mit dem russischen Kriegstreiben verbunden. Die Abhängigkeit von beiden Kriegsparteien – Russland und der Ukraine – in Ernährungsfragen erklärt die diplomatische Zurückhaltung betroffener Empfängerstaaten, von Ankara bis Saudi-Arabien. Beide treten als neutrale Vermittler auf. Parteinahme zu vermeiden, scheint ihnen geboten. „Staaten wie Ägypten, Algerien, Marokko, Tunesien oder der Irak, die auf Weizenimporte aus Russland und der Ukraine angewiesen sind, sehen in einer neutralen Haltung offenbar den besten Weg, um Auswirkungen auf ihre Ernährungslage zu minimieren“, analysierte der russische Exil-Journalist Ruslan Suleymanov in einem Beitrag für die Friedrich-Ebert-Stiftung.

Deutet man den Krieg – neben den politischen, historischen, ideologischen Motiven – auch als Kampf um Häfen, Äcker und strategischen Zugang zu Nahrungsressourcen, so offenbart sich ein vielschichtiges Puzzle von Interessen und Zusammenhängen. Während in den deutschsprachigen Medien in den ersten Kriegswochen viel über Getreideknappheit spekuliert wurde, ging eine mindestens so bedeutsame Facette des Themas nahezu unter: die Abhängigkeit der globalen, also auch ukrainischen Ernten von russischem Dünger. Putin droht Westeuropa mit drei Waffen: Entzug des Erdgases, Abwurf der Atombombe – und einer enormen Verschärfung der globalen Ernährungskrise. Letzteres ist eine nur angedeutete Drohung. Russland werde weiter Düngemittel liefern, niemand wolle schließlich gern hungern, ließ der Kreml-Herrscher andeutungsvoll wissen.

Nationaltrauma Holodomor

Für Brüssel waren die Worte verständlich. Und die Taten nicht minder. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell benannte die russischen Bombardements von Getreidelagern als strategisches Vorgehen. „Sie provozieren Hunger in der Welt, indem sie Weizenexporte blockieren und Lagerbestände in der Ukraine zerstören“, sagte er. Und dem EU-Agrarkommissar, dem Polen Janusz Wojciechowski, kam das Muster offenbar bekannt vor. Es sei, sagte er, die russische Methode, Hunger auszulösen: „Sie setzen dieses Mittel bewusst ein, um andere Nationen zu unterwerfen.“ Die Armee attackiere sogar Bauern bei der Feldarbeit, sagte er. Damit spielte Wojciechowski auf den Holodomor an, den Hungertod von mehreren Millionen Menschen auf dem Gebiet der heutigen Ukraine in den 1930er Jahren. Er ist bis heute ein ukrainisches Nationaltrauma: Das Schicksal einer Bevölkerung, die mit den fruchtbarsten Böden der Welt beschenkt ist, aber politisch ohnmächtig war.

Der Hunger war ein politisches Druckmittel Moskaus. Stalin ließ dem Teil der Sowjetunion, in dem er wenig Sympathie erfuhr, radikal Lebensmittel entziehen und verschlimmerte so die große Dürrenot bis zum Massenmord. Das wirkte wie eine sowjetische Umerziehungsmaßnahme. Die Kleinbauern hatten widerständige Seelen – so wie die bürgerliche Intelligenz, die in fernen Lagern verschwand und niemals zurückkehrte. Leichen der verhungerten Bauern und ihrer Kinder lagen damals auf den Straßen von Charkiw und in vielen Dörfern. Die Fotos der Gräueltat des Holodomor sind schwarz-weiß. Sonst ähneln sie denen der Leichen von Zivilisten am Straßenrand im russischen Angriffskrieg von 2022.

Putin beruft sich selbstverständlich nicht auf den Holodomor, aber auf die glorreiche gemeinsame Geschichte Russlands mit der Ukraine, die schon in den seligen Eroberungszügen des Heiligen Wladimir im 10. Jahrhundert ihren vortrefflichen Anfang genommen hatte. Unter den Bedingungen des Mangels herrschten schon viele Zaren; unter den Bedingungen der Fülle hingegen wachsen bürgerliche Freiheitssehnsüchte beziehungsweise: Sie erhalten eine stoffliche Grundlage.

Putins zynisches Spiel

Es ist auch ernährungspraktisch heute eine andere Zeit als in den Jahren des Holodomor. Die zumindest indirekt formulierte Androhung vom „Hunger als Waffe“ muss man im Jahr 2022 anders verstehen. Denn die globale Vernetzung, die Abhängigkeit der Welternährung vom Handel mit Nahrungs- und Düngemitteln, die Bevölkerungsverhältnisse von Europa, Russland, Afrika, China sind ganz anders. Die russische Drohung enthält daher neue Flüchtlingsströme. Kämen Traktoren und Erntemaschinen in der Ukraine dauerhaft zum Erliegen, wäre politische Instabilität in weiten Teilen Afrikas wohl die Folge. Und Putin könnte dann wieder einmal mit zynischer Freude zusehen, wie sich weitere Flüchtlingsmillionen auf den Weg nach Europa machen.

Russland könnte auch in dem einen oder anderen afrikanischen Staat selbst als Helfer in der Not einspringen, denn seine Getreidesilos sind gut gefüllt – und wären nach einer Eroberung der Ukraine noch voller. So lassen sich nicht nur neue Geschäftsfelder erschließen, sondern politischer Einfluss als Weltmacht sichern. Den Wiederaufbau in der Ukraine übernähmen russische Bauunternehmen – so wie derzeit in Syrien.

Teile und herrsche – destabilisiere und stabilisiere. Das ist die bis vor dem Ukrainekrieg vielfach bewährte Methode Putins. Und nicht nur der Entzug von Getreide wird zur Kriegswaffe. Weniger beachtet ist die Abhängigkeit der weltweiten Ernährung vom russischen Erdgas, von Kali und Phosphor. 

Düngerspekulation

Dafür steht etwa Eurochem. Der russisch gesteuerte Konzern mit Sitz in der Schweiz ist einer der weltweit größten Hersteller von Stickstoffdünger. Mit rund 24 000 Mitarbeitern fördert Eurochem in Russland die Düngerrohstoffe Kali und Phosphor. Eurochem betreibt aber auch im belgischen Antwerpen eines der größten Stickstoffdüngerwerke Europas. Stickstoff, Phosphat und Kali sind für jede Pflanze existenziell. Das fand der deutsche Chemiker Justus von Liebig vor mehr als 150 Jahren heraus. Etwa die Hälfte der globalen Erntemenge ist dem Einsatz von Kunstdünger zu verdanken. 

Das Eurochem-Werk in Antwerpen gehörte einst der BASF. Der deutsche Chemiekonzern verkaufte es an den russischen Oligarchen Andrei Melnitschenko, der mit Weitsicht auf künftige Knappheiten spekulierte. Stickstofffabriken nutzen Erdgas als Energieträger, aber vor allem auch als Ausgangsstoff. Es war daher betriebswirtschaftlich schlau, die Wertschöpfungskette enger an Russland zu binden. Fortan transportierten russische Tanker das Erdgas in die belgische Hafenstadt. Der Oligarch lebte auf einer Jacht, draußen auf den Weltmeeren, und spendete für Schulen und Stiftungen in Russland. Nun zieht Melnitschenko nicht mehr die Fäden, zumindest pro forma nicht. Aufgrund Schweizer Sanktionen musste er sich aus der Eurochem zurückziehen.

Afrikanische Länder sind auf Weizenimporte aus Russland und der Ukraine angewiesen / dpa

An der Abhängigkeit auch der deutschen Ernten von russischem Gas ändert all das nichts. Noch vor 40 Jahren versorgten deutsche Düngerkonzerne die Landwirte Westeuropas. Inzwischen hängt vieles an russischen Lieferanten oder an der saudischen Aramco. Aber es gibt auch „transatlantischen“ Ersatz: Lieferanten aus Amerika, Yara aus Norwegen und einige Hersteller aus Mitteleuropa, etwa Polen, Tschechien. Nur sind auch Letztere auf russisches Gas als Rohstoff angewiesen.

Anfang der 1980er Jahre produzierten BASF, Hoechst und Ruhrgas Stickstoffdünger, dann trennten sie sich von dem wenig innovativen Geschäft. Mit dem Oligarchen Andrei Melnitschenko verlagerte sich die Machtzentrale ins schweizerische Sankt Moritz. Schon der Verlagerung des Firmensitzes war die Furcht vor EU-Sanktionen wegen der Krimannexion durch Moskau vorangegangen. Nun droht Eurochem der Zahlungsausfall und damit ein Versorgungsengpass.

Blockierte Logistik

Insbesondere aus Afrika blickt man daher besorgt nach Europa und Russland. Wobei es dort auch Unabhängigkeitsbestrebungen gibt: Der angeblich reichste Mann Afrikas, Aliko Dangote, eröffnete kürzlich in Nigeria die größte Düngerfabrik des Kontinents. Nigeria ist reich an Erdöl und Erdgas und will nun ganz Afrika mit Stickstoff versorgen.

Ein weiteres Problem, das der Krieg mit Blick auf die Ernährung der Welt mit sich bringt, ist ein Chaos in der Transportlogistik. Schon von März an gerieten wichtige Handelswege über Land ins Stocken – wie auch solche, die für die Zukunft bedeutend werden sollten. Duis­burg zum Beispiel sollte als Endpunkt der chinesischen „Seidenstraße“ ab 2023 Hunderte Güterzugladungen entladen. Durch den Krieg aber war die eurasische Strecke unterbrochen. Und akut schlimmer: Weil die Ukraine den Zugang zu den Schwarzmeerhäfen verloren hat, muss sich auch der Getreideexport neue Wege suchen. Laut des ukrainischen Agrar­rats VAR gingen noch vor dem Krieg 98 Prozent der Exporte über die nun von Russland blockierten Schwarzmeerhäfen. Die Landwege über Rumänien oder Polen sind nur stark eingeschränkt möglich. Ein Problem ist, dass die Gleisbreiten sich von Polen zur Ukraine unterscheiden; ein anderes, dass Männer zum Verladen fehlen. Die Ausfuhr von Getreide ist eingebrochen. Züge mit angeblich mehr als 20 000 Waggons voller Ladung stecken an den Grenzübergängen fest.

Ersten deutschen Mühlen ging das Getreide aus. Laut eines Presseberichts stellt etwa die fränkische Max Bauer Kunstmühle – als eine von vielen – ihre Zukunft infrage. Man erhalte kaum noch Rohstoff, eine Tonne Weizen habe sich für sie von 240 auf 440 Euro verteuert. Hinzu kommen die gestiegenen Energiekosten. Die Mühle mahlt seit 1903.

Die Lager sind (noch) voll

All dies muss nicht bedeuten, dass Westeuropa vom Wohlstand in den Hunger fallen wird. Für die kaufkräftigen Weltbürger gibt es noch genügend Möglichkeiten, Nahrungs- wie Düngemittel aus anderen Weltteilen zu kaufen – aus Nord- und Südamerika, Asien. Simulationen des Krisenfalls, die niederländische Wissenschaftler vor einigen Jahren durchgeführt hatten, ließen Europa stets als robust versorgt erscheinen. Auch die Ukraine selbst hat gegenwärtig noch mehr als genug und kündigt an, dass der Export nicht abreißen wird. Das ist allerdings auf Mais und Sonnenblumenöl bezogen; Buchweizen, Hafer, Gewürze etwa nahm Kiew schon vom Export aus.

Derzeit sind die Lager voll. Die ukrainischen Getreidereservoire sollen noch für rund drei Jahre gefüllt sein. Die weltweite Lagerhaltung ist viel besser als in Zeiten der Krise von 2007/2008, sagen die Daten der Weltagrarorganisation FAO.

Sind die Preisreaktionen womöglich übertrieben? Preise bilden sich auf Basis von Erwartungen, Prognosen. Kleine Signale führen am Getreidemarkt zu großen Reaktionen. Doch die Warnsignale mehren sich in vielen Staaten. Im von einer großen Dürre geplagten Iran ist – trotz seiner durch den Syrienkrieg bedingten strategischen Freundschaft zu Moskau – die Rede von besorgniserregenden Lagerständen der Grundnahrungsmittel. Viehzüchter können sich kein Futter mehr leisten und müssen magere Tiere notverkaufen. In Kenia und Somalia bleiben seit drei Jahren Regenfälle aus. Der Preis für Speiseöl in Mogadischu verdoppelte sich im Wochentakt. Die Elfenbeinküste beschloss einen Preisstopp für Reis und Palmöl. Südlich der Sahara ist zwar die direkte Abhängigkeit von Weizen nicht so groß, weil die Versorgung mehr auf Mais oder Cassawa (Maniok) basiert – aber auch die Preise dafür haben sich parallel zum Weizenpreis entwickelt.

Auch in Deutschland hat Russlands Überfall auf die Ukraine die Gefechtslage verändert – nämlich in dem seit vielen Jahren eingefahrenen Agrardiskurs. Der Krieg scheint die Pläne der Grünen zu erschweren, eine ökologische Agrarwende herbeizuführen – auch wenn diese längst Teil der EU-Industriestrategie „Green Deal“ sind. Die konventionellen Landwirte, seit vielen Jahren eher ungeliebte Akteure einer ökologisch orientierten Gesellschaft, scheinen im Aufwind zu sein. Die Grünen wirken in diesem Feld plötzlich ungewöhnlich desorientiert.

Fleischkonsum, Biokraftstoffe und Gentechnik

War es vor dem Ukrainekrieg bis in die CDU hinein weitgehend Konsens, auf mehr Ökolandwirtschaft und weniger Fleischkonsum zu setzen, finden plötzlich wieder die Bauernverbände medial Gehör und Sympathie, denen es vorrangig um einen möglichst ertrag­reichen Anbau geht. Ihr Argument lautet: Die Landwirtschaft müsse intensiv bleiben, denn das europäische Ziel einer Steigerung der Öko-Flächenanteile von derzeit 8 auf 25 Prozent der Ackerflächen – und weitreichender Stilllegungen von Landwirtschaftsflächen – werde zu Verknappungen des Lebensmittelangebots führen. Frankreichs Präsident Macron erklärte lapidar, der Green Deal entstamme der Zeit vor dem Krieg. So beschloss die EU, zunächst für ein Jahr jenen landwirtschaftlichen Teil des Green Deal auszusetzen, der Flächenstilllegungen vorsah. Das Argument war weniger, dass in Deutschland oder Frankreich eine Nahrungsknappheit drohe, sondern dass die EU als Exporteur für Afrika und Arabien werde einspringen müssen.

Plötzlich sind in Deutschland nicht mehr die konventionellen Bauern und ihre Lobby medialer Kritik ausgesetzt, sondern der grüne Bundesagrarminister Cem Özdemir, weil dieser starr an seinen Ökologisierungsplänen festhält.

Die zentrale Idee der Grünen besteht darin, die Fleischproduktion zu verringern. Ausstiegsprämien für Schweinehalter nach niederländischem Vorbild sind eine Idee, eine von 7 auf 19 Prozent erhöhte Mehrwertsteuer auf Fleisch die andere. Das Argument lautet: Wenn weniger Tierfutter angebaut würde – darauf entfallen derzeit 60 Prozent der Ackerflächen –, dann wäre mehr Platz für den Anbau von Brotgetreide. Eine Million Hektar Weizenfläche würde frei werden, sänke die Schweineproduktion um ein Drittel, errechneten Forscher der Universität Kiel. Die Grünen und ihnen nahe stehende Umweltorganisationen fordern jetzt mit Nachdruck eine Ernährungswende, um von Russland unabhängig zu werden.

Andererseits könne man auch mehr Brotweizen anbauen, wenn die Verwendung von Pflanzen für Biokraftstoffe und Biogas auf der Fläche eingeschränkt würde. Doch Biogas und Biosprit bräuchte man in dem Maße mehr, in dem russisches Erdgas ausfällt. 

Innovativer als die schon altbekannte Idee der Ernährungswende ist, wie sich das Verhältnis der Grünen zur landwirtschaftlichen Gentechnik verändert. Diese war in der Ökopartei fast 30 Jahre lang genauso ungewollt wie die Kernkraft. Vor ein paar Jahren aber eröffnete der damalige Agrarminister von Schleswig-Holstein und heutige Wirtschaftsminister Robert Habeck die parteiinterne Diskussion über neue Züchtungstechniken (sogenannte „Genscheren“ wie CRISPR-Cas). Nun überraschte nach Ausbruch des Ukrainekriegs auch Bundeslandwirtschaftsminister Özdemir: Er sei zu dem Thema noch in der Meinungsfindung, sagte er. 

Düngerreserve für Deutschland

In Fachkreisen ist, anders als in der medialen Debatte, längst auch das Thema des Düngers in den Fokus geraten. Der Bauernverbandspräsident Joachim Rukwied forderte von der Bundesregierung, eine nationale Reserve für Düngemittel einzurichten. Bislang gibt es eine solche Reserve nur für Lebensmittel: Erbsen, Linsen, die für den Notfall an geheimen Plätzen in Brandenburg und anderswo lagern. 

Wenn der N-P-K-Dünger (Stickstoff, Phosphat und Kali) knapp würde, dann bliebe den deutschen Landwirten immerhin der tierische Dünger. Die Gülle aus den „Tierregionen“ Nordwestdeutschlands hatte in den vergangenen Jahren wegen der übermäßig gewachsenen Schweine- und Geflügelbestände fast einen Abfallstatus erlangt – kaum jemand wollte sie haben. So wurde sie auf weite Schifffahrten in Richtung Brandenburg geschickt, wo große Flächen sie aufnehmen konnten. Im Krisenfall könnte eines Tages selbst die Massentierhaltung noch eine erfreuliche Notwirkung haben. Sie brächte den Dünger, der den Weizen nährt. Dann müsste man beinahe sagen: Gut, dass wir noch unsere Schweine haben. Man könnte sogar sagen: Das Schnitzel sichert die Freiheit.

 

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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