Mietendeckel, Enteignungen und CO. - Illusion, Täuschung, Desinteresse

In Deutschland herrscht ein öffentliches Bild vom Zustand unserer Wirtschaft, das mit der Realität nichts zu tun hat. Deswegen werden jetzt wieder Phantomdebatten über Mietdeckel, Enteignungen und noch mehr Umverteilung geführt. Damit steht unser aller Wohlstand auf dem Spiel

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Wird Deutschland immer ungerechter? Glaubt man der öffentlichen Meinung, dann ja / Illustration: Sebastian König
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Autoreninfo

Daniel Stelter ist Gründer des auf Strategie und Makroökonomie spezialisierten Diskussionsforums „Beyond the Obvious“. Zuvor war er bei der Boston Consulting Group (BCG). Zuletzt erschien sein Buch „Ein Traum von einem Land: Deutschland 2040“.

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Deutschland im Frühsommer 2019: so viele Erwerbstätige wie noch nie in der Geschichte, geringe Arbeitslosigkeit, volle Auftragsbücher – und eine Diskussion um Enteignung von Immobilien und die Kollektivierung von Unternehmen.

Blickt man auf die politische Diskussion, muss man feststellen, dass Illusionen, Täuschungen und Desinteresse den Diskurs zur ökonomischen Zukunft unseres Landes kennzeichnen. Wir Deutschen beheimaten zwar international höchst erfolgreiche Unternehmen, verstehen aber wenig von Wirtschaft. Das hat unter anderem mit der Kommunikation von Politik, Wissenschaft und Medien zu tun. Oft werden komplexe Zusammenhänge vereinfacht dargestellt, was dazu führt, dass die Bürger falsche Schlüsse ziehen und zweifelhaften Lösungsvorschlägen Glauben schenken. Höchste Zeit, dass ökonomisches Wissen und Denken bei uns eine wichtigere Rolle einnehmen.

Nehmen wir das Thema Gerechtigkeit. Folgt man der öffentlichen Diskussion, könnte man glauben, Deutschland sei ein Land, in dem es immer ungerechter zugeht. Dabei ergeben die Fakten ein anderes Bild: Nach Daten der OECD gehört Deutschland zu den Ländern mit der geringsten Ungleichheit der verfügbaren Einkommen und ist das Land mit dem geringsten Armutsrisiko. Das liegt daran, dass der Staat in erheblichem Umfang umverteilt. Nur Irland und Frankreich nivellieren den Unterschied der Markteinkommen stärker, als wir das tun. So liegt der Gini-Koeffizient (Maßstab der Gleichverteilung; 0 = alles gleich; 1 = einer hat alles, alle anderen nichts) vor Umverteilung bei rund 0,5, nach Umverteilung bei 0,29 – und dies seit mehr als zehn Jahren stabil.

„Steuerhölle“ Deutschland?

Rente, Kranken- und Pflegeversicherung, Hartz IV, Bafög, Kindergeld – alles zusammengerechnet erreichten die Sozialausgaben 2017 den Rekordwert von 965,5 Milliarden Euro (29,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) und sind damit so hoch wie noch nie in Nichtrezessionszeiten. Die Bundesregierung plant einen weiteren Anstieg der Sozialausgabenquote des Bundeshaushalts bis 2023 von derzeit 50,4 auf 52,9 Prozent. Eine Grundrente ist in diesen Zahlen noch nicht berücksichtigt.
Die andere Seite dieser Umverteilung ist die zweithöchste Abgabenbelastung aller OECD-Staaten. Nur in Belgien müssen die Arbeitnehmer mehr abgeben. Der deutsche Spitzensteuersatz beginnt beim 1,3-Fachen des Durchschnittseinkommens. In den sechziger Jahren musste man noch das 15-Fache des Durchschnittseinkommens verdienen, um zu den Spitzensteuerzahlern zu gehören. Die Schweizer NZZ spricht von der „Steuerhölle“ Deutschland.

Ein Grund dafür, dass die Markteinkommen bei uns vor Umverteilung genauso ungleich verteilt sind wie in den USA, ist der deutlich gewachsene Niedriglohnsektor. Als Niedriglohnbeschäftigter gilt, wer weniger als zwei Drittel des mittleren Lohns (Median) aller sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten erhält. 2017 war das in Westdeutschland bei einem Monatsverdienst von 2226 Euro und im Osten von 1733 Euro der Fall. Rund 20 Prozent der Vollzeitbeschäftigten arbeiten zu einem Niedriglohn, wobei die Quote in Ostdeutschland mit 33,6 Prozent doppelt so hoch ist wie in Westdeutschland.
Es war Ziel der Arbeitsmarktreformen unter Gerhard Schröder, mehr Menschen in Arbeit zu bringen. Auch wenn es weitere Gründe für den Rückgang der Arbeitslosigkeit gibt (schwacher Euro, tiefe Zinsen, Exportboom), hat die Öffnung des Arbeitsmarkts im unteren Lohnbereich dazu beigetragen. Zudem erleichtert der Niedriglohnsektor die Integration der während der Flüchtlingskrise zugewanderten Menschen. So betrachtet, ist der Zuwachs im Niedriglohnbereich ein großer Erfolg.

Ein weiterer wichtiger Grund für das Anwachsen des Niedriglohnsektors sind Abgaben und Steuern. Die Erhöhung des Mindestlohns führt zu kürzeren Arbeitszeiten von Minijobbern, weil diese kein Interesse daran haben, in den Bereich der Abgabenpflicht zu rutschen. Anfangs betrug der Mindestlohn 8,50 Euro, und ein Minijobber konnte 53 Stunden im Monat arbeiten, ohne über die kritische Grenze zu kommen. Heute, nach der jüngsten Erhöhung des Mindestlohns, sind es nur noch 49 Stunden. Richtig wäre es, die Minijobgrenze direkt anzuheben, wenn der Mindestlohn steigt. Dann hätten die Betroffenen mehr in der Tasche. Doch das SPD-geführte Arbeitsministerium sträubt sich dagegen, um mehr Menschen in das Sozialsystem einzahlen zu lassen. Angeblich, um für das eigene Alter vorzusorgen (was nicht stimmt, ergeben die geringen Beiträge doch keine Altersvorsorge), faktisch, um die Finanzierung des Systems zu verbessern.

Unsaubere Diskussion

Bleibt die behauptete zunehmende Armutsgefährdung. Arm ist, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens verdient. Man muss feststellen, dass Armut schon vor der Zuwanderungswelle des Jahres 2015 ein Migrationsthema war. Bei Annahme gleicher Armutsquoten der Bevölkerungsgruppen genügt ein Anstieg des Anteils der Bevölkerung mit Migrationshintergrund von 22 Prozent 2005 auf 25,6 Prozent im Jahr 2014, um den Anstieg der Gesamtarmutsquote zu erklären. Damit ist der Anstieg der Armutsquote Folge dieser Politik.

Fazit: Der Niedriglohnsektor ist explizit gewollt – Arbeit ist besser als Arbeitslosigkeit, leichtere Integration von Migranten – und bleibt durch die Abgabenpolitik für einen Teil der Arbeitnehmer attraktiv. Die Umverteilung reduziert die Ungleichheit der am Markt erzielten Einkommen weitgehend, was Deutschland zu einem der Länder mit der gerechtesten Verteilung der verfügbaren Einkommen macht. Dafür ist die Belastung der Arbeitnehmer erheblich, was zu der umgekehrten Frage führt: Ist das gerecht?

Unsauber ist auch die Diskussion zu Vermögen und Vermögensverteilung. Politiker betonen immer wieder, Deutschland sei ein „reiches Land“ und begründen damit ihre jeweiligen Projekte. Zwar verdienen wir zurzeit konjunkturbedingt gut, aber die deutschen Privathaushalte sind mit einem Medianvermögen von rund 60.000 Euro deutlich ärmer als jene anderer Euromitgliedsländer. Italiener, Spanier, Franzosen und selbst Griechen verfügen über mehr Vermögen. Kritiker führen das auf eine besonders ungleiche Vermögensverteilung zurück. In der Tat zeigen Daten der OECD, dass Deutschland in dieser Hinsicht zu den ungleicheren Ländern gehört. Der Gini-Koeffizient liegt bei 0,8, verglichen mit einem Durchschnitt von 0,7 in der OECD. Doch auch hier lohnt es sich genauer hinzuschauen.

Anreize für Vermögensbildung notwendig

Die Gründe für die geringeren Vermögen der Deutschen sind vielfältig. Da ist zum einen die hohe Steuer- und Abgabenlast, die nur wenig finanziellen Spielraum lässt. Zum anderen senkt das staatliche Rentensystem die Anreize zur privaten Vermögensbildung, wie etliche Studien zeigen. So ist einer der Gründe für das vergleichsweise hohe Vermögen der Griechen deren unzureichende staatliche Altersversorgung. Hinzu kommt, dass die Deutschen ihr Geld traditionell in vermeintlich sicheren Formen wie Sparbuch und Lebensversicherung anlegen. Die so zu erzielenden Renditen liegen langfristig deutlich unter dem Wertzuwachs von Aktien und Immobilien. Hauptgrund für das relativ geringe Vermögen der Deutschen ist die im Vergleich zu den Nachbarländern sehr geringe Eigentumsquote an Immobilien. Es wäre ein Leichtes für die Politik, dies zu ändern: Verringerung der Abgabenlast und andere Anreize für die Vermögensbildung wären notwendig.

Doch die Diskussion geht in eine andere Richtung: So werden die Wiedereinführung der Vermögens- und höhere Erbschaftssteuern gefordert. Was dabei gern vergessen wird, ist, dass in anderen Ländern ein deutlich höherer Anteil des Steueraufkommens aus diesen Quellen erzielt wird, dies aber regelmäßig mit wesentlich geringeren Einkommenssteuern einhergeht. Wenn man also diesen Weg geht, müsste er von einer Senkung der Abgaben- und Steuerlast an anderer Stelle begleitet werden.

Ein weiteres Problem ist, dass das Vermögen der Reichen überwiegend in Unternehmen gebunden ist. Hier spiegelt sich die erfolgreiche mittelständische, von Familienunternehmen geprägte Wirtschaftsstruktur. Steigt dort die Steuerbelastung, hat das unmittelbar Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort, weshalb die Politik sich zu Recht bisher damit zurückhält.

Bleiben die Vermögen der Superreichen, wie beispielsweise der Eigentümer von BMW, die Kevin Kühnert gerne enteignen möchte. Spielen wir es einmal durch: Wenn wir die 45 reichsten deutschen Familien enteignen, erbringt das nach Zahlen des DIW 214 Milliarden Euro – einmalig. Der Bundeshaushalt beträgt in diesem Jahr fast 350 Milliarden. Das Geld reicht also für gerade sieben Monate. Klarer kann man nicht zeigen, dass diese Diskussion ökonomisch nichts bringt.

Schulden steigen weiter an

Vor allem würde es nichts daran ändern, dass wir als Land – unabhängig von der Verteilung – weniger Vermögen relativ zum Einkommen haben als unsere Nachbarn. Dies liegt auch daran, dass wir unser Auslandsvermögen falsch anlegen. Allein in der letzten Finanzkrise haben wir 400 bis 600 Milliarden Euro verloren. Auch in Zukunft drohen empfindliche Verluste.

Fazit: Die Verteilung der Vermögen ist nicht das Problem. Auch die scheinbar einfachen Lösungen zur „gerechteren“ Verteilung von Vermögen erweisen sich bei genauerem Hinsehen als Mogelpackung. Die Frage ist vielmehr, weshalb wir insgesamt so wenig Vermögen besitzen. Dies zu ändern, würde sich lohnen und sollte Ziel der Politik sein.

Die „schwarze Null“ gilt als Beweis für solides Wirtschaften unserer Politiker. Seit Jahren werden Überschüsse erwirtschaftet, die Schulden sinken – so der Eindruck. Die Wahrheit sieht anders aus: Allein auf Bundesebene wurden in den vergangenen zehn Jahren rund 460 Milliarden zusätzlich ausgegeben. 280 Milliarden Mehreinnahmen, 140 Milliarden gesparte Zinsen und rund 40 Milliarden weniger Ausgaben für den Arbeitsmarkt. Die Mehrausgaben flossen vor allem in den Sozialbereich. Dabei wurden die Ausgaben nicht nur einmalig erhöht, sondern in Gesetzen festgeschrieben. Würde der Staat wie ein Unternehmen bilanzieren, wäre offensichtlich, dass die Schulden nicht gesunken, sondern im Gegenteil durch diese Verpflichtungen gestiegen sind.

Die Dimensionen sind gewaltig: Laut Tragfähigkeitsbericht zu den öffentlichen Finanzen müssten ab sofort zwischen 36 Milliarden und 115 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich gespart werden, um die finanziellen Folgen der demografischen Entwicklung, also steigender Gesundheits-, Pflege- und Rentenkosten bei gleichzeitig sinkender Zahl der Beitragszahler, aufzufangen.

Mogelpackung „schwarze Null“

Nach neuester Steuerschätzung dürfte der Staat bis 2023 insgesamt 124 Milliarden Euro weniger einnehmen als ursprünglich gedacht. Die Politik reagiert darauf wie gewohnt: mit Kürzung von Investitionen in die Zukunft, aber die Versprechen für Sozialleistungen bleiben aus Angst vor den Wählern unangetastet. Dabei wäre genau das Gegenteil dringend erforderlich. Wir können nur dann die Kosten der alternden Gesellschaft schultern, wenn wir die nachfolgende Generation befähigen, möglichst hohe Einkommen zu erzielen. Dies setzt neben herausragender Bildung eine gute Ausstattung mit funktionierender Infrastruktur und sicherer sowie kostengünstiger Energieversorgung voraus.

Fazit: Die „schwarze Null“ ist eine Mogelpackung, der Staat gibt so viel Geld aus wie noch nie, und die geringer als erwartet ausfallenden Zusatzeinnahmen des Staates hat die Politik schon längst für soziale Projekte verplant. Nötig ist ein deutlicher Kurswechsel, weg von Konsum hin zu Investitionen. Doch das traut sich die Politik nicht und gefährdet damit unseren Wohlstand.

Ein weiteres Beispiel ist der Wohnungsmarkt. Maßnahmen wie Fördern und Erleichtern des Baues neuer Wohnungen werden in vielen Städten aus politischen Gründen nicht realisiert. Da bleibt Bauland ungenutzt, da dürfen Dachgeschosse nicht ausgebaut werden und Gebäude eine bestimmte Höhe nicht überschreiten. Zugleich wurde der soziale Wohnungsbau jahrelang vernachlässigt.

Mietpresibremse greift nicht

Mit der Mietpreisbremse soll das Versagen der Politik kaschiert werden. Doch wie wirkt diese Bremse? Da der Vermieter die Miete innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren nur um 15 Prozent erhöhen kann, ist er gezwungen, mögliche Mieterhöhungen schnell vorzunehmen. Wartet er zu lange, kann es sein, dass er zu einem späteren Zeitpunkt an die Kappungsgrenze stößt. Rational betrachtet, erhöht der Vermieter also sofort, wenn er die Miete auch nur ein kleines bisschen anheben kann. Damit ist die Mietpreisbremse ein Mieterhöhungsbeschleunigungsgesetz. Vermieter, die sich durch die Maßnahmen des Mieterschutzes zu sehr eingeschränkt sehen, vermieten nur noch möblierte Wohnungen und dies befristet. In Berlin wird der Anteil der so vermieteten Wohnungen bereits auf 5 bis 10 Prozent geschätzt. Aus Sicht der Vermieter höchst attraktiv und vor allem rational, da für das Vermieten von möblierten Wohnungen die Mietpreisbremse nicht gilt.

Selbst wenn der Vermieter sich an alle Regeln hält, profitieren nicht die Armen und Bedürftigen, sondern jene, die es am wenigsten brauchen. Eine Wohnung kostet ohne Mietpreisbremse beispielsweise 15 Euro/Quadratmeter. Wenn sich drei Interessenten beim Vermieter melden, nimmt dieser jenen, der ihm am solventesten erscheint. Wird die Miete durch die Mietpreisbremse unter den Marktpreis auf beispielsweise 10 Euro gedrückt, bewerben sich nicht drei, sondern 103 Interessenten. Der Vermieter jedoch nimmt denselben Miet­anwärter. Gewinner der Aktion ist also der Interessent, der auch 15 Euro gezahlt hätte (er spart fünf Euro/Quadratmeter). Verlierer sind der Vermieter und die 100 Interessenten, die sich unnötig Hoffnungen gemacht haben.

Die fehlende Möglichkeit für Vermieter, die Miete anzuheben, führt dazu, dass Mieter, die in einer Wohnung bereits seit langem wohnen, deutlich unter Marktpreis zahlen. Zu langsam erfolgt hier der Anpassungsprozess. Die Folge ist, dass langjährige Mieter, zum Beispiel nach Auszug der Kinder oder dem Tod des Partners, trotzdem in einer viel zu großen Wohnung bleiben, weil diese pro Quadratmeter günstiger ist als eine kleinere Wohnung. In der Folge fehlt Wohnraum für junge Familien. Damit schützt die Politik die Besitzenden gegen diejenigen, die noch keine Wohnung haben.

Fazit: Interventionen am Immobilienmarkt dienen genau den Falschen. Vermieter profitieren von der anhaltenden Knappheit an Wohnungen, gut verdienende Mieter mieten günstiger – und jene, die bereits eine Wohnung besitzen, profitieren von der Deckelung. Verlierer sind Geringverdiener und Familien, denen der Zugang zu günstigem Wohnraum blockiert wird. Eine Lösung kann nur die Erhöhung des Angebots bringen, und da müsste die Politik ansetzen.

Unfreiwilliger Zinsverzicht

Letztes Beispiel: der Euro. Regelmäßig hören wir von Politikern und Ökonomen, dass Deutschland der große Gewinner des Euro sei. Basis ist dabei der Vergleich mit anderen Ländern, wobei Japan eine hohe Gewichtung gegeben wird. Aber Japan ist mit einem Wachstum von 6 Prozent im Zeitraum von 1999 bis 2018 ein besonders schlechtes Beispiel. Hintergrund ist der Rückgang der Bevölkerung in diesem Land, eine Entwicklung, die uns erst in den kommenden Jahren bevorsteht. Nimmt man statt der absoluten Zahlen die Entwicklung des Bruttoinlands­produkts pro Erwerbstätigen, ergibt sich ein gänzlich anderes Bild. Da liegt Japan mit einem Zuwachs von über 20 Prozent deutlich vor Deutschland mit 14 Prozent. Trotz der guten Konjunktur der letzten Jahre ist Deutschland nicht besonders stark gewachsen.

Ein anderer Aspekt, der von den Vertretern der These, wir seien der „Gewinner des Euro“, vorgebracht wird, sind die Exporterfolge der deutschen Industrie. Dabei sind die Exporte in Länder außerhalb des Euroraums deutlich schneller gewachsen als innerhalb der Eurozone. Ein wesentlicher Grund dafür dürfte der schwache Eurokurs sein, vor allem verglichen mit dem hypothetischen Wechselkurs einer D-Mark. Dies bedeutet, dass wir letztlich von der ungelösten Eurokrise profitieren, zwingt diese doch die Europäische Zentralbank zu Negativ­zins und Wertpapierkäufen. Deutsche Sparer tragen so durch ihren unfreiwilligen Zinsverzicht nicht unwesentlich zum Exporterfolg der hiesigen Industrie bei.

Verschleuderung des deutschen Wohlstandes

Womit wir bei einem anderen Aspekt wären: Deutschland ist zu einem überhöhten Wechselkurs dem Euro beigetreten und musste die eigene Wettbewerbsfähigkeit über jahrelange Lohnzurückhaltung wiederherstellen. Eine nicht unwesentliche Folge war die Entstehung des Niedriglohnsektors, wie oben diskutiert. Dies führte zu einer Stagnation der Binnennachfrage und verstärkte die Exportabhängigkeit unserer Volkswirtschaft.

Fazit: Im Kern ist der Euro ein Subventionsprogramm für unsere exportorientierten Unternehmen, deren Eigentümer und Mitarbeiter, welches wir selber finanzieren. Damit hat die Gemeinschaftswährung aber auch eine Umverteilungswirkung im Inland. Verlierer sind die Beschäftigten durch geringere Löhne und wir alle durch weniger Konsum und Investitionen im Inland.

Es gibt offensichtlich einen deutlichen Unterschied zwischen der öffentlichen und der medialen Wahrnehmung wichtiger wirtschaftspolitischer Themen und den Realitäten in Deutschland. Weder sind wir reich noch ungerecht oder Profiteur des Euro. Staatliche Maßnahmen wirken nicht so, wie dargestellt, und die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Eingriffen in das System sind erheblich. Experten verbreiten Studien, ohne offenzulegen, dass sie eine eigene politische Agenda verfolgen. Journalisten verbreiten am liebsten jene Nachrichten, die das eigene Weltbild stützen. Und die Bürger interessieren sich nicht wirklich für die wirtschaftlichen Zusammenhänge.

All dies führt dazu, dass wir ungebremst den Wohlstand dieses Landes verschleudern. Es ist höchste Zeit, dass die Wirtschaft in das Zentrum der Überlegungen zurückkehrt. Nicht, weil sich alles der Wirtschaft unterordnen sollte, sondern damit wir bei den wichtigen Fragestellungen von Umweltschutz bis Sozialstaat nicht vergessen, dass ohne erfolgreiche Wirtschaft unser Wohlstand und der soziale Zusammenhalt riskiert werden.

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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