Mexikanische Wirtschaft in Gefahr - Das große Zittern

Seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten geht in Mexiko die Angst um. Die Aufkündigung des Nordamerikanischen Freihandelsbündnisses hätte dramatische Folgen

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Die wirtschaftliche Vernunft besagt, dass mexikanische Industriegüter keine direkte Konkurrenz für amerikanische Produzenten darstellen / picture alliance
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Richard Bauer war viele Jahre Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung in Lateinamerika

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Die Wahl von Donald Trump könne für Mexiko zu einem Horrorfilm werden. Das sagte schon vor Monaten Agustín Carstens, der inzwischen zurückgetretene Gouverneur der mexikanischen Zentralbank. Seit Trump ins Weiße Haus eingezogen ist, beginnt der Film zu laufen. Den pauschalen Demütigungen, Drohungen und Unterstellungen an die Adresse der Mexikaner folgen jetzt Taten. Beschlossene Sache ist ein zentrales Wahlkampfversprechen, der Bau einer gut 3000 Kilometer langen Mauer entlang der gemeinsamen Grenze, vom Golf bis zum Pazifik.

Ärmere Bevölkerungsschichten träfe es am schlimmsten

Sie soll das schier Unmögliche möglich machen, nämlich illegale Einwanderer und potenzielle Terroristen vom Betreten der USA abhalten. Die auf zehn Milliarden Dollar veranschlagten Baukosten will man den Mexikanern aufbürden, ein Ansinnen, das der mexikanische Präsident Enrique Peña Nieto empört zurückgewiesen hat. Eine Reise nach Wa­shington wurde kurzfristig abgesagt. 

Im Trump-Lager zirkulieren verschiedene Ideen, wie der monströse Grenzwall zu finanzieren wäre. Angedacht sind Strafzölle auf Einfuhren aus Mexiko und die Besteuerung der Rücküberweisungen von Mexikanern, die legal oder illegal in den USA leben. Seit Monaten lässt die Angst die mexikanischen Migranten so rasch wie möglich Geld in die Heimat überweisen. Die Rücküberweisungen stiegen 2016 gegenüber dem Vorjahr um ein Viertel auf 27 Milliarden Dollar, eine gewichtige Einnahme für die mexikanische Volkswirtschaft. Nach den Erlösen aus Erdölexporten und dem Tourismus sind die Rücküberweisungen die drittgrößte Devisenquelle des Landes. Fließt weniger Geld in die Heimat, sind vor allem die ärmeren Bevölkerungsschichten betroffen. Für sie sind die Rücküberweisungen überlebenswichtig. Macht Trump überdies seine Drohung wahr, eine Großzahl von illegalen Einwanderern nach Hause abzuschieben, sähe sich Mexiko mit einem Heer von Arbeitslosen konfrontiert. 

Drohen mit Steuern

Weiteres Ungemach ist im Anzug. Amerikanischen Firmen, die künftig statt in den USA in Mexiko investieren, wird mit höheren Steuern gedroht. Ganz im Sinne von „America First“ sollen sie auch auf die arbeitsteilige Globalisierung der Produktion verzichten und ausgelagerte Arbeitsplätze in die USA repatriieren. Was Mexiko am meisten trifft: Das seit dem 1. Januar 1994 gültige Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta) zwischen den USA, Kanada und Mexiko steht über Nacht zur Disposition. Für Trump ist Freihandel des Teufels, er vernichtet Jobs und senkt Löhne. Unter den „Three Amigos“ ist Mexiko der Hauptgewinner des Bündnisses, das die drei Volkswirtschaften erfolgreich zu einem komplexen System von Produktionsketten verflochten hat. Dieses von heute auf morgen völlig umzukrempeln, ist für alle Beteiligten ein Verlustgeschäft.

Dank der geografischen Nähe, den niedrigen Löhnen und dem zollfreien Verschieben von Halbfertigfabrikaten und Endprodukten entstand in Mexiko in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine potente industrielle Basis. Wie Pilze schossen entlang der Grenze und in Industrieparks im Inneren des Landes die Maquila-Betriebe aus dem Boden, in denen aus angelieferten Einzelteilen Fertigprodukte zusammengebaut werden.

Eindrücklich ist die Steigerung der Exporte in die USA. Sie betrugen 1994 rund 52 Milliarden Dollar. Heute sind es 300 Milliarden, was 80 Prozent aller Ausfuhren des Landes entspricht. Der Erfolg an der Außenhandelsfront beschert Mexiko gegenüber den USA regelmäßig einen hohen Überschuss in der Handelsbilanz. Vergangenes Jahr waren es 63 Milliarden Dollar, so viel wie nie seit fünf Jahren. Trump stören die Handelsdefizite mit anderen Ländern, allen voran China und Mexiko. Hier will er die Verhältnisse umkehren, wenn nötig durch die radikale Aufkündigung oder eine Neuverhandlung des Nafta.

Trumps Politik gefährdet Mexiko

Man darf annehmen, dass Trump noch nie die aufstrebende Industriemetropole San Luis Potosí besucht hat. Die in Vergessenheit geratene alte Kolonialstadt im Herzen Mexikos ist ein Paradebeispiel dafür, was Freihandel und Globalisierung in einem Schwellenland bewirken können. Dank ihrer verkehrstechnisch günstigen Lage auf dem Weg zur amerikanischen Grenze, den Vorteilen des Nafta und einer dezidierten Standortpolitik der mexikanischen Behörden verwandelte sich die Stadt innerhalb eines Jahrzehnts in eine hochindustrialisierte Plattform für die Autoproduktion. Wer heute den Highway 57 entlangfährt, trifft auf ein Dutzend eingezäunte Industrieparks mit jeweils Dutzenden von blendend weißen Fabrik- und Lagerhallen. Hier sind sie alle vertreten, die Großen der Automobilbranche und ihre Zulieferer. General Motors (GM) kam zuerst, dann folgten Ford und Daimler. 2015 entschied sich BMW für den Bau eines neuen Werkes mit einem Investitionsvolumen von einer Milliarde Dollar. Auf einer 300 Hektar großen Parzelle wird jetzt emsig gebaut. Die Fabrik, die überwiegend Autos für den nordamerikanischen Markt produzieren wird, soll trotz Wetterleuchten am Nafta-Himmel wie geplant Anfang 2019 den Betrieb aufnehmen und jährlich bis zu 150 000 Personenwagen produzieren.

Amerikanische Arbeitsplätze in Gefahr

Nicht nur für San Luis Potosí, für ganz Mexiko ist die Automobilindustrie zur Erfolgsgeschichte geworden. Heute ist Mexiko der siebtgrößte Autoproduzent der Welt. Letztes Jahr liefen 3,5 Millionen Fahrzeuge vom Band, drei Viertel davon wurden exportiert. Prognosen gehen dahin, dass 2020 bis zu fünf Millionen Fahrzeuge hergestellt werden könnten.

Die wirtschaftliche Vernunft besagt, dass mexikanische Industriegüter keine direkte Konkurrenz für amerikanische Produzenten darstellen. Die Arbeitsteilung innerhalb des Nafta ist über die Jahre organisch gewachsen. So stammen beispielsweise in jedem in Mexiko zusammengebauten Fahrzeug 40 Prozent an Vorleistungen aus den USA. Trump täuscht sich: Was in Mexiko produziert und dann in die USA exportiert wird, ersetzt nicht amerikanische Arbeitsplätze, sondern ergänzt sie.

Der amerikanische Fernsehsender CNBC hat dieser Tage ein Video ins Netz gestellt, das schlecht in die Vorstellungswelt des neuen Präsidenten passen will. Am Beispiel des amerikanischsten aller amerikanischen Bekleidungsstücke, der verwaschenen Bluejeans, wird aufgezeigt, wie engmaschig die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den USA und Mexiko sind. Ein mit lockerer Hand vom Zaun gebrochener Wirtschaftskrieg könnte so zum Schuss ins eigene Knie geraten. 

Mit seiner unterschwelligen Botschaft macht das Video dem amerikanischen Konsumenten klar, dass neue Zölle den Preis seiner geliebten Jeans in die Höhe treiben werden. Denn mindestens zweimal überqueren Material und Endprodukt dank Nafta zollfrei die Grenze. Tuch und Garn liefern die Amerikaner, das Schneiden und Nähen übernehmen die Mexikaner. 40 Prozent der Jeans für Männer und Frauen in den USA stammen aus Mexiko. Wird diese integrierte Lieferkette unterbrochen, geraten auch die 64 000 Arbeitsplätze in US-amerikanischen Textilwerken in Gefahr. Schon heute gehen 16 Prozent aller Ausfuhren der USA nach Mexiko, und die Arbeitsplätze von sechs Millionen Amerikanern hängen von Exporten ins südliche Nachbarland ab.

Ungewisse Aussichten für das Freihandelsbündnis

Wirtschaft und Währung Mexikos reagieren nervös, wenn sich das Verhältnis zum großen Nachbarn im Norden verändert. Ein Schnupfen in den USA weitet sich zur Grippe in Mexiko aus. Die Analytiker der spanisch-mexikanischen Großbank BBVA Bancomer sind pessimistisch gestimmt. Schon der Wahlsieg Trumps habe der Wirtschaft Mexikos großen Schaden zugefügt. Wie die meisten Ökonomen buchstabieren sie das Wachstum des mexikanischen Bruttoinlands­produkts (BIP) für 2017 zurück. 2016 wuchs Mexikos Wirtschaft um 1,8 Prozent, dieses Jahr sollen es bestenfalls 1,5 Prozent sein.

Dafür verantwortlich sind in erster Linie die ungewissen Aussichten für das Freihandelsbündnis. Auch wenn dieses weiterhin besteht – und davon ist auszugehen –, werden die ausländischen Direktinvestitionen unter Druck geraten. Im Jahr 2015 flossen 30 Milliarden Dollar zum Aufbau von Infrastruktur nach Mexiko, davon die Hälfte aus den USA. Nach der Wahl Trumps beeilten sich die Ökonomen der amerikanischen Bank Citigroup, ihre Prognosen für Direktinvestitionen von knapp 36 Milliarden Dollar für 2017 auf 25 Milliarden Dollar zurückzunehmen. Seit Trump an der Macht ist, haben Unternehmen aus den USA und Japan Investitionsprojekte in Mexiko zurückgestellt.

Kommt es zu einer Neuverhandlung des Freihandelsabkommens, drohen höhere Zölle auf mexikanische Ausfuhren in die USA, was die Konkurrenzfähigkeit der Produkte beeinträchtigt. Der in den vergangenen Monaten beobachtete dramatische Wertverlust des Pesos gegenüber dem Dollar belastet bereits heute die arg gebeutelte Wirtschaft Mexikos. Er beflügelt die Teuerung, was wiederum negative Auswirkungen auf den privaten Konsum hat. Die höchst unpopuläre, volkswirtschaftlich aber unumgängliche Erhöhung der Benzinpreise um 20 Prozent Anfang des Jahres verstärkt den Abwärtstrend. Insgesamt wird die sich abschwächende Konjunktur ihre Spuren bei den Staatseinnahmen hinterlassen. Für das laufende Jahr rechnet man denn auch mit weniger staatlichen Investitionen und einer zunehmenden Staatsverschuldung.

Verlierer sehen Chancen

Bis vor kurzem stellte sich die mexikanische Regierung auf den Standpunkt, Nafta sei nicht verhandelbar. Doch der Druck aus dem Norden wächst, und Politiker, Diplomaten und Wirtschaftssachverständige in der mexikanischen Hauptstadt schwanken zwischen trotzigem Widerstand und vorsichtigem Einlenken. Trump will die Kündigung, falls der Vertrag nicht nach seinem Gusto angepasst wird und den USA neue wirtschaftliche Vorteile sichert. Mexiko seinerseits fürchtet schmerzhafte materielle Einbußen, Arbeitslosigkeit und komplizierte Anpassungen der sorgsam über Jahre aufgebauten neuen Produktionsstrukturen. Zur Diskussion steht insbesondere die Frage, ob das Abkommen als Ganzes neu verhandelt werden soll oder ob nur Teilaspekte auf den Verhandlungstisch kommen.

Oberwind bekommen kritische Stimmen in der mexikanischen Gesellschaft, die geltend machen, es gebe auch Verlierer des Freihandels. Sie sehen eine Neuverhandlung als Chance, Mexiko weniger von den USA abhängig zu machen und Sektoren wie die Landwirtschaft besser gegen ausländische Konkurrenz zu schützen. Ökonomen bemängeln, mexikanische Politiker und Unternehmer hätten Nafta allzu lang als Komfortzone betrachtet und andere Absatzmärkte sträflich vernachlässigt. Sie fragen sich auch, warum es trotz Nafta nicht gelingen will, das Wachstum der mexikanischen Wirtschaft zu beschleunigen. Seit drei Jahrzehnten beträgt die jährliche Zunahme des Pro-Kopf-Einkommens bescheidene 0,6 Prozent, weit weniger als in anderen aufstrebenden Volkswirtschaften. Auch die Armut geht unter den 127 Millionen Mexikanern kaum zurück. Noch immer leben laut Angaben der Weltbank 53 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. 

Dem Faschisten die Stirn bieten

Ohne Zweifel: Trumps Drohgebärden und die sich abzeichnenden einschneidenden Maßnahmen werden die mexikanische Volkswirtschaft empfindlich treffen und zu guter Letzt die wirtschaftliche und politische Stabilität des Landes gefährden. Der angesehene liberale mexikanische Historiker Enrique Krauze scheut sich nicht, Trump als Faschisten zu bezeichnen. Er sieht sein Land in einer tiefen Krise, wie sie Mexiko zuletzt Mitte des 19. Jahrhunderts erlebt hat, als sich das Land im offenen Krieg mit den USA befand und nach der Annexion von Texas große Teile seines Territoriums an den übermächtigen Nachbarn abtreten musste.

Viele Mexikaner teilen die Ansicht des Historikers. Von Trump und seiner Clique fühlen sie sich gedemütigt und in ihrem Stolz als Mexikaner tief verletzt. Gleichzeitig bezweifeln sie, dass Präsident Peña Nieto der richtige Mann ist, um Trump die Stirn zu bieten. Nach drei Amtsjahren hat er sein politisches Kapital verspielt und seine Legitimität verloren. Weniger als 20 Prozent der Bevölkerung stehen laut Umfragen noch hinter ihm.

Vertreter der Zivilgesellschaft haben den Ernst der Lage erkannt und begonnen, sich in den sozialen Medien und auf der Straße gegen die traditionellen politischen Eliten zu organisieren.

 

Dieser Text stammt aus der Märzausgabe des Cicero, die Sie in unserem Online-Shop erhalten.

 

 

 

 

 

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