Infarm - Sprout of the Box

Investoren glauben an das Geschäftsmodell des Urban Farming und stellen 100 Millionen Dollar bereit für die Kreuzberger Firma Infarm. Gegründet haben sie drei junge Israelis. Sie transformieren Landwirtschaft in Stadtwirtschaft – mit Hightech-Gewächsboxen für Gemüse.

Salat aus städtischem Selbstanbau / Robert Rieger für Freunde von Freunden
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Philipp Wurm ist freier Journalist und lebt in Berlin.

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Unter den Dächern eines Altbaus, wo sonst oft Architekten, Designer oder Eventagenturen unterkommen, erhebt sich eine kuriose Gartenlandschaft: Babykohl und Senf, Thymian und Koriander sprießen hier, in Gewächsboxen, die an Plantagen eines Raumschiffs erinnern. LED-Strahler ersetzen das Sonnenlicht. Schläuche leiten Nährstoffe zu den Keimlingen. „Die Lebensmittelproduktion der Zukunft“ seien diese Vorrichtungen, sagt Osnat Michaeli. Die 41-jährige Unternehmerin ist so etwas wie die Greenkeeperin des Habitats.

Infarm heißt das Start-up, das die in die Höhe ragenden Pflanzschränke entwickelt und kultiviert. Sie stehen im Showroom in der Unternehmenszentrale in Berlin-Kreuzberg. Hier wachsen Delikatessen für Großstadtkonsumenten, abseits von Brandenburger Bauernhöfen: eine neuartige, mobile Landwirtschaft, untergebracht in Lofts oder direkt in Supermärkten und Restaurants – Vertical Farming genannt. Der Landbau in städtischen Gebäuden soll die Natur schonen: ohne Pestizide, ohne Lkw-Flotten, die CO2 auf weiten Warenwegen ausstoßen.

Gemüse vor Ort, ohne Import und Export

Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Erez Galonska und dessen Bruder Guy hat Osnat Michaeli Infarm 2013 gegründet. Begonnen haben die drei Israelis als kleine Gemüselieferanten in der Urban-Gardening-Szene. Heute statten Investoren die Firma als Branchendarling mit Millionenbeträgen aus. Der Sternekoch Tim Raue reichert seine Menüs mit Grünzeug aus Infarm-Beeten an. Seine ersten botanischen Experimente hatte das Trio in der privaten Neuköllner Wohnküche verrichtet: Dort sprossen noch vor ein paar Jahren Kräuter, Tomaten und Salate in Kübeln, drum herum rankten sich Schläuche und Leitungen für Wasser. Sie hatten damals bloß Gemüse für die eigene Speisekammer züchten wollen, die Expats aus Tel Aviv, die ursprünglich in anderen Branchen tätig waren: Osnat Michaeli und ihr Partner Erez in der Filmindustrie, Guy Galonska in der Gastronomie.

Als sie ihre Anbaumethode 2013 in einem Airstream, einem amerikanischen Wohnmobil, präsentierten, entdeckte sie ein einflussreicher Designer: Werner Aisslinger entwarf gerade das Interieur für das 25hours Hotel im Bikinihaus am Bahnhof Zoo. Er war begeistert von dem unkomplizierten Ansatz: kein Gemüse, das aus In- oder Ausland importiert werden muss, sondern in der eigenen Küche heranwächst, unabhängig von der Sonneneinwirkung. Der erste Auftrag: ein kleiner Indoor-Kräutergarten für das Hotelrestaurant. Das brachte viel Aufmerksamkeit. Erste Investoren gaben ihr Geld in das Geschäftsmodell.

Infarm verleiht die Boxen und bewirtschaftet sie

Heute arbeiten mehr als 100 Mitarbeiter bei Infarm als Biologen, Ingenieure, Betriebswirte und Programmierer. Mehr als 70 vertikale Farmen gibt es in
Berliner Restaurants, Lagerhäusern und Supermärkten. Infarm verleiht die Boxen und bewirtschaftet sie. Angebrachte Sensoren erfassen laufend Daten – pH‑Wert, Temperatur, Licht, Nährstoffdichte. Das System lernt und optimiert die Anbaubedingungen. Weitere Standorte der Gewächsboxen sind Edeka-Filialen in Berlin und Hannover. Aufgestellt für Feierabend- Connaisseurs, die frisches Erntegut, etwa Basilikum und andere Kräuter, in die Einkaufswagen laden wollen.

Der Maschinenraum des Start-ups ist eine 5.000 Quadratmeter große Halle am Rand Berlins. Sie beherbergt die City Hub Farm, wo die Gewächsboxen samt Technologie gefertigt werden. Das Firmenkapital wächst – Anfang des Jahres etwa verkündeten die Jungunternehmer, von Investoren rund 20 Millionen Euro eingenommen zu haben. Mit dem Geld will Infarm im Ausland expandieren, nach Paris, London und Kopenhagen. Bis Mitte 2019 sollen europaweit 1.000 Indoor-Farmen betrieben werden. Zum Sortiment sollen bald auch Tomaten, Chilis, Pilze, Früchte gehören.

Weil das Unternehmen so zukunftsträchtig wirkt, gibt es auch die ersten Kopisten. Die Hüter der Originalidee gehen damit gelassen um: „Nachahmung ist die höchste Form der Anerkennung“, sagt der Finanzvorstand Martin Weber, ein altes Oscar-Wilde-Zitat, das vor Frust infolge geistigen Diebstahls schützt. Die nächste Stufe hat Infarm schon erklommen. Etwa tausend Kilometer vom Kreuzberger Firmensitz entfernt, in einer Metro-Filiale im Pariser Stadtteil Nanterre, sollen bis Ende Juni 2018 Indoor-Acker auf einer Fläche von 100 Quadratmetern entstehen. Es wäre das bislang größte Vertical-Farming-Projekt der Welt.

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