Glyphosat - „Wissenschaftliche Analyse wird durch Politgeschachere überlagert“

Der Streit um das Pflanzengift Glyphosat scheint beigelegt. Dabei hatte die CSU es gerade in Brüssel durchgewunken. Der Experte für evidenzbasierte Medizin, Gerd Antes, spricht über Politiker, Behörden und gekaufte Wissenschaftler

Beim Glyphosat zu einer rationalen Gesamtbilanz zu kommen, ist sehr schwierig / Illustration: Christine Rösch
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Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Nachdem sich Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) erst im November sein Ja in Brüssel für eine Verlängerung des umstrittenen Pflanzenschutzmittels Glyphosat gegeben hatte, könnte nun die Wende kommen. CDU, CSU und SPD haben bei den Sondierungen besprochen, der Einsatz des Herbizids soll doch beendet werden. Warum dieses Hin und Her? Warum erst das Ja in Brüssel? Ein Gespräch über das Problem von abhängiger Forschung mit Gert Antes.

Die EU lässt das Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat nun für weitere fünf Jahre zu. Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt sagte, sein Ja in Brüssel stütze sich auf wissenschaftliche Fakten. Was sagen Sie dazu als Wissenschaftler?
Diese Aussage kann ich nicht nachvollziehen. Sie drückt aus, es gäbe eine eindeutige, klare wissenschaftliche Grundlage für seine Entscheidung. Genau das ist aber nicht der Fall. Auch ein Landwirtschaftsminister sollte sich an die Eckpfeiler jeder Technikfolgenabschätzung halten. Dann wäre er nicht zu dieser Aussage gelangt.

Was meinen Sie mit Technikfolgenabschätzung?
Dieser etwas altmodisch anmutende Begriff umfasst grundsätzlich das Drei­bein Nutzen – Risiko – Kosten. Richtig durchgeführt, wird damit eine rationale Entscheidungsgrundlage geschaffen. In der Realität wird diese Betrachtung jedoch oft massiv durch Lobbyismus und Interessenkonflikte überlagert, wodurch dann die nüchterne wissenschaftliche Analyse durch Politgeschachere überlagert wird.

Die Grünen fordern ein klares Ende von Glyphosat. Passen da die Ergebnisse des einst auf deren Betreiben gegründeten Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) nicht mehr zur eigenen Ideologie?
Die Empörung beruht auf einem schillernden Spektrum an Gründen und Motiven. Politische Taktierereien, Orientierungsmanöver in der gegenwärtigen Situation in Deutschland zwischen Großer Koalition, Minderheitsregierung und Neuwahlen. Fundamentalistische Überzeugungen sowie die Realo-Fraktion bilden eine unübersichtliche, um nicht zu sagen konfuse Gemengelage. Gibt es die Ideologie der Grünen? Glyphosat scheint von allen Beteiligten auch ein Vehikel für diese Auseinandersetzungen zu sein.

Wenn die wissenschaftliche Lage so unklar ist, wie können das BfR und andere internationale Behörden zu einem klaren Ja/Nein-Ergebnis kommen?
Das frage ich mich auch. Tatsächlich gibt es ja mehrere Aussagen, die sorgfältig differenziert werden müssen. Für alle gilt, dass eine dosisfreie Ja/Nein-Einschätzung grundsätzlich nicht möglich ist. In der kurativen Medizin gilt zum Beispiel der stehende Begriff „die Dosis macht die Medizin“. Das Gleiche gilt für die Risikobewertung. Dass hier ein extrem effektives Gift ohne Kontextbezug und Dosisangaben pauschal als nicht krebserregend eingestuft wird, ist nicht nachzuvollziehen. Selbst Wasser ist bei ausreichender Dosis tödlich, wie sich an jedem Ertrunkenen demonstrieren lässt.

Nach wie vor widersprechen sich die Einschätzungen „wahrscheinlich krebs­erregend“ (IARC) und „wahrscheinlich nicht krebserregend“ (JMPR, ECHA, Efsa, BfR). Worauf sollen Konsumenten denn vertrauen?
Für die normalen Konsumenten sind beide Aussagen eine massive Überforderung. Man muss präzisieren, denn unverzichtbarer Teil ist immer die Zielgruppe. Sitze ich den ganzen Tag auf dem Trecker, um Glyphosat auszubringen, oder befinde ich mich als Normalbürger am Ende der Nahrungskette? Geht es um das individuelle Risiko des einzelnen Bürgers – oder aus der Public-­Health-Perspektive um die Gefährdung der gesamten Bevölkerung? Aussagen dazu finden sich zuhauf, sie bleiben jedoch in der angespannten politischen Debatte auf der Strecke und werden reduziert auf „wahrscheinlich krebserregend“ oder auf das Gegenteil. Dass hier etwas nicht stimmt, ist sofort erkennbar an dem Zusatz „wahrscheinlich“. Die Aussage „wahrscheinlich“ ist ohne Quantifizierung völlig wertlos, disqualifiziert die Produzenten dieser Aussagen und lässt den Bürger hilflos zurück.

Manche fordern eine Kennzeichnungspflicht im Rahmen strenger Grenzwerte.
Eine Kennzeichnungspflicht wäre nicht hilfreich und nicht einmal realisierbar. Soll eine Angabe zum Glyphosat-Gehalt auf jeder Bierflasche stehen? Mit dem Zusatz „wahrscheinlich krebs­erregend“? Zu versuchen, Grenzwerte zu bestimmen, würde die Misere aller Grenzwertbestimmungen wiederholen. Die haben einerseits mit Nachweisgrenzen zu kämpfen und können beim Festlegen eines Grenzwerts keine genauen Angaben machen, was das tatsächliche Risiko ist.

Gerd Antes  / privat

Trotz Glyphosat werden wir immer älter. Wie berechtigt ist die Angst vor „wahrscheinlich krebserregenden“ Stoffen wie etwa auch rotem Fleisch?
Sehr berechtigt für jeden, der unsterblich sein will. Sehr wenig berechtigt, wenn man jedes Risiko einzeln betrachtet. Die wissenschaftliche Risikobewertung kennt die Theorie der konkurrierenden Risiken. Nicht, ob uns etwas erwischt, ist entscheidend, sondern welchem Risiko wir zum Opfer fallen. Wichtig ist das uns bedrohende relative Risiko. Daher kommen Aussagen wie „Sorge dich nicht um rotes Fleisch, wenn du rauchst oder viel Alkohol trinkst oder beides!“

Auch zu Wein, Kaffee und Schokolade heißt es mal „wirkt lebensverlängernd“, mal „wirkt lebensverkürzend“. Sollten wir das getrost ignorieren?
Das permanente Trommelfeuer von einander widersprechenden Aussagen hat mehrere Ursachen. Solche Studien durchzuführen, ist zum einen sehr schwierig, da sowohl die Nahrungsaufnahme kaum und die Auswirkungen nur sehr schwer quantitativ messbar sind. Die daraus zwangsläufig folgenden großen Ausschläge zwischen den einzelnen Studien müssen deshalb in sogenannten systematischen Übersichtsarbeiten in ihrer Gesamtheit ausgewertet werden. Es bringt nichts, anhand einzeln herausgepickter Studien das eine oder auch das gegenteilige Resultat zu „beweisen“. Letzteres ist aber leider wesentlich attraktiver, gängige Praxis und wird enorm beflügelt durch die Einflussnahme nicht nur durch Hersteller, sondern auch durch akademische Wissenschaftler, die an ihre Karriere denken. Aus diesem Grund ist die Offenlegung von Interessenkonflikten in den letzten Jahrzehnten auch so in den Vordergrund gerückt.

Also halten wir uns daran: Wenn das persönliche Risiko verhältnismäßig gering ist, können wir aufatmen?
Nicht unbedingt. Ein Problem könnte die sogenannte kumulative Anreicherung in den Nahrungsketten wie auch der mangelhafte Abbau in der Natur sein. Dies könnte zu einer Erhöhung der Sterblichkeit führen, die kaum sichtbar ist. Das heißt jedoch: Für unsere Bevölkerung von mehr als 80 Millionen könnte das ein paar Tausend Tote bedeuten. Die subjektive Wahrnehmung vom individuellen Risiko entgegen dem Bevölkerungsrisiko ist extrem unterschiedlich. Man kann das ganz gut am Beispiel Autofahren verständlich machen. Die Zahl der Verkehrstoten hat sich in den letzten Jahren gedrittelt, also um ein paar Tausend Tote pro Jahr abgenommen. Das daraus resultierende individuelle Risiko hat entsprechend abgenommen, ist sehr klein, jedoch keinesfalls null. Aber das beeinflusst die individuelle Risikowahrnehmung und ein Unsicherheitsgefühl auf der Autobahn fast nicht, die meisten wissen davon kaum. Auf gesellschaftlicher Ebene wurde die Senkung des Risikos hingegen immer als Herausforderung betrachtet und immer weiter verfolgt.

Wäre es aber dann nicht sinnvoll, bis zu einer besseren Klärung eine Zulassung von Glyphosat auszusetzen? In Europa gilt das Vorsorgeprinzip.
Ja, aber das Vorsorgeprinzip ist nicht eindimensional. Hier zeigen sich eben die Versäumnisse einer umfassenden Technikfolgenabschätzung aus Nutzen – Risiko – Kosten.

Warum ist diese Abschätzung bei Glyphosat offensichtlich so extrem schwierig?
Bei Glyphosat ist die Lage besonders kompliziert, weil hier Nutzen und Risiken völlig unterschiedlicher Dimension gegeneinander abgewogen werden müssen: Glyphosat als individuell krebsverursachend und massiv die Artenvielfalt bedrohend einerseits. Glyphosat als hochwirksames Gift zugunsten einer industrialisierten Landwirtschaft andererseits. Hier zu einer rationalen Gesamtbilanz zu kommen, ist sehr schwierig. Eine kurzfristige Aussetzung würde große Risiken für die heutige Landwirtschaft bedeuten, die in die Gesamtbilanz einfließen müsste.

Der Glyphosat-Hersteller Monsanto soll Gefahrengutachten zu Glyphosat manipuliert haben. Wie häufig sind solche Einflussnahmen?
Leider sehr häufig. Das zeigt eine Fülle von Arbeiten, die sich mit der Problematik befassen. Es gibt leider keine harte, klar erkennbare Grenze zwischen Gut und Böse. Die Realität zeigt ein weites, kontinuierliches Feld zwischen zwei Extremen. Auf der einen Seite krass gefälschte oder sogar vollständig erfundene Experimente, Manipulation der Publikationen von Studien oder die sehr weit verbreitete völlige Unterdrückung von Publikationen nicht erwünschter Ergebnisse. Auf der anderen Seite Forscher und Wissenschaftler, die sich mit aller Anstrengung an die Vorgaben guter wissenschaftlicher Praxis und entsprechender ethischer Prinzipien halten. Dazwischen gibt es eine enorm hohe Anzahl von kleinen Schlampereien, „Kavaliersdelikten“ und Großzügigkeiten, wo kleinliche Qualitätssicherungsmaßnahmen angemessen wären. Diese einzeln harmlos erscheinenden kleinen Vergehen summieren sich durch die hohe Anzahl zu einem insgesamt noch viel größeren Schaden als einzelne spektakuläre Fälschungen, die dann durch die Medien geistern und die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Wie können solche privat finanzierten Studien überhaupt in den Vordergrund gedrängt werden?
Öffentliche Forschung ist auch dadurch so unterlegen, weil es zwar global agierende Hersteller gibt, jedoch keine international agierende Öffentlichkeit. Organisationen in der EU oder der UN schaffen Kommissionen und Stellungnahmen, die jedoch auf die Ergebnisse angewiesen sind, die größtenteils aus privat finanzierter Forschung stammen.

Was sind die Folgen daraus, dass solche Studien so viel Einfluss auf die öffentliche Meinung und Gesetzes­entscheidungen haben?
Die Schäden in der Berichterstattung sind offensichtlich. Sie erstrecken sich – jedoch weniger leicht zu erkennen – auch auf die weitere gesellschaftliche Verarbeitung wie etwa die Gesetzgebung. Neben der Ursache in schlecht durchgeführten oder im Ergebnis manipulierten Studien kommt hier noch ganz entscheidend dazu, dass von wissenschaftlicher Seite keine absoluten Ergebnisse, sondern nur Wahrscheinlichkeitsaussagen geliefert werden. Sie zu verarbeiten, ist nicht einfach und trifft darüber hinaus beim Gestalten eines belastbaren juristischen Regelwerks oftmals auf ein sehr begrenztes Wahrscheinlichkeitsverständnis.

Sollten Regierungen ihre Entscheidungen nur noch auf der Grundlage unabhängiger Erkenntnisse fällen?
Das wäre ideal. Nur ist es praktisch kaum umsetzbar, da der überwiegende Teil der Kompetenz in einem Fachgebiet unmittelbar mit Herstellern oder auch mit akademischen Abteilungen verbunden ist. Darauf zu verzichten, würde vermutlich die Fehlerrate in den Entscheidungen enorm erhöhen. Genau dieser Hintergrund hat in den letzten Jahren dazu geführt, von Mitgliedern in Kommissionen für medizinische Empfehlungen oder Risikobewertungen immer aufwändigere, über viele Jahre rückblickende Darstellungen der finanziellen Verbindungen zu fordern. Auch hier ist eine Risikobewertung notwendig: abhängige Experten oder weniger kompetente unabhängigere Experten?

Am besten kompetent und unabhängig. Der Bund fördert nun das bisherige Cochrane-Zentrum an der Uni Freiburg als Cochrane-Deutschland-Stiftung. Sind diese jährlich bis zu eine Million Euro ein Tropfen auf den heißen Stein?
Es ist ein Tropfen auf den heißen Stein und zugleich ein Riesenschritt nach vorn. Während der vergangenen 20 Jahre mussten wir mit beträchtlichem Zeitaufwand unsere Weiterfinanzierung sicherstellen. Es galt das dominierende Prinzip, Geldquellen, die Abhängigkeiten schaffen, konsequent zu meiden. Insofern wurden wir schon immer nur mit öffentlichen Mitteln gefördert. Das Bundesgesundheitsministerium sagt jetzt klar, dass unabhängige Forschung für eine verlässliche Gesundheitsinformation notwendig ist. Was wir bislang unter schwierigen Bedingungen beitragen konnten, um Evidenzbasierung in Deutschland zu etablieren, können wir nun in jeder Hinsicht professionalisieren. Das ist tatsächlich ein Schritt in eine neue Epoche.

Auch unabhängige Forschung ist immer vorläufig. Wie beschließen wir Gesetze, wenn wir nie „ganz sicher“ sein können?
Jedes wissenschaftliche Ergebnis ist mit Unsicherheit behaftet, und damit steht auch jede Zulassung zwangsläufig nur auf der Basis des bestehenden Wissens. Sehr leicht zu verdeutlichen ist das bei der Arzneimittelzulassung. Hier werden nach einem langen Entwicklungsweg von der Grundlagenforschung über die sogenannte präklinische Phase im Labor und mit Tierexperimenten zum Schluss klinische Studien durchgeführt, auf deren Basis die Zulassung erfolgt. Die Anforderungen daran bilden einen Kompromiss zwischen Nachweis der Wirksamkeit, Schutz vor Nebenwirkungen und Machbarkeit und Geschwindigkeit. Damit ist eine erhebliche Unsicherheit verbunden, wie danach entdeckte Nebenwirkungen immer wieder zeigen. Diesen experimentellen Weg mit Menschen zu gehen, ist aber für die Untersuchung von schädigenden Einflüssen, speziell von Giften, gar nicht möglich. Dafür bleiben nur Beobachtungsstudien, die noch erheblich mehr Unsicherheiten mit sich bringen. Das ist ein wesentlicher Grund für die verworrene Situation beim Glyphosat.

Welches politische und welches wissenschaftliche Vorgehen wäre folglich bei Glyphosat sinnvoll?
Realistisch eingeschätzt, gibt es keinen einfachen und schnellen Weg zu einer sauberen Lösung. Wissenschaftler und Politiker müssen die Bewertung an den drei Dimensionen Nutzen, Schaden beziehungsweise Risiko und Kosten ausrichten. In diesem Rahmen müssen Wege eingeschätzt werden, in denen Krebs- und andere Gesundheitsrisiken mit Umweltrisiken in Konkurrenz treten. Das ist wissenschaftlich eine sehr große Aufgabe und politisch aufgrund der unterschiedlichen Welten mit ihren Lobbygruppen schwer umzusetzen. Nur so kann es aber gehen, und völlige Transparenz ist dabei absolut unverzichtbar.

Gert Antes – Der Mathematiker und Methodenwissenschaftlter gilt als einer der Wegbereiter evidenzbasierter Medizin in Deutschland. Der Professor ist Ko-Direktor von Cochrane Deutschland, der deutschen Vertretung der Cochrane Collaboration. In dem internationalen Netzwerk arbeiten klinische Forscher, Methodiker, Ärzte, Angehörige anderer Gesundheitsberufe und Patienten zusammen und legen etwaige Interessenkonflikte offen.

 

Dieser Text stammt aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.

 

 

 

 

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