Gesellschaft und Konsum - Politischer Kitsch

Massenproduktion und Massenmedien machen den Kitsch zum ästhetischen Standard unserer Gesellschaft. Dem kann sich auch die Politik nicht entziehen. Ihr Kitsch ist moralisch. Man muss einfach nur für den Frieden und für die Gerechtigkeit sein. Das kostet nichts, gibt aber ein gutes Gefühl

Claudia Roth beim Christopher Street Day: Der politische Kitsch erzeugt wieder den ästhetischen / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Massengesellschaften lieben den Kitsch. Er entspricht ihrer Logik. Denn Massenproduktion, Massenkonsum und Massenmedien machen den Kitsch zum ästhetischen Standard: Schnulzige Vorabendserien, unerträgliche Musikshows, dümmliches Gedudel im Hit-Radio, penetrantes Blockbuster-Kino, als „Fashion“ unters Volk geschmissener Moderersatz: man könnte die Liste endlos vorsetzen – quer durch alle Bereiche unserer popkulturellen Wirklichkeit.

Denn dem Massenkonsum verpflichtete Gesellschaften leben davon, das Besondere und Einzigartige massentauglich zu machen. Und das bedeutet vor allem: erwerbbar. Also werden Kunstwerke oder Baudenkmäler als Nippes über die Welt verteilt, die besten Stellen klassischer Musik kerzenscheintauglich auf CD gebannt und van Goghs Sonnenblumen auf alles gedruckt, was sich bedrucken lässt.

Mit dem Gestus der Empörung

Doch Kitsch ist nicht nur eine ästhetische Kategorie. Es gibt auch moralischen Kitsch. Und wie sein vulgärer Verwandter aus der Welt der Dinge, so lebt auch der moralische Kitsch von Übertreibung, Maßlosigkeit und beliebiger Reproduzierbarkeit. In Form eines auf Dauer gestellten Alarmismus ergießt sich der moralische Kitsch über die Gesellschaft und wittert jederzeit und überall Moralverletzungen aller Art. Sein Gestus ist die Empörung.

Bezeichnend dabei ist, dass der moralische Kitsch unter Moral nicht etwa die Einhaltung tradierter Normen versteht, also das, was man früher Anstand und Sitte genannt hätte. Denn Kitsch ist immer hedonistisch. Also lebt er sich dort aus, wo man ohne Selbsteinschränkung und Verzicht gnadenlos im Moralin baden darf: den Menschenrechten, der Gerechtigkeit, der Gleichheit.

Zur Schau getragene Empfindsamkeit

Wie der ästhetische Kitsch, so baut auch der moralische Kitsch vor allem auf Sentimentalität. Sein Feld ist die zu Schau getragene Empfindsamkeit. Dementsprechend geht es ihm nicht um eine rationale Analyse oder gar um das Abwägen verschiedener Perspektiven. Rationalismus und kühle Vernunft sind für ihn schlichter Zynismus. Also kennt er nur weiß und schwarz, helle Welt und dunkle Welt. Zugeständnisse liegen jenseits seines Horizontes.

Damit der moralische Kitsch massenkonsumierbar wird, muss er sich jedoch politisch organisieren. Da der demokratische Politbetrieb aber auf Kompromisse zielt, also auf etwas, was dem kitschigen Bewusstsein wesensfremd ist, gründet es mit Vorliebe NGOs. Hier findet der moralische Kitsch seine ideale Agitationsform. Unbelastet von realpolitischen Erwägungen kann er hier seinem moralischen Maximalismus frönen. Sein Medium ist die Anklage.

Doch moralischer Kitsch zielt, wie jeder Kitsch, nicht auf Sektierer, sondern auf die Masse. Seine Pointe liegt darin, Moral massentauglich zu machen. Jeder kann hoch moralisch sein, zu jeder Zeit. Man muss einfach nur für den Frieden sein, für Gerechtigkeit oder die Menschenrechte. Das kostet nichts, gibt aber ein gutes Gefühl und entlastet von Reflexion.

Moralischer Kitsch in der Politik

Da dieser Verlockung eines einfach zu konsumierenden Moralismus naturgemäß die Wenigsten widerstehen können, wandert der Jargon des moralischen Kitsches in die etablierte Politik. Dies umso mehr, als er Politikern die Möglichkeit gibt, sich medienwirksam als mitfühlend und menschlich zu inszenieren. Das Ergebnis ist der moralische Kitsch in seiner institutionalisierten Form: der politische Kitsch.

Wie jedes kitschige Produkt, so müssen auch die Formeln des politischen Kitsches leicht konsumierbar sein und im Kern belanglos. Vor allem aber müssen sie das sentimentale Bedürfnis des Konsumenten, hier also des Wählers, befriedigen.

Das Ergebnis ist das Wörterbuch des Polit-Kitsches: Darin versammelt sind Phrasen und Wortbildungen wie „soziale Gerechtigkeit“, „Wertegemeinschaft“, „Solidarität“, „demokratische Werte“, „internationale Gemeinschaft“ und so weiter. Sie sagen wenig, doch wer sie hinterfragt, diskreditiert sich selbst. So bekommt der kitschige Jargon die diskursive Lufthoheit.

Auch Politik produziert ästhetischen Kitsch 

Anders als der ästhetische Kitsch hat der politische Kitsch jedoch einen Appellcharakter. Er fordert zu Handlungen auf, vor allem zu symbolischen. Also hält man Mahnwachen, veranstaltet Solidaritätskundgebungen, pinselt „Welcome“-Schildchen oder bildet Lichterketten. So erzeugt der politische Kitsch wieder den ästhetischen.

Da der politische Kitsch, ebenso wie der ästhetische und moralische, ein tragendes Element der Massenkonsumgesellschaft ist, besteht wenig Hoffnung, ihn aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen. Wir werden mit ihm leben müssen. Es bleibt nur die Möglichkeit, ihn als das zu entlarven, was er ist: intellektueller Trash.

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