Debatte um Krankenkassen - Raffelhüschens Notruf

Der Freiburger Ökonom Bernd Raffelhüschen prognostiziert dem angeschlagenen deutschen Gesundheitssystem eine düstere Zukunft und gibt zugleich Wegweisungen zur Heilung. Man muss seiner Therapie nicht folgen. Die Diagnose allein schon ist erschütternd.

Wer rettet die Retter? Defekter Krankenwagen nach Unfall / dpa
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Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Es gibt Wahrheiten, die realisieren sich erst dann, wenn man sie an Leib und Seele zu spüren bekommt. Das gilt besonders für die oft schmerzhaften Wahrheiten im Bereich der Gesundheit. Erst wenn der hinterste Zahn gezogen und die letzte Sehkraft erloschen ist, wird mancher bemerken, dass er die sicherlich oft lästigen Empfehlungen seines Arztes vielleicht doch besser hätte beherzigen sollen. Und was auf Symptomebene gilt, das verliert leider auch bei der Finanzierung von Gesundheit nichts an Gültigkeit. 

Wie lange schon etwa liest man hierzulande von den Schieflagen, ja vom drohenden Zusammenbruch des Gesundheitssystems und von der Rundumreformierung der Krankenkassen. Und was hat es da nicht alles schon für Reformvorschläge gegeben: Sie reichen von einem „Dreischichtenmodell mit einheitlicher Grundversorgung“ bis zum Komplettausstieg aus der bisherigen Zweiteilung der Krankenversicherung. Und die Drohungen des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenkassen vor immer höheren Zusatzbeiträgen gehört längst zur bundesrepublikanischen Routine, so wie die Klage über Pflegemangel oder die Warnung vor der nächsten Grippewelle.

Geschehen aber ist bis dato nichts. Oder genauer gesagt: nichts Wesentliches. Zwar haben zum Jahresbeginn 2023 wieder einmal gut zwei Drittel aller Krankenkassen in Deutschland eine Erhöhung ihrer Zusatzbeiträge veranlasst von der diesmal mehr als 85 Prozent der gesetzlich Versicherten betroffen sind, an das wackelnden Fundament aber hat man sich noch immer nicht herangetraut. Dabei knirscht und knarzt es mittlerweile gewaltig: Schon für dieses gerade einmal zwei Monate alte Jahr prognostiziert das Bundesgesundheitsministerium unter Karl Lauterbach (SPD) einen historischen Fehlbetrag von 17 Milliarden Euro bei den Kassen. Eine Prognose, die für manche Experten noch viel zu optimistisch daherkommt. So spricht man etwa beim Verband der Ersatzkassen (vdek) längst von einer Lücke im Bereich „30 Milliarden Euro plus x“. 

Ein Interview sorgt für Furore

Der strauchelnde Riese also, den mancher noch immer als „das beste Gesundheitssystem der Welt“ anpreist, ist kurz davor, alle Viere von sich zu strecken. Wer einmal die überfüllten Notaufnahmen in deutschen Krankenhäusern erlebt hat oder wer je versuchte, einen Termin bei einem vollkommen ausgebuchten, ja oftmals ausgebrannten Facharzt zu bekommen, der weiß, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Und da ist der Medikamentenmangel oder der Kollaps des Pflegesystems noch gar nicht mit eingepreist.  

Doch was hilft eben alles Wissen der Welt, wenn es nicht auf Herz und Nieren geprüft, will heißen: wenn es nicht durch Gefühl und körperliches Erleben hindurchgegangen ist? Erst der gezogene Zahn erzeugt spürbare Lücken. Wie sich die am Ende einmal anfühlen werden, das ist vor dem Eingriff natürlich nur schwer zu sagen. Einen Vorgeschmack aber kann man dieser Tage bekommen, verfolgt man die emotional hochgejazzten Debatten rund um ein Interview, das der Freiburger Wirtschaftswissenschaftler und Ex-Aufsichtsrat des Ergo-Versicherungskonzerns Bernd Raffelhüschen vor zwei Tagen der Bild-Zeitung gegeben hat. 

„Wir können uns das System nicht mehr leisten“, so die simple und äußerst ernüchternde These des streitbaren Ökonomen, der erst jüngst mit einer ähnlich provokanten Aussage zur Zukunft des Rentensystems von sich Reden gemacht hat. Raffelhüschens Prognose zu den Krankenkassen ist mehr als düster: Die Ausgaben werden um zehn bis 20 Milliarden Euro pro Jahr weitersteigen. Und aus den aktuell 16,2 Prozent Beitragsleistungen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer könnten bis zum Jahr 2035 bereits 22 Prozent geworden sein.

Senioren als Verlierer

Und die Medizin, die der gefürchtete Professor aus dem Breisgau für seine Kur empfiehlt, wird bitter schmecken: Gesetzlich Versicherte sollen laut Raffelhüschen gestaffelt zunächst bis zu 50 Prozent ihrer Arztkosten selbst übernehmen. Die Obergrenze soll dabei bei 1500 bis 2000 Euro im Jahr liegen. Des Weiteren sollen Raucher wie Übergewichtige mit höheren Selbstbeteiligungen rechnen, und die Zahl der Kliniken soll um 30 bis 40 Prozent abnehmen.

Kurz, was Raffelhüschen, der in Fragen der Reform der Sozialsysteme auch als Berater für die Europäische Kommission sowie das norwegische Gesundheitsministerium tätig ist, via Boulevard-Zeitung empfiehlt, das ist mindestens die Teilresektion jenes Versorgungssystems, das bis dato jedem Bundesbürger eine mehr oder minder gerechte Teilhabe am Gesundheitsmarkt ermöglicht hat. Dabei sieht auch Raffelhüschen selbst die Defizite seines Ansatzes: „Die größten Verlierer der Reform werden die künftigen Senioren sein. Sie müssen mehr aus eigener Tasche zahlen“, so der Finanzexperte zu seinem eigenen Vorstoß.

Es gäbe weitere Dinge, die man an den Vorschlägen sicherlich kritisch betrachten muss. Dazu zählt etwa die Frage, ob bei einem 50-prozentigen Eigenanteil eine Privatversicherung oder zumindest eine private Zusatzversicherung nicht längst die bessere Alternative wäre. Zudem wäre eine höhere Selbstbeteiligung von Rauchern, Fettleibigen oder Risikosportlern nicht nur ethisch problematisch, sie wäre auch der endgültige Ausstieg aus dem bisher geltenden Solidarprinzip. Die Debatten um die Kostenübernahme einer Behandlung von Ungeimpften während der zurückliegenden Corona-Pandemie haben gezeigt, welche irrwitzigen, ja in Teilen gefährlichen Züge derlei erzieherischen Vorstöße haben können. 

Wenig nachhaltige Gesundheitspolitik

Doch abseits der Praktikabilität: Die Anregungen des streitbaren Professors aus Freiburg zeigen, dass die fetten Jahre der deutschen (Gesundheits-)Wirtschaft nicht nur vorbei sind, sie illustrieren vor allem, wie gallebitter die mageren werden. Passé also die Ära jenes kopflosen Aktionismus, der allein für das Corona-Jahr 2021 dazu geführt hat, dass die deutschen Gesundheitskosten auf ein Rekordhoch von rund 466 Milliarden Euro hochgeschnellt sind. Mehr als die Hälfte dieses Betrags haben laut den Angaben des Statistischen Bundesamtes übrigens die gesetzlichen Krankenkassen getragen. Kein Wunder also, dass die nach Jahren hoher Einnahmeüberschüsse nun immense Defizite aufweisen. 

Manchmal muss man es eben erst am eigenen Leibe verspüren, was der Kopf vielleicht längst gewusst hat: Die Politik mit dem Grundsatz „Koste es, was es wolle!“ – die Milliardenverschuldung für in Teilen ineffiziente Massentestungen, fragwürdige Freihaltepauschalen und unkalkulierbaren Folgekosten im Bereich psychischer wie physischer Gesundheit – ist krachend gescheitert. Sie war nicht nur ineffizient und wenig nachhaltig, sie ging auch auf Kosten des gesamten und ohnehin bereits angeschlagenen Gesundheitssystems und vor allem auf Kosten des Wohlbefindens der jungen Generation. Man muss Bernd Raffelhüschen nicht einmal inhaltlich folgen, um zu bemerken, dass Deutschland in Zukunft wohl unsolidarischer werden wird – und das gerade auch deshalb, weil man während der Coronakrise auf Teufel komm raus solidarisch sein wollte.  

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