Nach dem Facebook-Ausfall - „Wir verlieren die Kontrolle über unser Mediensystem“

Facebook und die zum Unternehmen gehörenden Dienste WhatsApp und Instagram sind am Montagabend für mehrere Stunden ausgefallen. Die damit verbundene Aufregung zeuge davon, wie sehr wir von den sozialen Medien abhängig sind, sagt der Medienwissenschaftler Martin Andree. Er warnt vor einer Marktkonzentration mit gravierenden Folgen.

Unheimliche Macht: Instagram, Facebook und WhatsApp / dpa
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Autoreninfo

Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Dr. Martin Andree ist Medienwissenschaftler und unterrichtet digitale Medien an der Universität Köln. 2020 veröffentlichte er mit Timo Thomsen den „Atlas der digitalen Welt“, die erste wissenschaftliche Nullmessung der digitalen Mediennutzung, die hohe Wellen geschlagen hat, weil sie die Konzentration auf dem digitalen Markt quantitativ belegt.

Herr Andree, von der satirischen Fernsehserie „South Park“ gibt es eine Folge, in der das Internet auf der ganzen Welt ausfällt – die gesamte Folge ist quasi im Stil eines postapokalyptischen Endzeitfilms aufgemacht. Könnte man mit einem Augenzwinkern sagen, dass es uns gestern ähnlich ging?

Es ist interessant, dass Sie diesen Vergleich ziehen. Denn implizit sagen Sie damit, dass Unternehmen wie Facebook das Internet gehört. Gestern hat es sich tatsächlich so angefühlt, als würde das Internet ausfallen. In solch sensiblen Augenblicken werden wir uns bewusst, was diese Unternehmen für eine Macht über unsere Kommunikation haben.

Auf den ersten Blick wirkt die Nachricht wie eine Lappalie – dann können wir halt mal ein paar Stunden nicht whatsappen. Warum ist das trotzdem so ein großes Ding? Es gab sogar Live-Ticker.

Daran sieht man, dass etwas entstanden ist, was noch vor 20 Jahren unvorstellbar war. In früheren Zeiten gehörte das Telefonnetz dem Staat, dadurch wurde vielen Wettbewerbern der Zugang zu diesem Netz ermöglicht. Heute haben wir Infrastrukturen, die Monopolbildung ermöglichen. In Augenblicken, in denen diese Infrastrukturen kollabieren, merken wir das besonders stark.

In Ihrem „Atlas der digitalen Welt“ beschreiben Sie die Wettbewerbsverzerrung am digitalen Markt durch die Konzentration des gesamten Traffics auf wenige Unternehmen wie Facebook.

Wenn wir uns das Netz anschauen, liegt uns eine Illusion von Vielfalt vor. Wir sehen, dass es viele Angebote gibt, aber nicht, dass viele überhaupt nicht genutzt werden. Aus einer Nutzungsperspektive betrachtet, existieren viele Angebote überhaupt nicht. Mein Kollege und ich waren in der Lage, das erste Mal eine quantitative Messung von allen Inhalten durchzuführen und dadurch zu zeigen, dass ein überwältigend großer Teil des gesamten digitalen Traffics nur von einer Handvoll Wettbewerber okkupiert wird.

Wie machen die das?

Sie haben etwas erschaffen, das man geschlossene Standards nennt. Zum Vergleich: E-Mails kommen aus der frühen Zeit der Netzkultur und sind ein offener Standard. Sie können von jedem beliebigen Internetprovider E-Mails hin- und herschicken. Die großen sozialen Netzwerke hingegen haben sehr früh durch ihre Gratis-Angebote eine große Anzahl von Usern auf Ihre Plattformen gelockt. Dort sind die User aber nicht in der Lage, ihre Inhalte mit anderen sozialen Medien zu teilen. Das heißt, es gibt virtuelle Mauern, durch die die Nutzer innerhalb dieser Netzwerke gefangen sind. Deswegen spricht man auch vom „Lock-in-Effekt“.

Warum können wir nicht einfach aufhören, diese Medien zu nutzen oder sie weniger nutzen?

Darin liegt eine große Ironie. Denn tatsächlich ist es so, dass wir diese Wahl möglicherweise gar nicht haben, weil das aktuell die Kommunikationsmedien unserer Zeit sind. Die sozialen Medien sind heute das, was vor 50 Jahren das Telefon, Fernsehen oder Radio waren. Deswegen sind solche Hinweise verfehlt, dass man ja auch Alternativen nutzen kann. Denn aufgrund der Netzwerkeffekte sind wir eben auf diesen Plattformen gefangen und können eigentlich gar nicht anders, als sie zu verwenden.

Dr. Martin Andree / privat

Hat sich Ihr persönlicher Social-Media-Konsum durch Ihre Forschungserkenntnisse verändert?

Ehrlich gesagt nein, weil ich durch meine Forschungen ja gerade zeige, dass wir uns nicht in der Illusion befinden sollten, dass wir als Mitglieder dieser Gesellschaft eine Wahl haben. Meine Meinung ist, dass wir darüber nachdenken müssen, ob wir diese Zugänge demokratisieren wollen oder ob wir weiterhin zulassen wollen, dass einzelnen Unternehmen diese Netzwerke gehören. Wir hätten solche Zustände vor 20 Jahren im Fall des Telefonnetzes nicht akzeptiert. Damals wurden UMTS-Lizenzen versteigert, um den Wettbewerb zu fördern.

Diese Unternehmen haben inzwischen eine solche Macht bekommen, dass sie sich einfach über staatliche Steuerforderungen hinwegsetzen können. Ist der Punkt überschritten, an dem man sie noch demokratisieren kann?

Ich sehe da eine große Gefahr, weil wir auch erstaunlich lange tatenlos diesen Entwicklungen zugeschaut haben. Auf der anderen Seite glaube ich, dass immer mehr ein Bewusstsein dafür entsteht, dass wir eigentlich gar keine andere Wahl haben, als fundamental darüber nachzudenken, wie wir das Netz neu gestalten wollen.

In der Netflix-Doku „The Social Dilemma“ prognostizieren ehemalige Google- und Facebook-Mitarbeiter, dass die Konzentration und Macht der sozialen Medien im Extremfall in einen Bürgerkrieg mündet. Teilen Sie diese Einschätzung?

In Bezug auf die Dringlichkeit sehe ich das ähnlich. Allerdings spielt in dieser Doku abermals das Thema Datenüberwachung die wichtigste Rolle – so wie in der Presseberichterstattung auch. Ich verstehe nicht, warum wir nicht den viel bedrohlicheren Effekt durch die Konzentrierung sehen, nämlich dass vor unseren Augen eine systematische Übernahme des Mediensystems stattfindet. Wenn wir die Erosion der analogen Medien und die digitale Mediennutzung eruieren, können wir sehen, dass in Zukunft vielleicht nur noch fünf Medienkonzerne die Welt unter sich aufteilen.

Die Datenüberwachung ist doch auch gefährlich – gezielte Suchtförderung, Verschwörungstheorien, Desinformationskampagnen. Gerade hat die Whistleblowerin Frances Haugen bewiesen, dass das Unternehmen eigene Forschungsergebnisse unterdrückt, zum Beispiel über die schädlichen Auswirkungen von Instagram auf das Selbstbild junger Mädchen.

Natürlich. Meine Wahrnehmung ist nur, dass in der Presse das Thema Überwachungskapitalismus deutlich präsenter ist als das Thema Konzentration. Für mich ist das Thema Konzentration ein viel fundamentaleres Thema, weil wir aktuell sehen, was dadurch passiert. Und logischerweise wird die Problematik der Datenüberwachung durch die Konzentrationsbildung noch stärker.

Laut „Bloomberg“ soll Mark Zuckerbergs privates Vermögen durch die Panne innerhalb weniger Stunden um sechs Milliarden US-Dollar gesunken sein. Die Aktie von Facebook soll um rund fünf Prozent abgestürzt sein. Schadet das einem so mächtigen Unternehmen überhaupt in irgendeiner Weise, oder warum ist das eine Nachrichtenmeldung wert?

Das sind kurzfristige Effekte, an denen sich manche Medien festbeißen. Das langfristige Spiel, dass da gespielt wird, nämlich dass über viele Jahre systematisch immer mehr Anteile der Mediennutzung in den sozialen Netzwerken stattfinden, wird dadurch nicht beeinträchtigt.

Dabei liest man ständig, dass Facebook an Relevanz verliert, weil TikTok und Co. zulegen.

Das sind Nebelkerzen. Als mein Kollege und ich die vollständige Messung der Internetnutzung durchgeführt haben, da hatte sich TikTok bereits vervierfacht. Trotzdem war es so, dass in dem Gesamtfeld aller sozialen Medien alleine Facebook und Instagram zusammen 80 Prozent Anteil hatten. Der Verweis auf TikTok, wenn man die Wettbewerbsverhinderung durch aktuelle Strukturen erwähnt, erinnert mich an die Raucher, die früher gesagt haben: Ja, aber Helmut Schmidt! Das ist kompletter Unsinn, und es ist gefährlich, sich von kurzfristigen Hypes ablenken zu lassen.

Was hat Facebooks Arbeit an einer Kryptowährung in diesem Kontext zu bedeuten?

Alle digitalen Player sind gerade dabei, ihre Vorreiterrolle in Bezug auf Datenzugang zu kapitalisieren, indem sie diesen Vorsprung in immer neuen Geschäftsbereichen und Kategorien ausspielen. Das sieht man bei Amazon, das sich ein zweites Standbein als Medienkonzern aufbaut. Amazon hat durch das E-Commerce-Geschäft einen riesengroßen Zugang zur First-Data-Party und kann in der Vertikalen an immer neue Geschäftsmodelle andocken – wir können davon ausgehen, dass Amazon bald in großem Stil eigene Produkte herstellen wird. Auch bei Facebook können wir davon ausgehen, dass es seine Vormachtstellung in Bezug auf Zugang und Kenntnis zu Endnutzern ausnutzen wird, um sich entsprechende Vorteile etwa beim Launch einer Kryptowährung zunutze zu machen. Kein Wettbewerber hätte hier eine vergleichbare Ausgangsposition.

Sie plädieren also für Regulierungen.

Regulierung hört sich so retro an. Aber de facto schafft Regulierung Wettbewerb. Eigentlich ist das, was aktuell passiert, genau das Gegenteil und zeugt von verkrusteten Strukturen mit Quasi-Monopolen oder echten Monopolen. Und es ist natürlich auch so, dass echte Monopolisten sich weniger stark anstrengen müssen als in einer Situation, in der Wettbewerb herrscht. Ohne Regulation stoppen wir den Wettbewerb. Wir reduzieren Innovation und wir bringen uns um Fortschritte in der digitalen Sphäre.

Das klingt alles ziemlich frustrierend.

Ich bin persönlich tatsächlich total frustriert darüber. Ich erforsche diese Thematik mittlerweile seit 2010 und habe schon 2012 in einer großen Tageszeitung einen warnenden Artikel über die drohenden Gefahren der Konzentration in der digitalen Welt veröffentlicht. Das war wohlgemerkt noch zu Zeiten Barack Obamas und des angeblich guten und demokratisierenden Grassroots-Internets. Der Essay wurde damals von der Redaktion mit dem Titel versehen: „Liebling, das Netz schrumpft“. Woran man erkennt, wie süß das damals anmutete und wie wenig ernst man das alles nahm. Mich wundert, dass wir selbst heute noch so unbekümmert mit dieser Gefahr umgehen, weil wir hier einen massiven Kontrollverlust über eine der Grundfesten unserer Demokratie, nämlich unser Mediensystem, beobachten.

Die Fragen stellte Ulrich Thiele.

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