Zukunft der Arbeit - Wie der Mensch mit Exoskeletten zur Maschine wird

Immer mehr Unternehmen testen sogenannte Exoskelette. Die tragbaren Roboter sollen Arbeitnehmern mehr Muskelkraft verleihen und ihre Gesundheit schonen. Doch Kritiker fürchten, dass Stellen eingespart werden.

Wenn ihr starker Arm es will: Auch deutsche Hersteller bieten Exoskelette an / Ottobock
Anzeige

Autoreninfo

Susanne Donner ist freie Journalistin und schreibt zu Themen aus Medizin, Gesellschaft und Ökonomie.

So erreichen Sie Susanne Donner:

Anzeige

Am Anfang haben die Kollegen noch Witze gemacht. „Du siehst aus wie Batman oder Robocop“, hörten die Arbeiter bei VW im Werk in Bratislava. Sie steckten in einer Art schwarzem Rucksack mit Flügeln, der ihnen half, über Kopf zu arbeiten. „Exo­skelett“ oder „wearable robotics“ – tragbare Roboter – heißen solche Monturen. Inzwischen sind sie in den gigantischen Produktionshallen von Bratislava kein Aufreger mehr. 

Andrej Hodál zieht nicht einmal mehr Blicke auf sich, als er sich das Exo­skelett um die Hüften schnallt und die Schalen am Oberarm festzurrt. Im Minutentakt schiebt das Förderband die Karossen für Stadtgeländewagen (SUV) der verschiedenen Marken von Seat Mii bis zu Volkswagen up! heran. Hodál nimmt einen Kabelbaum, zieht die Heckklappe des Wagens etwas zu sich herunter und verlegt die Stromzufuhr für die Heckscheibenheizung. Dann kommt auch schon die nächste Karosse. 

„40 bis 50 Sekunden arbeitet er je Wagen über Kopf“, sagt der Manager und Experte für Ergonomie Miroslav Agalarev von VW. Zwei Stunden am Stück erledigt Hodál nur diesen Handgriff, ehe er eine andere Tätigkeit am Förderband übernimmt. Am Abend steckt ihm die Arbeit in den Schultern und im Nacken. Wenn er jedoch das Exoskelett trägt, das vom deutschen Hersteller Ottobock stammt, „bin ich damit nach der Schicht nicht so müde“, sagt er, „die Schultern schmerzen nicht so sehr, und es ist leichter, den Rücken in einer guten Position zu halten.“ 

Auftakt des Mensch-Maschine-Zeitalters

Wenig bemerkt von der Öffentlichkeit erkunden viele Arbeitgeber Exoskelette, um ihrem Personal körperlich schwere Arbeit zu erleichtern und Gesundheitsschäden abzuwenden. Dazu gehören alle Autobauer von VW über Ford bis zu Daimler, Flugzeugbauer und Handwerksbetriebe. Logistikdienstleister wie DHL und die Möbelkette Ikea geben die tragbaren Roboteranzüge neuerdings an Lagerarbeiter aus. Auch Pflegeeinrichtungen interessieren sich für das Extra an Muskelkraft.

Modell von German Bionic / presse

Der Einzug der Exoske­lette markiert einen fundamentalen Wandel in der Arbeitswelt. Kamen mit dem Fließband und den Industrierobotern die Automatisierung und nachfolgend die Digitalisierung, so rücken nun beide Technologien ganz nah an den Menschen heran. „Maschinen können fast unbegrenzte Kraft aufbringen. Sie sind unermüdlich und bei gleichförmiger Arbeit häufig überlegener. Aber selbst in hochmodernen Fabriken sehen wir, dass Menschen bei vielen anderen Aufgaben besser sind“, sagt der Leiter des Geschäftsfelds Ottobock Industrials, Sönke Rössing. Mensch und Maschine werden deshalb „an immer engeren Schnittstellen zusammenarbeiten“. Tragbare Roboter sind der Auftakt des Mensch-Maschine-Zeitalters. 

Noch in diesem Jahr möchte eine französische Baumarktkette die Roboter zum Überstreifen sogar für Privatkunden anbieten. „Künftig werden sehr viele Menschen Exoskelette ganz selbstverständlich im Alltag nutzen“, glaubt Armin Schmidt, Geschäftsführer von German Bionic. Sein Unternehmen stellt tragbare Roboteranzüge zur Entlastung des unteren Rückens her. 2019 erhielt es den Deutschen Gründerpreis. Im vergangenen Jahr eröffnete es in Augsburg eine Fabrik für mehrere Tausend Exoskelette pro Jahr.

Arbeitgeber versprechen sich mehr Leistung

Das Versprechen der Hersteller ist gewaltig. Die Roboter zum Anziehen sollen eine Antwort auf die Wucht des demografischen Wandels und den Fachkräftemangel sein. „Sie können Fehltage aufgrund von Krankheiten vermindern und Menschen länger in Arbeit halten“, sagt Schmidt. Frühberentungen in harten Berufen sollen sie vermeiden helfen. 

Alleine die Fehltage, bedingt durch Rücken- und Nackenschmerzen, kosteten die Arbeitgeber 2016 laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 17,2 Milliarden Euro. EU-weit sollen sich die Verluste infolge von Erkrankungen des Muskel-Skelett-Apparats auf 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts belaufen. 

Eine konzerninterne Arbeitsgruppe bei VW befasst sich nur mit den Exo­skeletten, die „ein wichtiges Zukunftsthema“ seien. „Die Arbeiter können damit länger beschwerdefrei – und auch auf ihre Lebenszeit gesehen länger – körperliche Tätigkeiten verrichten“, hofft Ergonomie-Experte Agalarev.

Zwei Typen von Exoskeletten

International haben sich rund ein Dutzend Hersteller in den vergangenen drei Jahren mit Exoskeletten für die Arbeit positioniert. Die Marktforschungsgesellschaft ABI Research geht davon aus, dass derzeit weltweit rund 7000 Exo­skelette in Umlauf sind. Bis 2028 soll ihre Zahl auf 300 000 Stück anwachsen. Das Marktvolumen würde dann bei mehr als fünf Milliarden US-Dollar liegen. Ottobock brachte alleine seit 2018 sechs verschiedene Modelle heraus – solche für mehr Daumenkraft, für Überkopfarbeiten sowie für den unteren Rücken. Allerdings ist der Bereich anders als Medizintechnik bisher auch nicht gesetzlich reguliert, was einen schnellen Innovationszyklus erst ermöglicht. 

Exoskelette lassen sich in zwei Typen einteilen. Passive Modelle haben weder Motor noch Batterien und leiten die Belastungen über Federn und Seilzüge auf andere Körperpartien des Trägers um. So funktionieren auch jene 30 Anzüge, die VW in Bratislava einsetzt. Sie lenken die Kräfte, die auf Schultern und Nacken wirken, wenn Beschäftigte über Kopf arbeiten, auf die Hüfte um. Der Vorteil: Diese Systeme sind leicht – knapp zwei Kilogramm. 

Den Prognosen der Marktforschungsinstitute zufolge haben aber aktive Exoskelette das größere Potenzial. Das Modell von German Bionic gehört zu diesem Typus. Motoren übernehmen darin beim Heben selbst bis zu 28 Kilogramm. Menschen können damit Schweres leichter tragen und prinzipiell auch Gegenstände hochhieven, die sie sonst gar nicht hochbekämen. Diesem künstlichen Bodybuilding des Menschen sind fast keine Grenzen gesetzt. „Man könnte daran denken, einen Menschen in einen Kran zu verwandeln“, sagt Sascha Wischniewski, Wissenschaftlicher Direktor und Leiter der Fachgruppe „Human Factors, Ergonomie“ an der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Dortmund. Der Vorteil der aktiven Anzüge liegt darin, dass sie Arbeiter tatsächlich entlasten. Dafür braucht es aber Batterien und Motoren, sodass das Exo­skelett von German Bionic immerhin acht Kilogramm wiegt.

Auch für die Pflegebranche attraktiv

In der Automobilbranche, im Maschinenbau und bei den Logistikdienstleistern haben sich die Möglichkeiten der Exoskelette herumgesprochen. Die Betriebe mieten sie, erproben sie und befragen die Mitarbeiter. Bei VW fiel das Votum der Belegschaft positiv aus. Den meisten ging die Arbeit mit Exoskelett leichter von der Hand. „Wir wollen diesen Weg weitergehen“, schließt Agalarev. 
Neuerdings interessieren sich auch Handwerksbetriebe und viele Träger von Pflegeeinrichtungen für die Technologie, berichtet Schmidt. „Das geht bis hin zu Privatpersonen, die einen Angehörigen pflegen und dafür das Exoskelett haben wollen.“ 

Das ist kein Stuhl: Chairless Chair von Noonee

„Viele Beschäftigte in der Pflege haben Rückenprobleme“, berichtet Josef Huber von der Bruderhausdiakonie in Reutlingen, die mehrere Pflegeheime in Süddeutschland betreibt. Das Personal muss die teils bettlägerigen Bewohner in den Rollstuhl oder in die Dusche hieven oder umbetten. In einem Forschungsprojekt testen mehrere Pflegekräfte des Trägers deshalb verschiedene Exoskelette. „Wir haben uns erst einmal zwei Szenarien herausgegriffen, bei denen die Systeme helfen könnten. Das ist das Umsetzen einer Person vom Bett in den Rollstuhl und das Hochverlagern eines Menschen, wenn er im Bett Richtung Fußende gerutscht ist. Beide Tätigkeiten sind sehr belastend für den unteren Rücken“, sagt Huber. Die ersten Reaktionen seien bisher sehr vielfältig, betont er. Die einen hätten die Erwartung, die anziehbaren Roboter würden alle Nöte lösen. Die anderen seien generell skeptisch gegenüber Neuerungen.

Klar aber ist schon jetzt, dass Exo­skelette für die Pflege anders designt werden müssen als für einen Packer bei einem Logistikdienstleister. Die Montur darf nicht furchteinflößend wirken, und im Dunklen dürfen sich etwa auch demente Bewohner nicht an der Silhouette erschrecken. Huber ist aber zuversichtlich, dass ältere Menschen sich an das ungewöhnliche Hilfsmittel gewöhnen. „Wenn sie die Exoskelette sehen, kommen in erster Linie neugierige Blicke und die Frage: Was ist denn das?“

Zuletzt am Menschen ist die Devise

Am Ende wird sowieso vor allem eine Schlüsselfrage zählen: Helfen die anziehbaren Roboter wirklich? Entlasten sie den Rücken und vermindern sie Krankheiten? Die Hersteller beginnen puzzleteilartig Antworten darauf zu liefern. Sowohl German Bionic als auch Ottobock wiesen in eigenen Untersuchungen nach, dass die betroffenen Muskeln weniger Kräften ausgesetzt sind und weniger hart arbeiten müssen. Das Herz pumpt in der Folge nicht so heftig. 

Aber was nach einigen Monaten oder gar vielen Jahren im Exoskelett passiert, weiß bisher niemand, betont Wischniewski. Ausdrücklich dämpft er die Erwartungen. „Ein guter Arbeitsplatz sollte gar kein Exoskelett erfordern. Zuerst muss das Umfeld ergonomischer gestaltet werden, dann kommen externe Hilfsmittel zum Zug, etwa eine Hebebühne, und nur wenn partout nichts anderes mehr geht, personenbezogene Schutzausrüstung wie Handschuhe oder Exoskelette“, sagt er. 

Eine goldene Regel im Arbeitsschutz lautet „zuletzt am Menschen“. Diese Weisheit hat ihre Historie: Handschuhe etwa schützen vor Verletzungen, vor Infektionen und Verätzungen. Aber Beschäftigte schwitzen darin und bekommen bei langen Tragezeiten nicht selten eine Dermatitis. Deshalb sind die Hilfsmittel unbeliebt, sodass Handschuhe gerne beiseitegelassen werden, auch wenn die Arbeitsbedingungen sie zwingend erfordern.

Kinderkrankheiten einer jungen Technologie

Wie real die Einwände unabhängiger Forscher sind, zeigte ein Test des Exo­skeletts der Schweizer Firma NoNee durch die Arbeitsgruppe von Sportmediziner Benjamin Steinhilber an der Uni Tübingen. 45 Studierende setzten sich für das Arbeiten in der Hocke auf eine Art tragbaren Stuhl, der am unteren Rücken befestigt war. „Man setzt sein Gewicht auf zwei recht wackeligen Stützen ab“, erklärt Steinhilber. Wenn ein vorbeilaufender Kollege den Arbeiter anrempelt oder ein kollaborierender Roboter ihn trifft, ist das Risiko groß, dass der Beschäftigte im Exoskelett umfällt, so das Ergebnis der Experimente. Die Standfestigkeit des Systems sei unzureichend.

Es könnten die Kinderkrankheiten einer jungen Technologie sein. Beim Test des Überkopf-Exoskeletts von Ottobock fällt auf, dass man beim Herunternehmen der Arme gegen die Federkraft arbeiten muss. Und das Laufen im Exoskelett von German Bionic ist ungewohnt, schildert ein Tester: Die Oberschenkel müssen unnatürlich gegen die Beinmanschetten gehoben werden. Versicherungen wiederum interessieren sich für noch ganz andere Fragen: Wie kann man etwa mit einem Exoskelett bei einem Brand flüchten? Oder was geschieht, wenn man einen Kollegen damit anstößt? Noch lernt die Branche von jedem Anwendungsfall. 

Einige Anregungen hat sie schon aufgegriffen. Der Muskel-Skelett-Apparat ist für Be- und Entlastung im ständigen dynamischen Wechsel geschaffen, erklärt Wischniewski. „Künftig werden unsere Exoskelette variabel unterstützen, mal mehr, mal weniger, wie die Gangschaltung beim Rad“, sagt Schmidt. Sensoren erfassen die Winkelstellung des Rückens und den Ablauf der Bewegungen. Wird der Träger müde, soll es noch dieses Jahr eine Funktion für Extramuskelkraft am tragbaren Roboter geben. 

Kritiker befürchten: Stelleneinsparungen und Entfremdung 

„Die größte Sorge der Kritiker ist, dass Exoskelette benutzt werden, um Personal einzusparen“, weiß Huber aus den Gesprächen mit Pflegekräften. Sie ist theoretisch nicht ganz von der Hand zu weisen: Mit Exo­skeletten bräuchte es zum Transport einer Waschmaschine künftig prinzipiell nur noch einen roboterisierten Möbelpacker statt bisher zwei Kollegen.

Ein anderes Risiko spricht Huber auf die Frage an, ob sich die Anschaffung von Exoskeletten für ein Pflegeheim rechnet. Immerhin kosten die Systeme zwischen 400 und 50 000  Euro. Zur Miete gibt es sie im drei- bis vierstelligen Bereich monatlich. „Wenn wir dadurch wirklich kranke Rücken vermeiden könnten, lohnt es sich“, erklärt Huber. Das Humankapital, nur ein Wirtschaftsfaktor, den man bilanzieren muss? Tragbare Roboter könnten dann zur weiteren Entmenschlichung von Arbeit führen. „Das darf nicht passieren“, stellt Huber klar. „Wir müssen den Einsatz von Exoskeletten in jedem Fall fachlich und ethisch reflektieren.“ 

Bei den Herstellern ist man naturgemäß überzeugt, dass ein kluger Umgang gelingt. „Nehmen Sie die Brille“, sagt Schmidt. „Sie ermöglicht Milliarden von Menschen, deren Sehkraft nachlässt, weiterhin an Gesellschaft und Erwerbsleben teilzuhaben.“ In der Tat: Nachteile kommen einem bei dieser Errungenschaft kaum in den Sinn.
 

Dieser Text ist in der Februar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

Jetzt Ausgabe kaufen

 

 

 

Anzeige