Prügelknabe Industrie - Der Politik ist Twitter wichtiger als die Wirtschaft

Für die lahmende Konjunktur macht die Spitzenpolitik gerne Watschenmänner wie Donald Trump und Boris Johnson verantwortlich. Doch das größere Problem ist, dass man lieber denen hinterherläuft, die in der Klimadebatte die Diskurshoheit haben, während die Industrie schlechtgeredet wird.

Statt Merkel: Auf dem Wirtschaftstag des Wirtschaftsrats der CDU war 2019 AKK zu Gast / dpa
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Autoreninfo

Markus Karp ist an der Technischen Hochschule Wildau Professor für Public Management und Staatssekretär a.D.

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Lange Jahre hat sich der regierende Teil der Politik für die Stabilität der Bundesrepublik in einer Welt zunehmend unruhiger Demokratien gerühmt. Hier in Deutschland würden die Dinge vom Ende her gedacht, chaotische Volten und populistische Zuckungen seien nicht Teil des Regierungshandelns.

Haarrisse in dieser Fassade biederer Solidität waren schon lange zu sehen. Vor geraumer Zeit wurden daraus Spalte und Brüche, die jedoch mehr oder minder gut gekittet worden sind. Inzwischen aber kommt uns die ganze Wand entgegen. Planbarkeit, lange Linien, Grundsätze, auf die Verlass ist, weichen chaotischen Richtungswechseln. Politisches Spitzenpersonal der Regierungskoalition kann morgen schon zurückgetreten oder vom Hof gejagt worden sein. Und wo personelle Kontinuität im Verbund mit oft verblüffender Skandalresistenz herrscht, ist die politische Agenda umso wechselhafter, je nach tagespolitischer Wetterlage. Eine koalitionäre Krise jagt die nächste.

Italienisierung des Parlamentarismus

Es ist zu befürchten, dass die gegenwärtige Krise nicht Höhe- und Schlusspunkt ist, sondern nur ein Zwischenakt. Und nicht allein die Allgemeinpolitik erlebt Zustände, die in der Vergangenheit mit süffisantem Hochmut als Italienisierung des Parlamentarismus bespöttelt worden wären. Auch die ordoliberale Tradition der bundesdeutschen Wirtschaftspolitik kommt zugunsten von Aktionismus, Interventionismus und Populismus ohne Nachhaltigkeit an ihr Ende. 

Zu besichtigen ist das bei einer der typischen Traditionsveranstaltungen klassischer hiesiger Wirtschaftspolitik: Dem „Wirtschaftstag“, der Flaggschiffveranstaltung des Wirtschaftsrates der CDU. Seit etlichen Jahren bildet eine Rede der Bundeskanzlerin den Höhepunkt der Veranstaltung. 2019 jedoch war das anders. Die Beteiligten versuchten das kleinzureden, schließlich sei Angela Merkel ja nicht mehr Parteivorsitzende, dennoch sorgte die Absage für Aufmerksamkeit. Schließlich gehört das Defilee vor der Kanzlerin in einer der traditionellen wirtschaftspolitischen Schaltzentralen zu den Ritualen, die das gegenseitige Verständnis von Macht und Ökonomie festigen. 

Die Unzufriedenheit wächst

Das ist symptomatisch für das schwieriger werdende Verhältnis von Politik und Wirtschaft. Insbesondere unterhalb der Konzernebene wächst die Unzufriedenheit. „Man kann nicht immer nur den Mittelstand als Rückgrat der deutschen Wirtschaft in Sonntagsreden loben, aber praktisch nichts für bessere Rahmenbedingungen tun: Immer mehr Bürokratie, immer mehr Auflagen, wir spüren konkret keinerlei Verbesserungen“, kommentiert die BDI-Vizepräsidentin Ingeborg Neumann harsch.

Dass das politische Engagement für die Deutschland AG nachlässt, ist verwunderlich. Schließlich verpflichtet sich die Politik zu immer mehr Aufgaben, sprich: Ausgaben. Möglichst viele als sozialpolitisch unbefriedigend empfundene Zustände sollen durch Umverteilung korrigiert werden und das stete Bemühen, mit hohem moralischen Anspruch auf allerlei Politikfeldern Vorreiter zu sein, ist ebenfalls sehr kostenintensiv.

Der Staat erwirtschaftet nicht

Selbst die Außenpolitik beruht im Kern auf dem Verteilen und Zusagen von Mitteln, weil im Zweifelsfall der allseits geforderte weltpolitische Verantwortungszuwachs doch nur monetär erfolgt. Sofern sich in diesen Politikansätzen der Wille des Souveräns widerspiegelt, ist dagegen auch nichts einzuwenden. Kritisch wird es aber, wenn die politische Klasse vergisst, welches die Quellen der massiv benötigten Mittel sind. Gern wird schulterklopfend darauf verwiesen, der Staat habe gut gewirtschaftet. Allerdings erwirtschaftet er meist nicht, sondern schöpft ab. Ein Zusammenhang, der im politischen Diskurs gegenwärtig etwas kurz kommt.

Die scheinbar unaufhörlich sprudelnden Staatseinnahmen lassen vergessen, dass seit den Schröder’schen Reformkabinetten hauptsächlich von deren Früchten gezehrt worden ist, ohne dass seither hinreichende neue wirtschaftspolitische Leistungen erbracht worden wären. Neben der erfolgreichen Überwindung der Weltfinanzkrise von 2008/2009, derer sich die Große Koalition noch zurecht rühmen kann, haben vor allem die deutsche Exportwirtschaft und die EZB für den dauerhaften Aufschwung gesorgt. Gerade in den letzten Jahren hat sich das politische Berlin dagegen mehr auf das Ernten als das Säen verstanden.

Die Politik entfremdet sich von der Wirtschaft

Jetzt aber kommt dieses Prinzip an seine Grenzen. Obwohl die Politik noch immer am liebsten von Vollbeschäftigung und Fachkräftemangel redet, lahmt die Konjunktur. Das neue Jahrzehnt hat mit einem signifikanten Anstieg der Arbeitslosigkeit begonnen. In der deutschen Schlüsselindustrie sieht es düster aus: Die hiesige Automobilproduktion ist auf den Stand von 1996 zurückgefallen. Das Land aber redet kaum darüber und am wenigsten die Spitzenpolitik. Dort ist man vor allem mit Ideen zur Erhöhung der Staatsquote und neuen Regulierungsvorschlägen befasst. Dass es Probleme gibt, wird als vorübergehende Delle verharmlost. Die Schuld daran wird dem Management der Konzerne oder den üblichen Watschenmännern Trump und Johnson zugewiesen.

Das aber greift zu kurz: Selbstverständlich leidet eine derart exportorientierte Volkswirtschaft wie die deutsche unter Handelskonflikten, natürlich sorgt das Brexit-Trauerspiel für Verwerfungen und Rückschläge. Und viele Topmanager deutscher Großunternehmen haben verhängnisvolle Fehlentscheidungen getroffen. Das aber ist nicht alles. Problemursächlich ist auch, dass die deutsche Politik sich von der Wirtschaft entfremdet hat. Wird aber die Ökonomie vor allem als niemals kollabierende Melkkuh, die nach Belieben schurigelt werden kann, wahrgenommen, gibt es auch keine gute Wirtschaftspolitik. Wehe, wenn sich in dieser Situation ein sogenannter schwarzer Schwan zeigte, welcher die globale Konjunktur einbrechen ließe.

Industrie wird behandelt wie ein Prügelknabe

Auf der Strecke bleibt die Zukunftsfestigkeit unseres Landes. Im Dienstleistungsbereich ist Deutschland ebenso schlecht aufgestellt wie auf dem Feld der Digitalökonomie - obwohl es löbliche Ausnahmen vom tristen Gesamtbild gibt. Unseren Wohlstand verdanken wir unserer Industrie. Sie ist das Hauptvermögen der Bundesrepublik. In den Debatten aber wird sie behandelt wie ein Prügelknabe. Nicht wenige suggerieren im Zuge der Klimadebatte, dass ihr Schrumpfen unsere Erlösung wäre. Selbst Politiker, die es besser wissen, wagen kaum, zu widersprechen. Schon der Begriff Wachstum wird vermieden, Wirtschaftswachstum nicht mehr als Ziel ausgegeben, weil von Sendungsbewusstsein erfüllte „Degrowth“-Aktivisten die Diskurshoheit besitzen.

Das ist grober Unfug, weil diesen Ideen ein infantiles Wachstumsverständnis innewohnt, eine Tonnenideologie, welche sich Wachstum nur als einen Zuwachs an materieller Masse auszumalen vermag. Das Wachstum von Wertschöpfung und Produktivität muss aber kein Mehr an Ressourcenverbrauch bedeuten, sondern kann auch dessen Reduzierung zur Folge haben. Das ist der Grund, weswegen in den letzten drei Jahrzehnten viele westliche Volkswirtschaften erheblich gewachsen sind, aber weniger Emissionen ausstoßen als vorher. Gerade die Große Koalition der Noch-Volksparteien ist aufgefordert, diese Zusammenhänge klarer zu benennen, anstatt einem Zeitgeist hinterherzulaufen, der eine sozial ruinöse Deindustrialisierung zur Folge haben könnte. Es gilt, auch einmal den Gegenwind aus dem tonangebenden Milieu der urbanen Avantgarde aushalten zu können. Dass sich damit Wahlen gewinnen lassen, zeigen die jüngsten Wahlsieger der Nachbarländer Niederlande, Dänemark und Österreich, in denen klassische Liberale, Sozial- oder Christdemokraten die Oberhand behielten.

Überdrehte Twittergemeinde

Die deutsche Politik aber scheut wirtschaftspolitische Themen und lässt sich die Agenda lieber von einer überdrehten Twittergemeinde diktieren, die „die Wirtschaft“ vor allem als Bremser des Mehrheitswillens und Ausbeuter von Mensch und Natur abstempeln möchte. So, als wäre „die Wirtschaft“ nicht Teil unserer Gesellschaft und das Fundament unseres Wohlstandes, welches uns überhaupt erst in die Lage versetzt, politische Ziele jenseits materieller Bedürfnisse zu verfolgen.

Die Deindustrialisierung wäre gleichbedeutend mit einer noch sehr viel brutaleren Spaltung der Gesellschaft und einer deutlich härteren politischen Zuspitzung, als wir sie hierzulande derzeit kennen und doch schon jetzt kaum ertragen können. Ein Blick in die USA, nach Großbritannien, Frankreich und Italien macht klar, was in diesem Fall zu erwarten wäre. Dann offenbart sich, was insbesondere den größeren Parteien momentan gern einmal aus dem Blick gerät: „It's the economy, stupid“, so die geniale Erkenntnis aus Bill Clintons erstem Wahlkampf. Dass das in Deutschland offensichtlich in Vergessenheit geraten ist, ist keine gute Voraussetzung, die derzeitige Tendenz zur Chaotisierung der Politik zu stoppen. 
 

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