Demografische Entwicklung - Die Zahlentrickser

Schrumpfen, pflegen und vergreisen – vier Ein­wände gegen das demografische Gruselkabinett

Erschienen in Ausgabe
Seit 2003 hören wir erstaunt fast täglich einen Politiker oder Journalisten über Bevölkerungszahlen reden / Illustration: Christine Rösch
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Gerd Bosbach lehrt Statistik, Mathematik und Empirie an der Hoch­schule Koblenz.

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Jens J. Korff ist freiberuflicher Historiker und Sachbuchautor. Er lebt in Bielefeld.

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Seit Jahren wird eine demografische Entwicklung prognostiziert, die einem Gruselkabinett ähnelt. In dem Schreckensbild, das gezeichnet wird, steht eine Masse an immer älter werdenden Alten wenigen jungen Menschen gegenüber, auf deren Schultern die gesamte Last liegt, wodurch das bestehende soziale und wirtschaftliche Gefüge alarmierend ins Wanken gerät. Der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg und andere sprachen bereits von einer Verdopplung des Altenquotienten. Und seit 2012 warnen Frank-Jürgen Weise (Bundesagentur für Arbeit), Robert Egeler (Statistisches Bundesamt) und andere vor einem angeblich drohenden gravierenden Mangel an Arbeitskräften. Aber selbst wenn die Vorhersagen über eine steigende Lebenserwartung, weniger Kinder und mehr Rentner tatsächlich so eintreffen sollten, wie Demografen sie skizzieren – wäre das denn wirklich ein so riesiges soziales und wirtschaftliches Problem?

Einwand 1: 
Langzeitprognosen sind unzuverlässig

Vorab sei gesagt, dass sich Langzeitprognosen immer als moderne Kaffeesatzleserei erweisen. Welche Zahlen des Jahres 2010 hätte Konrad Adenauer 1960 denn tatsächlich vorhersagen können? Richtig, die Jahreszahl. Sonst aber fast gar nichts. Und in der heutigen schnell­lebigen Zeit sollen wir 50 Jahre in die Zukunft schauen können? Selbst 1985, also vor „nur“ gut 30 Jahren, wusste Helmut Kohl samt seinem Beraterstab kaum etwas über die Welt von heute. 25 Jahre Wiedervereinigung, Auflösung des Ostblocks, Kriege in Irak, Libyen, Syrien und ihre Folgen für uns; Indus­trie 4.0, 3-D-Drucker, Google, Wikipedia, Face­book, Whats-App: So gut wie nichts davon war vor 30 Jahren zu erahnen. Selbst vor 20 Jahren waren Dinge wie Riester- und Rürup-Rente, Finanzkrise und Europäischer Stabilitätsmechanismus nicht in Sicht. Es ist unseres Erachtens daher schwer nachzuvollziehen, dass viele sonst so kluge Leute trotzdem 50-Jahres-Prognosen mit der zukünftigen Wirklichkeit verwechseln.

Einwand 2: 
Alterung war in der Vergangenheit kein Problem

Da Blicke in die ferne Zukunft also immer höchst unsicher sind, schauen wir zum Vergleich lieber zurück ins bekannte 20. Jahrhundert. Die durchschnittliche Lebenserwartung stieg von 1900 bis 2000 um mehr als 30 Jahre; der Anteil der unter 20-Jährigen halbierte sich von 44 auf 21 Prozent. Und der Anteil von 65 Plus hat sich mehr als verdreifacht – von 4,9 auf 16,7 Prozent. Die demografischen Veränderungen des 20. Jahrhunderts waren weit größer als das, was für das 21. Jahrhundert erwartet wird. Nach der heutigen Logik der Demografen hätte diese „Katastrophe“ drastische Kürzungen der Renten und eine drastische Verlängerung der Arbeitszeit nötig machen müssen. Was geschah stattdessen? Der Sozialstaat wurde im vergangenen Jahrhundert massiv ausgebaut, die wirtschaftliche Entwicklung war immens. Und bei alledem wurden die Arbeitszeiten in einem heute nicht mehr vorstellbaren Maß reduziert: Aus 60 Wochenstunden im Jahr 1900 wurden 40, aus (maximal) zwei Wochen Jahresurlaub wurden (in der Regel) sechs, und auch die Lebensarbeitszeit wurde um mehr als fünf Jahre gekürzt. Die Demografie-„Logik“ erweist sich also als Trugschluss, sobald wir sie rückwirkend auf das 20. Jahrhundert anwenden.

Einwand 3: 
Demografie ist nicht verantwortlich für die gesellschaftliche Entwicklung

Die Altersstruktur einer Bevölkerung bestimmt nicht zwangsläufig ihr Wohlergehen. Das zeigen auch weitere Betrachtungen, die der Logik der demografischen Schwarzmaler und Sparapos­tel widersprechen.

• Wenn die Kinderzahl pro Frau so wichtig wäre, wie zum Beispiel der Bielefelder Demografiepapst Herwig Birg behauptet, müsste es Frankreich ökonomisch deutlich besser gehen als Deutschland. Immerhin bekommt in Frankreich jede Frau etwa zwei Kinder, in Deutschland im Durchschnitt nur 1,5.

• Wie geht es den Staaten dieser Welt mit jungen Bevölkerungen? Das sind zum Beispiel Bolivien, Bangladesch oder die Philippinen. Sie sind arm. Wer dagegen sind die reichen Staaten? Deutschland, Japan, die Schweiz, Australien – also die mit einer „alten“ Bevölkerung.

• Seit Jahren wird bei uns über einen demografisch bedingten Ärztemangel geklagt. Wie kann das sein? Haben wir doch seit vielen Jahrzehnten einen scharfen Numerus clausus für das Medizinstudium, der viele junge Menschen am Ergreifen des Arztberufs gehindert hat. An zu wenig jungen Leuten hat es also nicht gelegen. Den Regierungen war und ist seit Jahrzehnten die Ausbildung neuer Ärzte zu teuer.

• „Studenten in Deutschland: So viele gab es noch nie“ (Der Spiegel, November 2014) – „511 600 Ausbildungsstellen stehen 559 400 Bewerber gegenüber“ (Bundesagentur für Arbeit, Oktober 2014) – „Zu große Klassen, zu wenig Lehrkräfte“ (WDR 5, August 2014). „Verlorene Jugend – Die Jugendarbeitslosigkeit ist in Südeuropa sehr hoch – in Spanien trifft sie jeden Zweiten“ (Die Zeit, August 2014). So weit eine Auswahl von Überschriften des Jahres 2014.

Merkwürdig, wie solche Widersprüche im Demografiediskurs meist ausgeblendet werden. Wir sehen übervolle Hörsäle, wir hören von Jugendlichen ohne Chance auf Ausbildungs- oder Arbeitsplätze, glauben aber trotzdem, es gebe zu wenig Kinder. Wie kann das angehen?

Einwand 4: 
Die Angstmacher präsentieren ihre Zukunftsprognosen sehr trickreich

In einer Pressekonferenz am 28. April 2015 kommentierte Robert Egeler, damaliger Präsident des Statistischen Bundesamts, die Ergebnisse der „13. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung zur Bevölkerungsentwicklung in Deutschland bis 2060“: „Die Anzahl der Menschen im Erwerbsalter wird stark schrumpfen. Als Erwerbsalter wird hier die Spanne von 20 bis 64 Jahren betrachtet. Im Jahr 2013 gehörten gut 49 Millionen Menschen dieser Altersgruppe an … Geht die Zuwanderung langfristig auf 100 000 Personen zurück (Variante 1 ‚Kontinuität bei schwächerer Zuwanderung‘), gibt es 2060 ein noch kleineres Erwerbspersonenpotenzial: 34 Millionen oder 30 Prozent weniger als 2013.“ Direkt nach dieser Pressekonferenz warnte das Handelsblatt mit fetter Überschrift vor einem Rückgang der Zahl der Erwerbsfähigen um fast ein Drittel: „Statistisches Bundesamt: Deutschland verliert massenhaft Erwerbstätige“ – und weiter: „Ein Blick ins Jahr 2060: Wenige Junge, viele Alte und wenige, die arbeiten.“ Müssen also bald zwei Menschen die Arbeit von dreien schultern? Um auf dieses Horrorszenarium zu kommen, mussten die Warner viele Faktoren „übersehen“. Hier die drei wichtigsten:

1. Der Rückgang um 30 Prozent ist keine Herausforderung für morgen, sondern eine, für deren Bewältigung wir 47 Jahre Zeit haben. Aufs Jahr betrachtet, liegt der Rückgang bei unter 0,8 Prozent. Anders ausgedrückt: Nächstes Jahr müssen 99 das schaffen, was heute 100 schaffen. In Wirklichkeit ist es dank Punkt 2 und 3 aber noch weniger „schlimm“.

2. Der Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials auf 34 Millionen entstammt einer Modellrechnung, in der die Zahl der Gesamtbevölkerung um gut 16 Prozent sinkt. Eine deutlich kleinere Bevölkerung braucht zu ihrer Versorgung aber auch weniger Erwerbstätige. Es kommt also nicht auf die absolute Zahl an, sondern auf den Anteil der Erwerbs­personen an der Gesamtbevölkerung.

3. Sowohl für 2013 wie für 2060 wurde ein Renteneintrittsalter von 65 Jahren unterstellt. Und das, obwohl die Lebenserwartung nach derselben Prognose um 6,5 Jahre steigen soll. Und obwohl die Rente ab 67 schon für 2029 beschlossen ist! Warum sollten wir gut sechs Jahre länger leben, unter Arbeitskräftemangel leiden und dennoch keinen Tag länger arbeiten? Eine solche Annahme ist schlicht Unfug. 
Wenn wir diese drei für Statistiker und andere denkende Menschen eigentlich selbstverständlichen Faktoren einbeziehen, nach Punkt 2 also nicht die Anzahl, sondern den Bevölkerungsanteil der Personen im Erwerbsalter betrachten, dann haben wir es nur noch mit einem Absinken um 0,28 Prozent pro Jahr zu tun. 

Das Monster der 30 Prozent schrumpft zu einem Mäuschen: Bis 2060 müssen wir jedes Jahr einen von 350 Erwerbsfähigen wegen der Alterung ersetzen. Hexerei eines Zahlenkünstlers? Nein, es ist genau umgekehrt: Eine an sich harmlose Veränderung haben Robert Egeler und andere unter Nutzung dreier Rechentricks zu einem Monster aufgeblasen und somit künstlich eine Dramatik erzeugt. Die drei „übersehenen“ Faktoren erklären nebenbei auch, warum die rasante Alterung des letzten Jahrhunderts sozial und wirtschaftlich relativ problemlos gemeistert werden konnte. Und das trotz der enormen Vernichtung von Menschen und Material durch zwei Weltkriege.

Nicht die demografische Entwicklung ist das Problem

Obige Betrachtungen sind in der Sache kaum zu bestreiten, stoßen aber bei vielen auf ungläubiges Staunen; so stark widersprechen sie unseren gewohnten Sorgen. Genauso verhält es sich mit dem volkswirtschaftlichen Kuchen: Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Konditorei. Heute haben Sie fünf Kilogramm Kuchen zur Verfügung und zehn Gäste. In 20 Jahren haben Sie laut Prognosen sechs Kilo Kuchen zur Verfügung und neun Gäste. Werden Ihre Kuchenstücke in 20 Jahren kleiner oder größer sein als heute? Größer natürlich. Übertragen auf die Volkswirtschaft bedeutet das: Ein Wirtschaftswachstum, selbst ein langsames, führt dann, wenn die Bevölkerungszahl abnimmt, dazu, dass alle mehr Waren und Dienstleistungen bekommen können und nicht weniger. Einen Abbau von Renten und Sozialleistungen kann man mit der angeblich schrumpfenden Bevölkerung also nicht sinnvoll begründen – zumindest, solange die Wirtschaftsleistung weiter zunimmt. Selbst eine stagnierende Wirtschaft erlaubt bei sinkender Bevölkerungszahl größere Anteile für jeden.

Alle könnten also mehr bekommen, auch Rentnerinnen, Arbeitslose und alleinerziehende Mütter – wenn es nicht eine kleine Gruppe gäbe, die schon vorher ein immer größeres Stück aus dem Kuchen herausschneidet. Das ist ein Problem der gesellschaftlichen Umverteilung und nicht eines der Demografie. 

Meistens wird die Vergangenheit benutzt, um zu zeigen, wie häufig Menschen Kriege geführt und andere schreckliche Dinge getan haben. Hier wollen wir sie einmal benutzen, um unseren Demografie-Optimismus zu begründen. Denn die deutsche Geschichte seit der Wiedervereinigung 1990 war und ist nach gängiger Sicht demografischer Panikmacher eine einzige Katastrophe. Dennoch wissen fast alle, dass diese „Katastrophe“ in Wirklichkeit eine Erfolgsgeschichte war. Hierzu ein paar Zahlen, die das belegen: In den Jahren 1991 bis 2014 ist die Lebenserwartung um etwa 4,5 Jahre gestiegen, der Anteil der über 64-Jährigen wuchs um mehr als ein Drittel von 15,0 auf 20,8 Prozent, der Anteil der unter 20-Jährigen sank von 21,5 auf 18,2 Prozent. So weit das „Drama“, und das in nur 24 Jahren. Doch wo blieben die prognostizierten ökonomischen Probleme? Das Bruttoinlandsprodukt stieg real gemessen um 34,2 Prozent, also um mehr als ein Drittel. Und das trotz der Aufbauprobleme direkt nach der Wiedervereinigung, trotz der Stagnation Anfang des Jahrtausends und des scharfen Einschnitts durch die Finanzkrise 2009.

Also alles kein Problem? Leider doch. Der wachsende Kuchen wurde sehr ungleich verteilt, und die Sozialversicherungen, die nur aus den Löhnen bezahlt werden, haben mit dem Wachstum der Wirtschaft nicht Schritt halten können. Die Arbeitszeit in Stunden sank (vor allem durch mehr Teilzeitstellen), die Reallöhne stiegen, abgesehen von den letzten zwei, drei Jahren, kaum, die Ausgaben der Sozialversicherungen stiegen aber weiter, genau wie viele andere Ausgaben auch. Deshalb mussten Renten- und Krankenversicherungen ihre Beiträge erhöhen. Das Problem ist, dass die Sozialsysteme nur über die Löhne und Einkommen von Arbeitnehmern finanziert werden, und das auch nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze, also ohne die hohen Einkommen. So werden die Sozialsysteme von einer Lokomotive der Volkswirtschaft abgekoppelt. 

Widersprüche und durchsichtige Zahlentricks, wohin man schaut. Zur Erklärung hilft der Hinweis von Voltaire nur bedingt weiter: „Je häufiger eine Dummheit wiederholt wird, desto mehr bekommt sie den Anschein von Klugheit.“

Eine Katastrophe mit Gewinnern

Seit 2003 hören wir erstaunt fast täglich einen Politiker oder Journalisten über Bevölkerungszahlen reden. Das war nicht immer so. Noch um 1995 war Bevölkerungsstatistik nur ein Thema für staubtrockene Statistiker. Ein Beispiel für diesen Wandel: 1990 haben wir als Berater des Statistischen Bundesamts in Bonn, dem damaligen Regierungssitz, die Anzahl der Kleinkinder und die Altersstruktur von Lehrern betrachtet. Da die Kinder bald zur Schule, eine Menge Lehrer aber in Pension gehen würden, war klar, dass mehr Lehrer ausgebildet werden sollten. Aber keine Chance! Die Regierung hatte damals kein Interesse an „Bevölkerungsplanung“, wie sie das Betrachten demografischer Daten nannte. Wahrscheinlicher Hauptgrund war der Wunsch, nicht mehr Geld für die Bildung ausgeben zu müssen, egal was die Fakten erforderten. Mitte der 1990er-Jahre kamen die übersehenen Kinder – oh Wunder! – zur Schule, und prompt stellten die Kultusminister einen „plötzlichen“ Lehrermangel fest. Mittlerweile ist das Interesse an dem Thema stark gestiegen. Heute ist die Bevölkerungsstatistik unter dem Namen Demografie in aller Munde. Doch meist geht es dabei nicht um reale Fakten, sondern um Prognosen für die nächsten Jahrzehnte. Wie zweifelhaft solche Prognosen sind, haben wir bereits beschrieben.

Dennoch werden seit 2003 viele wichtige politische Entscheidungen genau damit begründet. Den fragwürdigen Umgang von Politikern mit demografischen Zukunftsprognosen – wenn sie denn zu ihrer eigenen Meinung passen – habe ich in meiner Beraterzeit in Bonn an fast höchster Stelle kennenlernen dürfen. Der damalige „Altkanzler“ Helmut Schmidt forderte 1990 detaillierte Zukunftsprognosen für Deutschland 2020 an, differenziert nach Rentnern, Studierenden, Bundesländern und anderen Faktoren. Zur Erinnerung: 1989 war die Mauer gerade gefallen, und große Wanderungsbewegungen hatten begonnen. In kurzer Zeit kamen über drei Millionen sogenannte Russlanddeutsche nach Deutschland, außerdem viele Ungarn, Slowaken, Polen und so weiter. 

Eine vernünftige Bevölkerungsprognose über 30 Jahre war also unmöglich. Aber das störte Helmut Schmidt nicht, er wollte unbedingt Daten haben. Der Statistiker wagte, den Staatsmann zu fragen, wie hoch in 2020 wohl das Renten­eintrittsalter sein und ob es bis dahin eine Regelstudienzeit geben werde. Dies sind notwendige Rahmengrößen für die Berechnung des Rentner- und Studierendenanteils der Bevölkerung.
Die Antwort kam prompt und brüsk: Das müssten wir Statistiker doch besser wissen. Als ich dem Büro von Helmut Schmidt sarkastisch empfahl, Langfristprognosen so langfristig anzulegen, dass der Auftraggeber im Jahr der Wahrheit auf keinen Fall mehr im Amt und am besten schon tot sei, reagierte Schmidt persönlich mit Druck auf die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags, ihn keinesfalls ohne Daten abzuspeisen. Deshalb half ich mit einer Prognose der Uno aus dem Jahr 1985 aus, mit dem deutlichen Hinweis, dass diese Prognose von einem stabilen Ostblock ausgegangen war, also durch die politische Entwicklung überholt sei.

Professionell geplante öffentliche Kampagne

Aber es kam, wie es kommen musste: Die Daten der Prognose passten Helmut Schmidt in den Kram, und er nutzte sie für einen langen, warnenden Artikel, natürlich ohne Hinweis auf die hinfällig gewordenen Annahmen. 

Wie konnte ein seit 1990 beobachteter Prozess der Alterung plötzlich so ein Gewicht bekommen? Wie konnte ein staubtrockenes Statistikthema zum ständigen Thema der Tagesschau werden? Wie können so viele schreiende Widersprüche totgeschwiegen werden? Das war kein Versehen, sondern eine professionell geplante öffentliche Kampagne, gestartet durch die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, einer vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall gegründeten Denkfabrik. Denn es gibt einflussreiche Gewinner der Demografie-Angst:

• Die Versicherungsbranche profitiert durch Riester- und Rürup-Rente, betriebliche Altersvorsorge und Kürzungen bei der gesetzlichen Rente. Staatlich bezuschusste und von der Bundesregierung beworbene private Produkte waren ein milliardenschweres Geschenk für die Branche. Der Ökonom Hans-Werner Sinn (Ex-Präsident ifo-Institut) brachte zeitweise sogar einen gesetzlichen Zwang zum Kauf von privatwirtschaftlichen Vorsorgeprodukten ins Spiel.

• Die Arbeitgeber konnten sich dank der Demografie-Angst aus der paritätisch finanzierten Rente verabschieden, da ihre Arbeitnehmer die Riester-Rente alleine bezahlen. Damit sparen sie nach Daten der Deutschen Rentenversicherung mindestens 20 Milliarden Euro pro Jahr.

• Die Medien hatten attraktive Schlagzeilen nach dem alten Journalistenprinzip „Only bad news are good news“ („Nur schlechte Nachrichten sind starke Nachrichten“).

 • Politiker hatten plötzlich für vieles einen Sündenbock, der sie scheinbar aus der Verantwortung nahm. Ärztemangel, leere Sozialkassen, Mangel an Fachkräften: Überall schützt das Schild „Demografie“ vor tieferen Blicken auf Machtstrukturen, eigene Fehler und Interessenkonflikte. Was für ein Unfug das ist, zeigt der „demografisch bedingte Ärztemangel“, wie oben gesehen, in grellen Farben: Jahrzehntelang sparen sie das Bildungssystem zu Tode, lassen Tausende junger Menschen, die Arzt oder Ärztin werden wollen, nicht Medizin studieren, und dann schreien sie auf einmal: „Die Demografie ist schuld!“ Geht’s noch? 

Bei der sehr gut finanzierten und koordinierten Kampagne zum Thema Demografie ging es also nicht um Wahrheit, sondern um den Nutzen von Interessengruppen und viel Geld. Interessierte Kreise haben die eigenen Interessen geschickt als kluge Reaktion auf scheinbar „objektive Notwendigkeiten der demografischen Entwicklung“ dargestellt.

Eine Bemerkung zum Schluss: Mit diesem Beitrag wollen wir der weitverbreiteten „Demografie-Angst“ begegnen. Das heißt nicht, dass wir der Meinung wären, die Alterung einer Gesellschaft werfe keine Probleme auf. Aber aus unserer Sicht sind das bei Weitem nicht die Hauptprobleme der Gesellschaft.

Wenn wir erfolgreich an den Dingen arbeiten, die wir für Hauptprobleme halten, und zum Beispiel die Arbeitslosigkeit nennenswert abbauen, unsere Jugend ausreichend qualifizieren, den großen Reichtum in unserer Gesellschaft wieder stärker für die Finanzierung von Sozialleistungen und Infrastruktur nutzen und Migranten gut integrieren, dann wäre genug für alle da. Wir müssten eine wachsende Zahl älterer Menschen nicht als Bedrohung und Belastung empfinden, sondern könnten sie eher als Chance und Bereicherung unserer Gesellschaft sehen. Schließlich sind wir selbst bald oder heute schon diese älteren Menschen. Dann könnten wir uns fast alle auf ein längeres, überwiegend gesundes Leben freuen.

 

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