Neue Coronafälle bei Tönnies in Sachsen-Anhalt - „Wir wissen nicht, wo die Infektionsketten entstanden sind“

Tönnies kommt aus den Schlagzeilen nicht heraus. Jetzt ist das Corona-Virus auch in einem Betrieb in Weißenfels (Sachsen-Anhalt) ausgebrochen. Der Fleischkonzern behauptet, er habe viel in den Schutz seines Personals investiert. Doch Mitarbeiter berichten immer noch von haarsträubenden Wohnbedingungen.

Die Proteste gegen die Arbeitsbedingungen bei Tönnies sind längst vorbei. Aber haben sie wirklich etwas gebracht?/ dpa
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Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Es ist ein Déjà-vu der besonderen Art. Erneut steht mit der Unternehmensgruppe Tönnies der größte deutsche Fleischverarbeitungskonzern im Mittelpunkt einer massiven regionalen Verbreitung von Corona-Infektionen. In Weißenfels (Burgenlandkreis, Sachsen-Anhalt) wurden bereits über 170 der 2.200 Beschäftigten positiv auf das Virus getestet, es ist davon auszugehen, dass sich diese Zahl weiter erhöhen wird.

Für den Kreis ist das ein regelrechtes Desaster, denn er weist ohnehin eine sehr hohe Infektionsrate auf, der aktuelle Inzidenzwert liegt bei 266 Infizierten pro 100.000 Einwohnern in sieben Tagen. In der 30.000 Einwohner zählenden Stadt Weißenfels selbst waren es am Mittwoch sogar 420. Dort gilt mittlerweile eine allgemeine Maskenpflicht in der Öffentlichkeit.  

Schon im Mai Corona-Ausbrüche in Fleischbetrieben

Bereits im Mai und Juni sorgten Massenausbrüche der Infektion in der Fleischindustrie  für erhebliche Aufregung. Tausende von Beschäftigten an verschiedenen Standorten vor allem in Nordrhein-Westfalen mussten sich in Quarantäne begeben, einige Betriebe wurden zeitweilig geschlossen. Die Ursachen für die Häufung von Infektionen in dieser Branche waren schnell ausgemacht.

Sowohl die Arbeitsbedingungen in den Zerlegebetrieben als auch die Wohnverhältnisse der meist osteuropäischen Vertragsarbeiter boten optimale Voraussetzungen für die exponentielle Ausbreitung des Virus. Dominique John, der beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) das Projekt „Faire Mobilität“, leitet,  berichtete im Mai in der Zeit  über die unzumutbaren Wohnverhältnisse der Betroffenen: In Sachsen-Anhalt habe ich Plattenbausiedlungen gesehen, wo Arbeiter aus der Fleischindustrie in Dreizimmerwohnungen leben, in jedem Zimmer drei Personen. Man kann davon ausgehen, dass so eine Unterbringung an den meisten Standorten immer noch die Regel ist, trotz Corona. Und in dieser Enge steigt das Infektionsrisiko natürlich immens“.

Neues Gesetz soll Abhilfe schaffen

Die Politik reagierte mit vollmundigen Ankündigen. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und sein nordrhein-westfälischer Amtskollege Karl-Josef Laumann versprachen, in der Branche „aufzuräumen“. Per Gesetz sollten die prekäre Beschäftigung von Leih- und Werkvertragsarbeitern unterbunden, Hygienenauflagen verschärft, die Kontrolldichte erhöht und auch die Unterbringung von Beschäftigungen reguliert werden.

Das stieß auf hinhaltenden Widerstand der Branchenlobby und bei Teilen der CDU/CSU.  Immerhin konnte ein entsprechendes Gesetz, wenn auch in deutlich abgeschwächter Form, auf den Weg gebracht werden, es soll am 1. Januar 2021 in Kraft treten. Auch bei den Hygiene- und Schutzmaßnahmen in den Betrieben hat es in den vergangenen Monaten nach Aussagen vieler Beobachter deutliche Fortschritte gegeben.

Betriebsschließung nicht ausgeschlossen

Doch den erneuten Massenausbruch in der Belegschaft eines Fleischbetrieb, diesmal in Weißenfels, hat das nicht verhindert. Nach Einschätzung von Stephan Krull, Mitglied des Landesvorstands der Linken in Sachsen-Anhalt, kann es angesichts der dramatischen Entwicklung nur eine Konsequenz geben: „Der Betrieb muss vorläufig geschlossen werden, bis das Infektionsgeschehen aufgeklärt und in der Stadt wieder beherrschbar ist.“

Ausschließen mag das eine Sprecherin der Kreisverwaltung auf Nachfrage nicht. Man warte derzeit die Ergebnisse einer neuen Testreihe ab, bei der alle Mitarbeiter getestet werden, die Ergebnisse könnten Anfang der kommenden Woche vorliegen. Auf dieser Grundlage könnten das Gesundheitsamt und die für den Arbeitsschutz zuständige Kreisbehörde die Lage „operativ neu bewerten“ und entsprechende Verfügungen erlassen oder eben auch nicht. Einen festen Schwellenwert für eine Betriebsschließung gebe es nicht, aber es sei schwer vorstellbar, dass die Arbeit weiterlaufen kann, wenn zum Beispiel insgesamt 500 der 2.200 Mitarbeiter positiv getestet wären.     

Tönnies bestreitet eigenes Verschulden

André Vielstädte, Leiter der Unternehmenskommunikation bei Tönnies, verweist auf die gute Zusammenarbeit mit dem Kreis und die eigenen Anstrengungen. Seit Wochen würden alle Mitarbeiter des Werkes systematisch getestet. Die Quarantäne von positiv getesteten Mitarbeitern und ihren Kontaktpersonen werde umfassend kontrolliert und „kein Reiserückkehrer oder neuer Mitarbeiter betritt das Werk ohne einen aktuellen, negativen Test“, so Vielstädte gegenüber Cicero.

Für die Unterbringung der Werkvertragsarbeiter seien die jeweiligen Subunternehmer verantwortlich, doch damit sei ab dem 1.Januar ohnehin Schluss, und bereits in den vergangenen Monaten habe man viel unternommen, um die teilweise schwierigen Wohnverhältnisse in den Unterkünften zu überwinden. Nicht kontrollieren könne man allerdings das „Freizeitverhalten“ der Mitarbeiter: „Wir wissen einfach nicht, wo die Infektionsketten entstanden sind“, aber es sei „sehr unwahrscheinlich“, dass das innerhalb des Betriebs zu verorten sei, da man die Schutzvorkehrungen umfassend optimiert habe.

 Mitarbeiter widersprechen Tönnies 

Das mag Anne Hafenstein, Projektleiterin der Beratungsstelle für migrantische Arbeitskräfte in Sachsen-Anhalt (BemA), so nicht stehen lassen. Ratsuchende hätten auch in der vergangenen Woche noch berichtet, „dass sie tagelang nicht über ihr Testergebnis oder über Modalitäten der Quarantäne informiert wurden“. Auch seien Personen, die auf ihr Testergebnis warteten und Krankheitssymptome aufwiesen, weiterhin mit anderen Mitarbeitern untergebracht gewesen, die nach wie vor in den Betrieb gingen.       

Natürlich ist es schwierig, die verschiedenen Sichtweisen zum aktuellen Corona-Ausbruch rund um einen Tönnies-Betrieb vollständig zu verifizieren. Doch eines ist eindeutig. Die zum wiederholten Mal zu beobachtende Häufung von Pandemie-Hotpots in dieser Branche hat eindeutig eine systemische Ursache: Das von der Politik über Jahre geduldete, auf extremer Ausbeutung und menschenunwürdiger Behandlung basierende Geschäftsmodell der Billigfleisch-Massenproduktion. Das neue Gesetz wird da vielleicht teilweise Abhilfe schaffen, wie nachhaltig es wirkt, muss sich erst noch erweisen. Für die Bürger von Weißenfels kommt es ohnehin zu spät.     

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