Halbwahrheiten in Zeiten von Corona - Zeit für eine Demaskierung

Bis heute propagieren das Robert-Koch-Institut und die Bundesregierung, das Tragen von Atemschutzmasken sei unnötig, ja sogar schädlich, um die Verbreitung des Virus zu bekämpfen. Diese fatale Kommunikation von Halbwahrheiten muss endlich aufhören. Wir brauchen eine Maskenpflicht.

Regierungssprecher Steffen Seibert sieht keinen Maskentragebedarf / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

So erreichen Sie Bastian Brauns:

Anzeige

Folgt man den drastischen Worten des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, muss man mit dem Schlimmsten rechnen. Schon vor zwei Wochen sprach er in seiner Rede an die Nation: „Nous sommes en guerre“ – Wir befinden uns im Krieg. Und einem mehr als hundert Jahre altem Sinnspruch nach wird nie mehr gelogen als vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd. In Deutschland scheute sich die Regierung bislang, diese Kriegsmetaphorik zu verwenden. Aber müssen wir deshalb keine Lügen fürchten? Es gibt etwas, was noch schlimmer ist als Lügen – und das sind Halbwahrheiten. Denn Lügen lassen sich leichter aufdecken. Ein Labyrinth aus Halbwahrheiten hingegen lässt dem Verkünder immer ein Hintertürchen offen. Ganz nach dem Motto: „Das war dann wohl ein Missverständnis“.

Und es drängt sich immer mehr der Eindruck auf, dass die Regierung bei Corona zumindest nicht mit offenen Karten spielt – ob es sich nun um das Ausmaß der Ansteckungszahlen handelt, um die Anzahl von Corona-Tests oder darum, ob die deutsche Bevölkerung zum eigenen Schutz nun Schutzmasken tragen solle oder nicht. Alle drei Bereiche hängen mit einer wichtigen Frage zusammen: Hat Deutschland genug Kapazitäten, um genug gegen die Ausbreitung des Virus zu tun? Die einfache Antwort lautet: Nein. Es gibt nicht genug Tests, um „alle“ zu testen. Es gibt nicht genug Schutzmasken, um sie „jedem“ zu empfehlen. Und das hat gravierende Konsequenzen: Denn alle müssen seit bald zwei Wochen auf unbestimmte Zeit massive Freiheits-, Eigentums- und Bewegungs-Einschränkungen zum Wohle vieler hinnnehmen.

Social Distancing als Totschlagargument

Möglicherweise wäre das auch so, wenn es genügend Masken und genügend Tests gäbe. Denn weder Tests noch Schutzmasken gewähren ausreichenden Schutz. Dennoch, die Bundesregierung, das Robert-Koch-Institut und in weiten Teilen auch Medien verbreiten immer wieder hanebüchenen Unsinn. Erst am Montag wiederholte der Regierungssprecher der Bundeskanzlerin, Steffen Seibert, vor der Bundespressekonferenz, man müsse bezüglich des massenhaften Tragens von Schutzmasken damit rechnen, dass die Menschen dann unvorsichtiger würden und keinen Abstand mehr halten würden.

Und man fragt sich, wie kommt der Mann auf diese Behauptung? Fündig wird man schnell bei Lothar Wieler, dem Leiter des Robert-Koch-Instituts. Immer wieder wurde er in den vergangenen Wochen mit der Frage nach dem Tragen von Atemschutzmasken für die Bevölkerung konfrontiert. Und immer wieder wiederholte er, dass das Tragen nichts bringe, weil dann die Parole vom Social Distancing ungehört verhallen würde. Der Mann ist immerhin Veterinärmediziner, ein wissenschaftlich ausreichend fundierter Beleg für seine Annahme findet sich jedoch nicht.

Seine Pressesprecherin Susanne Glasmacher wurde bei ein Pressekonferenz sogar richtiggehend ungehalten, als ein Kollege nicht lockerlassen wollte und immer wieder nachhakte, warum sich Wieler so vehement gegen das allgemeine Tragen von Masken aussprechen würde. „Nein, Sie haben Ihre Frage jetzt gestellt“, herrschte sie den Journalisten wie einen Schuljungen an und verbat ihm, weiter zu sprechen. Schriftliche Presseanfragen bezüglich unzureichender Testaktivitäten an Berliner Klinken, die sich auf die Richtlinien des RKIs beziehen, beantwortet Glasmacher nur knapp mit den Worten: „Wir kommentieren generell keine Aktivitäten einzelner Kliniken oder Gesundheitsbehörden.“ Weitere Nachfragen bleiben dann schlicht unbeantwortet.

Es werden Nebelkerzen geworfen

Die märchenhafte Kausalkette, ganz nach dem Motto: „Wir empfehlen keine Masken, sonst umarmen, herzen und küssen sich alle“, verbreitet sich seit Wochen. Auch der vielfach gelobte NDR mit seinem Drosten-Podcast beteiligte sich an dieser Erzählung. Immer wieder ist von fehlender Evidenz die Rede. Dabei geht es hier vor allem um Plausibilität. So mahnte etwa der Hallenser Virologe Alexaner S. Kekulé schon lange an, dass Maskentragen einen besseren Schutz bedeute. Stattdessen hört man die Menschen nun allerorten sagen: „Die Masken bringen ja eh nichts“. Dann könnten es ja auch die Ärzte und Pfleger sein lassen.

Diese fatale Kommunikation lässt eine befremdliche Sicht der Regierung auf ihre Bevölkerung erkennen. Man glaubt offenbar entweder nicht daran, in der Lage zu sein, den Menschen zu vermitteln, dass das Tragen von Masken wichtig ist, aber trotzdem Abstand gelten muss. Oder man sieht sich bereits außerstande, genügend Schutzausrüstung für das medizinische Personal zu beschaffen, dass es für die Bevölkerung eben erst recht nicht reicht. Transparenz ist das Regierungs-Mantra in der Corona-Krise. Doch auch Nebelkerzen werden geworfen.

Jeder muss inzwischen jeden schützen

Tatsächlich ist es so, dass der einfache Mund- und Nasenschutz dem Träger selbst kaum mehr bringt als einen Schal vors Gesicht zu pressen. Doch er schützt andere vor einer Ansteckung durch Tröpfcheninfektion. Wer einmal in Japan oder anderen Ländern Asiens war, weiß, Menschen die krank sind, tragen dort Schutzmasken, um andere nicht anzustecken. Die anderen sind zudem gewarnt und achten auf Abstand. Möglicherweise hat der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz von diesem Geheimtipp gehört, als er am Montag eine Maskenpflicht zumindest in Spermärkten ankündigte, während Steffen Seibert weiter abwiegelte. In seiner Rede appellierte er eindringlich, dass das Tragen von Masken nicht das Abstandsgebot ersetze. Richtig, denn alle Maßnahmen sind nur Bausteine im Kampf gegen die Virus-Verbreitung, aber deswegen nicht unnütz.

Nun könnte man einwenden, dass selbst die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sagt, dass es keinerlei Anzeichen dafür gebe, dass mit einem allgemeinen Mundschutztragen etwas gewonnen wäre. Man könne sich durch falsches Abnehmen der Masken nach dem Tragen sogar leichter infizieren. Wohlgemerkt, wenn man sich dann nicht die Hände wäscht und desinfiziert. Der WHO-Nothilfedirektor Michael Ryan sagte erst wieder am Montag: „Unser Rat: Wir raten davon ab, Mundschutz zu tragen, wenn man nicht selbst krank ist.“

Doch eben dieser Teilsatz „wenn man nich selbst krank ist“, ist die Krux. Denn kaum einer kann selbst wissen, ob er oder sie krank ist. Längst werden in Deutschland nicht mehr genügend Menschen auf Corona getestet. Zu schnell schreitet die Ausbreitung voran, als dass die Gesundheitsämter noch alle Kontaktpersonen von Corona-positiven Menschen verfolgen können. Inzwischen wird vielerorts nur noch die Parole herausgegeben: Wir testen Sie nicht. Aber bleiben Sie bitte zu Hause. Immer mehr Menschen in Deutschland sitzen ungetestet mit Symptomen in ihrer Wohnung, die zumindest für einen schwachen Corona-Verlauf sprechen könnten. Doch sie gehen auch einkaufen, spazieren, müssen unverschuldet plötzlich husten oder niesen.

Absurd beschwichtigende Aussagen

Die Corona-Pandemie ist längst in einem Stadium angekommen, in der potenziell jeder ansteckend sein kann, ohne es zu wissen. Angesichts der immer weiter wachsenden Dunkelziffer von Infizierten wirken die vielfach beschwichtigenden Aussagen vom RKI-Präsidenten, vom Regierungssprecher, von Politikern, von Wissenschaftlern und von Journalisten, Masken sollten wenn überhaupt nur von Infizierten getragen werden, einfach nur absurd. Sind Masken und Desinfektionsmittel wirklich nur für das medizinische Personal vonnöten, wie es immer wieder hieß? Reicht gründliches Händewaschen und Abstand für die übrigen Menschen im Land? Warum werden in den Teststellen dann allen Ankömmlingen erst einmal Masken ausgehändigt, warum wird gebeten, sich die Hände zu desinfizieren? Klar, das Risiko ist dort höher. Aber klar ist auch, Desinfektionsmittel und Masken bieten mehr Schutz als kein Desinfektionsmittel und keine Masken – unabhängig davon, ob es genug für alle gibt.

Es dürfte inzwischen eines klar sein: Wenn jeder potenziell infiziert sein kann, die Tests aber nicht ausreichen, um das festzustellen, sollte jeder eine Maske tragen müssen. Vielerorts basteln die Menschen bereits eigene Masken aus Unterhemden und altem Stoff. Selbst Krankenhauspersonal beschäftigt sich bereits mit Do-it-yourself-Strategien. Not macht erfinderisch und zeigt, dass die Bevölkerung sehr wohl mit Wahrheit umgehen kann. Und manchmal sind analoge Lösungen schneller gefunden als digitale Überwachungsapps.

Die Maskenpflicht muss kommen

Was hätte die Regierung tun können? Seit Wochen ist bekannt, dass die Nachfrage nach Atemschutzmasken steigt und mit ihr die Preise. Einige haben sich längst die Taschen vollgemacht, indem sie ganze Bestände aufkauften und zu Wucherpreisen weiterverkauften. Warum etwa hat der Bundesgesundheitsminister dieses Gut nicht längst beschlagnahmen lassen? Ein wichtiger Baustein im Kampf gegen das Virus wurde schlicht negiert, ignoriert und falsch kommuniziert. Das ist fahrlässig und lebensgefährlich.

Inzwischen haben sich immerhin der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach (SPD) zu Wort gemeldet. Sie halten eine Maskentragepflicht, zumindest aber das freiwillige Tragen für sinnvoll. Auch der Außenminister Heiko Maas sagte nun in einem Interview, dass das sinnvoll sein könnte. Mit Jena gibt es nun soagr die erste deutsche Kommune, die eine Maskenpflicht „in Jenaer Verkaufsstellen, dem öffentlichen Nahverkehr und Gebäuden mit Publikumsverkehr“ einführen will.

Die bundesweite Maskenpflicht muss endlich kommen, und nicht erst dann, wenn es um etwaige Lockerungen der Kontaktsperren geht. Verordnen könnten das in Deutschland nur die Bundesländer oder die kommunalen Gesundheitsämter. Aber klar ist, die Bundeskanzlerin und ihre Regierung haben hier die Verantwortung, endlich ehrlich zu kommunizieren. Und erst recht, wenn dazu die Wahrheit gehört: Wir haben nicht genug für euch, helft euch bitte selbst.

Anzeige