EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts - Voßkuhles vergiftetes Vermächtnis

Das EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist ein Affront gegen den Europäischen Gerichtshof und stellt die Politik vor ein fast unlösbares Problem. Was nach gelungener Machtdemonstration des scheidenden Präsidenten Voßkuhle aussieht, könnte das Ansehen des höchsten deutschen Gerichts nachhaltig beschädigen.

Andreas Voßkuhle nach der Urteilsverkündung / dpa
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Es war ein aufgeräumtes Gespräch in lockerer Atmosphäre, als Andreas Voßkuhle im Herbst 2017 zu Gast war im Cicero-Foyergespräch in Karlsruhe, übertragen bei Phoenix. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts war charmant, schlagfertig und gewährte auch persönliche Einblicke. Etwa zu der Frage, wie es sei, zum Bundesverfassungsrichter zu werden und dann auch noch zu dessen Präsidenten. Sobald man gewählt sei und gleichzeitig wisse, dass man das Richteramt von nun an zwölf Jahre ohne Chance auf eine Wiederwahl innehabe, sagte Voßkuhle, „da durchfließt Sie so ein Gefühl von großer Freiheit“. Und dieses Gefühl bleibe bestehen bis zum Ende der Amtszeit.

Vielleicht sogar mehr denn je. Die offizielle Amtszeit Voßkuhles als BVG-Präsident und Vorsitzenden des Zweiten Senats endete Anfang Mai, und mit einem großen Gong verabschiedete sich der Präsident, indem unter seiner Leitung ein Urteil zum Anleihekauf der EZB zustande kam, das diese Praxis des EZB-Chefs Mario Draghi als verfassungswidrig einstufte. Unabhängig davon, wie man zu Draghis What-Ever-It-takes-Politik steht, war dieses Urteil ein Affront, weil sich das BVG eine andere Einschätzung erlaubte als der Europäische Gerichtshof.

Den Kontinent vor einem Desaster bewahrt

Seither brummt es in der deutschen wie der europäischen Politik wie in einem Bienenstock. Die neue EZB-Chefin Christine Lagarde und die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen arbeiten daran, das Urteil politisch unschädlich zu machen. Vielerorts gab es massive Kritik an dem, was viele als Amtsanmaßung und Selbstherrlichkeit der Karlsruher Richter ansahen. Voßkuhle selbst versuchte in seinem Abschiedsinterview mit der Zeit, den Vorgang herunterzuspielen. Es sei, meinte er da, „völlig alltäglich, dass Gerichte nicht einer Meinung sind.“

Einspruch, euer Ehren, möchte man ihm zurufen, aber es geht hier nicht um das Verwaltungsgericht von Gelsenkirchen versus das Oberverwaltungsgericht in Münster. Es geht um die beiden höchsten judikativen Institutionen Deutschlands und der Europäischen Union. Und es geht um die maßgeblichste Maßnahme nach dem Ausbruch der Finanzkrise vor zehn Jahren, von der viele, bei all ihren Schattenseiten sagen, dass sie den Kontinent und die Europäische Union vor einem Desaster bewahrt hat.

Was war mit der Flüchtlingspolitik?

Die Eifersucht zwischen EuGH und BVG ist ein Klassiker. Und Voßkuhle hat sich Zeit seines Daseins als Präsident gegen eine Subsidiarität gewehrt. Das Selbstbewusstsein, das er persönlich und für seine Institution dabei an den Tag legt, wäre allerdings glaubwürdiger, wenn er es in einer anderen Frage auch gezeigt hätte. Die Politik der Europäischen Zentralbank ist ohne jede Frage eine durch und durch europäische Zuständigkeit. Wenn Voßkuhle und sein Zweiter Senat dennoch die Notwendigkeit sieht, einem Urteil des EuGH eines des BVG entgegenzusetzen in einer, nochmal: klar von einer europäischen Institution vorgenommen Entscheidung, also der EZB. Um wie viel mehr hätte Voßkuhle in einer Frage tätig werden müssen, die eine ungleich größere nationale Komponente hatte, die Flüchtlingspolitik der deutschen Bundesregierung und der deutschen Bundeskanzlerin?

Als das Cicero-Foyergespräch vor bald drei Jahren stattfand, hatte der EuGH gerade sein Urteil dazu gesprochen. In Kurzform: Merkels Solo war rechtswidrig, aber auf Grundlage einer Ausnahmeregelung machbar. Andere, wie der frühere Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier, kamen zu einem anderen Urteil, sprachen von „Rechtsbruch“. Wie immer man das persönlich einschätzt: Es hätte dem politischen Klima in Deutschland sicher nicht geschadet, wenn Karlsruhe in dieser eminenten Frage eine andere Position vertrete hätte. Kein Wunder, dass die erste Frage aus dem Publikum seinerzeit genau dazu kam.

Es bleibt ein unguter Eindruck

Ob er froh sei, von diesem politischen Streitthema der vergangenen zwei Jahre verschont geblieben zu sein, wurde Voßkuhle gefragt. „Froh“, so seine Antwort, sei keine Kategorie, in der Richterinnen und Richter dächten. Dieses Verfahren sei vom EuGH zu entscheiden gewesen, und der EuGH habe das auch getan. Sein Urteil über das Urteil blieb vage und klang reserviert: „Ich weiß nicht, ob wir das auch so entschieden hätten, aber es ist auf jeden Fall nachvollziehbar, und insofern muss man das akzeptieren.“

Seltsam. Diesmal haben Voßkuhle und Karlsruhe das anders gesehen und ein Zweiturteil, ein abweichendes Votum abgeliefert. Es bleibt der ungute Eindruck, dass sich hier der Gratismut eines Scheidenden erwiesen hat, an dessen Folgen die Politik jetzt laboriert. 

Rennommee in Gefahr

Juristerei sei am Ende eben eine Wissenschaft, in der Wertungsfragen und Spielräume eine Rolle spielten, sagte Voßkuhle seinerzeit: ein schwieriges, ein komplexes Geschäft, bei dem sich die Weisheit des Urteils manchmal erst im Laufe der Zeit zeige. „Wenn Sie zum Zahnarzt gehen, wissen Sie auch nicht, ob der das richtig gut gemacht hat oder ob man das nicht auch anders hätte machen können“, sagte er.

Das gilt auch jetzt für dieses unselige Urteil, Voßkuhles vergiftete Hinterlassenschaft, von der sich mehr und mehr abzeichnet, dass sich die Politik auf den Standpunkt stellt: wird hiermit interessiert zur Kenntnis genommen. Und beiseite gelegt. Wenn das so wäre, hätte Voßkuhle dem Bundesverfassungsgericht und dessen Renommee einen Bärendienst erwiesen.

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