EU und Großbritannien - Ein Schweizer Weg aus der Brexit-Blockade

Was soll mit der EU und Großbritannien passieren nach dem Aus für Theresa Mays Brexit-Deal? Die Wirtschaftswissenschaftler Martin Braml und Gabriel Felbermayr fordern die EU auf, nicht weiter zu mauern. An den Briten dürfe kein Exempel statuiert werden. Denn es gäbe einen besseren Weg

Deal or No-Deal? Experten suchen nach Wegen, wie Großbritannien und die EU lose verbunden bleiben können / picture alliance
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Martin Braml ist Doktorand am Ifo-Institut München. Er forscht schwerpunktmäßig zu internationalem Handel.

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Prof. Gabriel Felbermayr ist Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. Gleichzeitig hat er einen Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Forschungs- und Beratungstätigkeit konzentriert sich auf Governance-Fragen in der internationalen Wirtschaftspolitik, der wirtschaftlichen Integration Europas und der deutschen Wirtschaftspolitik.

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Das britische Unterhaus hat das mit der EU ausgehandelte Trennungsabkommen deutlich verworfen. Der Ausgang der Abstimmung war wenig überraschend, die Deutlichkeit des Resultats aber umso mehr. Das Abkommen war für die Mehrheit der Abgeordneten im Unterhaus unannehmbar, weil es das Vereinigte Königreich in den Status einer ‚Handelskolonie‘ gebracht hätte. Der sogenannte ‚Backstop‘ hätte für die Briten nämlich zweierlei Folgen gehabt: keine handelspolitische Autonomie, weil man an die Zollunion quasi angekettet ist – und gleichzeitig eine Infragestellung der territorialen Integrität des Königreichs, da Nordirland im Gegensatz zu Großbritannien im Binnenmarkt verblieben wäre. Das hätte zu Handelsbeschränkungen zwischen Großbritannien und Nordirland führen können.

Allen Bekundungen des Bedauerns europäischer Politiker zum Trotz müssen sie sich jetzt die Frage gefallen lassen, ob sie ernsthaft an eine Ratifizierung glauben konnten oder die Nicht-Ratifizierung sogar bewusst bewirken wollten. Ersteres wäre naiv, letzteres grob fahrlässig. Will die EU tatsächlich eine gütliche Trennung erreichen, muss sie mit einer annehmbaren und praktikablen Lösung auf das Vereinigte Königreich zugehen. Nur so kann am Ende vermieden werden, dass am 29. März ein No-Deal-Brexit eintritt, bei dem der Handel zunächst völlig zum Erliegen kommen könnte und Spannungen an der irischen Grenze nicht ausgeschlossen sind. 

Verhandlungsmacht entsteht durch Marktgröße 

Eine aufgewertete Zollunion in Kombination mit zusätzlichen bilateralen Verträgen nach Schweizer Vorbild kann die Lösung für die verfahrene Situation sein. Der Kompromiss setzt voraus, dass das Vereinigte Königreich die ökonomischen Realitäten akzeptiert und eine handelspolitische Integration im Binnenmarkt sucht. Die EU sollte ihrerseits mit dem Junktim der vier Freiheiten brechen und flexiblere Integrationsmöglichkeiten bieten, die zum Beispiel die Personenfreizügigkeit ausklammern. Kern unseres Vorschlags ist der auch im ‚Backstop‘ vorgesehene Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Zollunion. Diese muss allerdings so aufgewertet werden, dass den Briten auch ein Mitspracherecht bei handelspolitischen Entscheidungen eingeräumt wird. Sonst drohten sie zur handelspolitischen Kolonie zu verfallen: Schließt die EU ein Freihandelsabkommen mit einem Drittstaat, müssten die Briten andernfalls ihre Zölle gegenüber diesem Drittstaat senken, ohne von diesem im Gegenzug auch Zollerleichterungen zu bekommen.

Ferner dürften die Briten keine eigenen Handelsabkommen schließen. Es liegt also auf der Hand, dass die Briten auch ein Mitsprachrecht in Fragen des Handels haben wollen, und das ist gewiss auch zum Vorteil der EU. Bei internationalen Handelsabkommen entsteht Verhandlungsmacht durch Marktgröße – deshalb verhandelt auch die EU darüber und nicht jedes der 28 Mitglieder einzeln. Wenn das Vereinigte Königreich – immerhin die nach Deutschland zweitgrößte Volkswirtschaft der EU – mit seinen 65 Millionen kaufkräftigen Bewohnern Teil der Zollunion bleibt, wird diese auch in Zukunft eine Handelsmacht ersten Ranges sein. Ohne das Vereinigte Königreich ist der Wert des Binnenmarktes bedeutend geringer.

Abkehr vom Prinzip „one-size-fits-all“

Die EU als großer Marktplatz stellt einen Mehrwert gleichermaßen für seine Mitglieder wie für die weiteren Teilnehmer bereit und eine Vergrößerung dieses Marktplatzes ist im Interesse aller Beteiligten. Zudem verfügt das Vereinigte Königreich aufgrund seiner kolonialen Vergangenheit noch heute über eine bedeutende Soft Power, die in weite Teile der Welt hineinwirkt. Mittels der britischen diplomatischen Beziehung beispielsweise zum Commonwealth of Nations kann die EU auch in Zukunft bessere Freihandelsallianzen schmieden, wenn Amerikaner und Chinesen sich anschicken, einen Handelskrieg vom Zaun zu brechen. Was dabei zu beachten gilt: Die drei globalen Wirtschaftsblöcke – China, EU, USA – vereinigen aktuell etwa je ein Viertel der Weltwirtschaftsleistung auf sich. Ohne das Vereinigte Königreich würde die EU hinter die beiden anderen Mächte zurück fallen, was nicht ohne Wirkung auf ihren Einfluss bei der Setzung künftiger Normen und Standards bleiben würde. 

Das von uns ins Spiel gebrachte Schweiz-Plus-Modell sieht vor, dass das Vereinigte Königreich aus der politischen Union ausschiede und am gemeinsamen Wirtschaftsraum zunächst nur durch die Zollunion beteiligt wäre – ergänzt um die Produktmarktdimensionen des Binnenmarkts. Es müsste die uneingeschränkte Personenfreizügigkeit folglich nicht zulassen. Innerhalb des Binnenmarktes gelten die vier Freiheiten grundsätzlich uneingeschränkt, dies gilt auch für seine Nicht-EU-Mitglieder, zum Beispiel Norwegen. Sie sind aber lediglich ein politisches Dogma und nicht ableitbar aus der ökonomischen Theorie. Sowohl Freihandel (freier Güter- und Dienstleistungsverkehr) als auch Faktormobilität (freier Personen- und Kapitalverkehr) sind jeweils ein hinreichendes Argument für Markteffizienz und bedingen sich keineswegs gegenseitig. Was spricht also dagegen, den Briten eine neue Form der Zusammenarbeit anzubieten, die über die Zollunion hinausgeht und nicht gleichbedeutend mit der Integration in den Binnenmarkt ist? Die EU müsste sich hierzu lossagen von seinem „one-size-fits-all“-Prinzip und anstelle dessen pragmatische Lösungen nach dem Prinzip „whatever works“ suchen. Ein Modell, wie man es beispielsweise für die Schweiz gefunden hat, das Mitglied in der EFTA ist, formal nicht am Binnenmarkt teilnimmt, dennoch innerhalb des Schengen-Raums liegt und beim Erasmus-Austauschprogramm mitmacht. Dazu waren vielen bilaterale Verträge notwendig, doch heute ist die Schweiz auch ohne Vollmitgliedschaft weit in die EU hinein integriert. 

Lex Britannica als Modell für die Türkei

Freilich bestünde dabei die Gefahr der Beliebigkeit, wenn es um maßgeschneiderte Lösungen geht. Um ihr entgegenzuwirken, könnte die EU zwei oder vielleicht sogar mehr Pakete anbieten, über die nicht verhandelt wird, sondern die entweder angenommen oder abgelehnt werden. Diese Pakete könnten verschiedene Politikfelder enthalten, vorstellbar wäre neben der Vollmitgliedschaft wie vorgeschlagen eine aufgewertete Zollunion – inklusive Mitspracherechten und der Produktmarktdimension des Binnenmarktes. Bilaterale Verträge könnten diese Pakete zudem ergänzen und beispielsweise eine Teilnahme an weiteren EU-Projekten ermöglichen, die schon jetzt keine EU-Mitgliedschaft verlangen (Erasmus, Schengen). Die EU-Mitgliedschaft ist somit keine rein binäre Angelegenheit mehr, sondern wird zu einem gewissen Grad flexibilisiert, den die EU durch das Agenda-Setting bestimmt. Die gewählte Integrationsform wäre langfristig stabil, weil niemand zur Aufgabe der Autonomie in Bereichen gezwungen ist, in denen er das nicht möchte. 

Diese „Flexible EU“ würde anerkennen, dass die politische Union – wie schon die Währungsunion – zwar das Endziel eines Kerneuropas ist, aber nicht unbedingt für alle Länder der Peripherie. Man würde also der Tatsache Rechnung tragen, dass Länder wie das Vereinigte Königreich vor allem am wirtschaftlichen Teil der EU interessiert sind – was aber auch für die anderen Länder besser ist, als wenn sie gar nicht dabei wären. Man kann sich deshalb vorstellen, dass das vorgeschlagene Modell auch für die Türkei, Serbien, die Ukraine und letztlich sogar einmal für Russland attraktiv werden könnte, wenn die Vollmitgliedschaft keine Option für die EU oder die genannten Länder ist, es aber ein starkes beiderseitiges Interesse an wirtschaftlicher Integration gäbe. Bei der Ausarbeitung einer Lex Britannica sollte man also im Blick haben, welche integrierende Wirkung sie künftig für Europas Peripherie haben könnte. 

Großbritannien als Schutzmacht

Abschließend sei auch noch auf die sicherheitspolitische Bedeutung des Vereinigten Königreichs verwiesen: Da es ständiges UN-Sicherheitsratsmitglied und eine Atommacht ist, sollte der EU daran gelegen sein, weiterhin kooperativ und pragmatisch mit dem Vereinigten Königreich zusammenzuarbeiten, um eine Interessenskongruenz zu erzeugen. Die britische Marine ist außerdem im Stande, die für Europa überlebenswichtige Freiheit der Seewege zu garantieren, wenn die USA diese Aufgabe nicht mehr in unserem Interesse übernehmen sollten. Somit verbietet es sich, an dem Vereinigten Königreich ein Exempel zu statuieren, um auf fragwürdige Weise den Zusammenhalt der EU zu erzwingen.

Einen ausführlichen Aufsatz der Wissenschaftler zu ihrem Vorschlag können Sie auf der Seite des Ifo-Instituts lesen

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