Arznei-Lieferketten - Medikamente Mangelware

Während das ganze Land auf Covid-Vakzine und Impfquoten schaut, herrscht im Kampf gegen andere Krankheiten oft Medikamentenknappheit. Der Grund sind Lieferengpässe und eine internationale Pharmaproduktion, die auch vor Corona bereits störungsanfällig gewesen ist.

Ist die Pharmaindustrie von China und Indien abhängig? / Julia Kluge
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Susanne Donner ist freie Journalistin und schreibt zu Themen aus Medizin, Gesellschaft und Ökonomie.

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Für Patienten ist es eine böse Überraschung, wenn es in der Apotheke heißt, der Blutdrucksenker Valsartan sei momentan nicht lieferbar. Es gebe zwar ein Ersatzpräparat, aber das koste knapp 50 Euro Zuzahlung. Lieferengpässe sind mittlerweile Alltag in deutschen Apotheken. Mal ist es ein bestimmtes Antibiotikum, das aktuell nicht verfügbar ist, mal ein Fiebersaft für Kinder, mal sind es Krebsarzneien. 

Dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zufolge hat die Häufigkeit solcher Versorgungsschwierigkeiten zugenommen, besonders sprunghaft seit dem Jahr 2018. Die Behörde erfasst nur versorgungsrelevante Medikamente und beruht auf freiwilligen Meldungen der Hersteller. Auch die Apotheke des Universitätsklinikums Freiburg, die eine eigene Statistik zur Verfügbarkeit aller Arzneien führt, stellt fest, dass das Problem langsam, aber ständig zunimmt. Apothekerverbände und Ärzte klagen darüber. 

Die Industrie beschwichtigt

„Die Schwere und Tiefe der Lieferengpässe wächst. Die Ausfälle dauern Wochen bis Monate“, warnt Andreas Schulze-Bonhage, Leiter des Epilepsiezentrums am Universitätsklinikum Freiburg. Sein Fachgebiet ist besonders betroffen: Von Mitte 2018 an wurde die Arznei Lamotrigin gegen epileptische Anfälle und Parkinson bei einem ersten Hersteller knapp. Von da an spitzte sich die Situation immer weiter zu. Ab Ende 2019 bis 2020 konnten mehrere Hersteller Lamotrigin nicht mehr liefern. Aus der Pharmaindustrie hört man hingegen Beschwichtigungen. Die Arzneimittelversorgung sei in Deutschland gut, von einem Versorgungsengpass könne keine Rede sein, beteuert der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller. Schließlich gebe es stets Ersatzpräparate. 

Zwar sind die meisten von etwa 103 000 hierzulande zugelassenen Arzneimitteln tatsächlich durchgängig verfügbar. Und es ist nicht wie in der Ukraine, wo ständig Menschen an Tuberkulose sterben, weil eines oder mehrere der vier für die Behandlung notwendigen Antibiotika nicht verfügbar ist. Aber wer Lieferengpässe als Problem auf dem Papier hinstellt, negiert die in Studien gut belegten Risiken und Gesundheitsschäden durch Umstellung von Präparaten. Medizinprofessor Schulze-Bonhage erklärt die Gefahr am Beispiel Epilepsie: „Wenn wir einen Patienten von heute auf morgen auf ein anderes Präparat umstellen müssen, verursacht das mitunter Entzugsanfälle, die sehr gefährlich sind.“

Produktion in Asien

Ins breite Bewusstsein von Politik und Öffentlichkeit drang das Problem zu Beginn der Corona-Pandemie. Forderungen kamen auf, man möge die zu großen Teilen nach Asien abgewanderte Arzneimittelproduktion zurück nach Europa holen. Denn viele fürchteten, die Lieferungen könnten versiegen. Ein solch dramatischer Engpass trat allerdings nicht ein. Zwar gingen einigen Kliniken zwischenzeitlich die Betäubungsmittel für beatmete Patienten aus, weil die Medikamente weltweit gefragt waren. Aber gegen Covid hatten Ärzte ohnehin zunächst keine erwiesenermaßen wirksamen Medikamente. „Stünde hinter der Pandemie ein Bakterium, wäre die Lage anders gewesen“, sagt Mat­thias Braun, Geschäftsführer Pharmazeutische Produktion und Fertigung beim französischen Pharmakonzern Sanofi. „Geschätzte 90 Prozent der Antibiotika­produktion sind heute in Asien.“ 

Trotz der gestiegenen politischen Aufmerksamkeit dehnt sich der Mangel an einzelnen Medikamenten weiter aus. Weshalb? Die Arzneiproduktion sei global; die Herstellung der Vorprodukte und Wirkstoffe konzentriere sich zunehmend auf Asien und entzöge sich damit mehr und mehr der Kontrolle hiesiger Unternehmen, heißt es in einer Schweizer Analyse. Weiterhin gäbe es für etliche Vorprodukte und Wirkstoffe global oft nur noch wenige, mithin sogar nur noch einen Hersteller.

Verworrene Lieferketten

Explodiert dann eine Fabrik, wie 2016 im Fall des Antibiotikums Piperacillin-Tazobactam in China, oder lässt ein Land keinen Impfstoff außer Landes, wie im Fall des Covid-Impfstoffs des weltgrößten Herstellers Serum Institute of India, fallen diese Produkte weltweit weg. Als 2018 bekannt wurde, dass der Blutdrucksenker Valsartan aus einer chinesischen Fabrik mit einer krebserzeugenden Substanz verunreinigt war, löste der Ausfall dieses Werkes global eine Knappheit bei dem Medikament aus. „Solche Flaschenhälse in der Produktionskette sind besonders bei Produkten, bei denen der Patentschutz abgelaufen ist, den Generika, häufig“, sagt Braun. Und das, obwohl, wie er betont, gutes Einkaufsmanagement darin bestehe, neben dem Preis und den Umweltstandards die Liefersicherheit zu berücksichtigen. 

Pharmakonzerne wissen, dass zwei Lieferanten besser sind als einer. Aber die Produktionskette ist lang. Mitunter führt sie über einige Dutzend Chemikalien bis zur Tablette. Oft übernimmt eine Fabrik nur einige Etappen dieses Weges in einer global arbeitsteilig organisierten Produktion. Über die gesamte Kette zweigleisig zu fahren, bedeutet doppelte Qualitätssicherung, zweifacher administrativer Aufwand, der Geld kostet und am Gewinn der in Europa ansässigen Pharmaunternehmen zehrt. Es ist verlockend, sich Krisenfestigkeit zugunsten der Rendite zu (er)sparen. 

Plötzliche Knappheiten

Die Flaschenhälse werden erst sichtbar, wenn die Produktion nicht in gewohnter Manier läuft. „Wenn die Prophylaxe vor einer HIV-Infektion, die sogenannte PrEP, knapp wird, fehlt sie im Nu von allen Herstellern“, berichtet der Kölner Apotheker Erik Tenberken. Als die USA unter Präsident Donald Trump die Grenze zu Mexiko abriegelten, brach die Versorgung einiger Immunglobuline ein, so Tenberken, weil diese offenbar zu einem erheblichen Anteil von süd- und mittelamerikanischen Blutplasmaspendern stammen.

Ein ähnlicher Flaschenhals führte zu dem Mangel des Epilepsie-Medikaments Lamotrigin. Einem spanischen Wirkstoffproduzenten wurde das Herstellungszertifikat entzogen. Der in Hamburg ansässige Mittelständler Desitin ist Marktführer für Antiepileptika in Deutschland. Er bezieht den Wirkstoff Lamotrigin von einem indischen Produzenten. „Wir konnten aber mit der plötzlich hochschnellenden Nachfrage infolge des Ausfalls der spanischen Produktion nicht Schritt halten“, sagt Philipp Bloching, Co-CEO von Desitin in Hamburg.

Indien und China übernehmen

Der Mittelständler ist einer der wenigen Pharmahersteller im Bereich der Generika, der seine Tabletten, Tropfen und andere Arzneien nach wie vor überwiegend in Deutschland fertigt. Die Wirkstoffe allerdings bezieht auch Desitin von Lieferanten aus aller Welt, auch aus Asien. Die Abwanderung der Zulieferer nach China und Indien hält dabei bis heute an. Betrug der Anteil außereuropäischer Lieferanten im Jahr 2011 – namentlich von Indien und China – noch 35 Prozent, waren es im letzten Jahr bereits 41 Prozent. Eine Analyse des Deutschen Instituts für Wirtschaft zeichnet ein noch deutlicheres Bild: Die Zahl der Pharmaunternehmen in China ist von 2010 bis 2018 jedes Jahr um 1,3 Prozent gewachsen. In Europa samt der Schweiz schrumpfte die Zahl im selben Zeitraum um 0,8 Prozent pro Jahr. 

Paracetamol zum Beispiel wurde einst in Europa hergestellt. „Heute produzieren Indien und China den größten Teil der 120 000 Jahrestonnen, nachdem ein chinesischer Hersteller ein Vorprodukt, das Nitrophenol, so günstig angeboten und damit teurere Konkurrenten aus dem Markt geboxt hat“, sagt Braun. 
Von Asien hängt die Grundversorgung der großen Masse der Patienten hierzulande ab. Es sind die Tabletten, die wir bei einem Infekt, bei einer Migräneattacke oder einem Hexenschuss nehmen. Antibiotika, Blutdrucksenker und Schmerzmittel landen per Frachtschiff aus Indien oder China an. 

Generika und Patentprodukte

Die großen Gewinne machen europäische Hersteller gerade auch mit dem preiswerten Einkauf aus Fernost –darüber hinaus mit patentgeschützten neuen Medikamenten, etwa gegen Krebs, Rheuma und Asthma, auch gegen seltene Erkrankungen. Diese Neuheiten werden oft fünfstellig oder höher je Therapie im deutschen Gesundheitssystem vergütet, wohingegen Generika nur einige Cent bis Euro je Verschreibung einbringen. 

„Wir sind im Generikamarkt noch da, weil wir uns auf besondere Darreichungsformen, wie Tabletten, die langsam den Wirkstoff freisetzen, spezialisiert haben“, erklärt Bloching, „und weil wir als Familienunternehmen mit Hamburg verbunden sind. Würden wir nach rein monetären Gesichtspunkten agieren, hätten wir das Unternehmen verkauft, und es wäre längst nach Asien gewandert.“ Der Umsatz von Desitin liegt stabil bei etwas mehr als 100 Millionen Euro. „Wir sind damit natürlich nicht zufrieden, weil es mit Blick auf die Inflation einen Netto-­Rückgang bedeutet“, so Bloching.

Rückholaktion 

Fabriken in China und Indien sind preiswerter zu betreiben – aufgrund niedrigerer Umweltstandards und vor allem viel geringerer Löhne. „Sie werden viel größer gebaut, weil die lokalen Märkte aufgrund der schieren Bevölkerungszahl viel größer sind“, nennt Braun einen weiteren Grund für die Rentabilität in Fernost. Der Markt für Pharmawirk­stoffe wächst jedes Jahr um 6 Prozent, weil in den Ländern des Südens mehr Menschen Zugang zu Medikamenten bekommen und weil in den Ländern des Nordens immer mehr Menschen Medikamente brauchen. Die Massenpräparate aus China und Indien, die hiesige Pharmaunternehmen und Händler dort günstig einkaufen, bedingen auch die Dividenden von Pharmakonzernen in Europa und die mehr als auskömmlichen Gehälter der Beschäftigten dort. Das sind Folgen der Auslagerung nach Fernost, die gern ungenannt bleiben, aber zum vollständigen Bild dazugehören, wenn aus der Politik die Forderung kommt, man solle die Pharmaproduktion nach Europa zurückholen.

Frankreich versucht gerade eine solche Rückholaktion: Mit Staates Kraft revitalisiert das Land die Paracetamol-Produktion am Standort des Herstellers Sequens südlich von Lyon. 2008 hatte das letzte Werk für die Allround-Arznei geschlossen. Die Kosten sollen französischen Medienberichten zufolge bei 100 Millionen Euro liegen. An die 40 Millionen verspricht die Regierung in Paris. 2023 soll die Produktion von Paracetamol auf französischem Terrain anlaufen. Sanofi ist eines der Unternehmen, das aus dem Wirkstoff dann Tabletten pressen wird. Dennoch lässt Sanofi-­Manager Braun durchblicken, dass er eine massenhafte Rückholaktion von Pharmafabriken aus Asien für illusorisch hält. Zumal die Ursachen der Abwanderung in einem freien Markt nach dem Kraftakt ja nicht behoben sind.

Zwangsbevorratung und Mindestreichweite

„Zu glauben, bereits abgewanderte Arzneifertigungen einfach zurückholen zu können, ist realitätsfern und käme teuer“, sagt Jasmina Kirchhoff, Projektleiterin der Forschungsstelle Pharmastandort Deutschland vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. „Mithin profitieren wir auch von der Arbeitsteilung, indem wir unsere Hightech-Innovationen nach Asien verkaufen.“ 

In Deutschland fordern mehrere Parteien, Hersteller zur Zwangsbevorratung von Medikamenten zu verpflichten. „Dann müsste man aber sagen, welche Produkte die Firmen lagern sollten“, so Kirchhoff. Naturgemäß kennt niemand die nächste Krise, ob Explosion oder Naturkatastrophe. Insofern wäre es schlüssig, lediglich eine praktikable Mindestreichweite für alle Medikamente vorzuschreiben.
Mindestreichweiten von ein bis zwei Monaten seien in der Branche üblich, behauptet Pharmamanager Braun. Wenn aber tatsächlich jeder Akteur der Lieferkette Ware für zwei Monate auf Lager hätte, würden die Tabletten bei einer straffen Produktion mit nur zehn Akteuren schon 20 Monate verfügbar sein. Das Rechenbeispiel zeigt, wie viel an Krisenfestigkeit gewonnen werden könnte, wenn jeder mindestens ein wenig Verantwortung übernähme. 

Auf dem Rücken der Patienten

Eines ist klar: Die mangelnde Resilienz von Produktionsketten in der Pharmabranche ist ein komplexes Problem. Mit einer Maßnahme allein lässt es sich nicht lösen. Im Moment aber wird es auf dem Rücken der Apotheker und Patienten ausgetragen. „Allein eine Person ist den ganzen Tag damit beschäftigt, Ersatz für nicht lieferbare Medikamente zu beschaffen“, klagt Martin Hug, Direktor der Apotheke am Universitätsklinikum Freiburg. Manchmal pressen Apotheker die Tabletten inzwischen selbst, indem sie den reinen Wirkstoff im Großhandel erwerben. Das ist riskant, aber erlaubt. 

Die schleichend zunehmenden Lieferengpässe sind eine Warnung, jedenfalls, wenn man nicht alle Tabletten wie Teddybären aus Asien beziehen möchte: „Im Moment haben wir das Geschäftsmodell Hightech in Europa. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis uns Indien und China auch da den Rang ablaufen“, sagt Braun. In den Handelsdaten ist das schon sichtbar. Die Zahl der Originalpräparate, die aus China und Indien kommen, wächst. 

Premium-Produktion in Europa

Sanofi lagert aktuell sechs seiner Standorte in ein neues Unternehmen namens Euroapi mit Sitz in Frankreich aus: Am 1. November geht es offiziell an den Start. Es soll sich neben Lonza als Lohnfertiger für Arzneimittel und Wirkstoffe im EU-Raum und als Weltrangnummer zwei etablieren. Sanofi werde Anteile von 30 Prozent an der neuen „Plattform für Arzneien made in Europe“ halten. Der Zeitpunkt für die Abspaltung könnte sich kaum besser in die politische Stimmung einfügen. Angekündigt hatte das Unternehmen den Schritt vergangenen Februar, als Europas Abhängigkeit von Asiens Pharmafabriken maximale Aufmerksamkeit erfuhr. Der neue Wirkstoffchampion werde helfen, die Abhängigkeit von Asien auszutarieren, verkündete Sanofi.

Also geht es offenbar doch, Paracetamol und Co. in Frankfurt herzustellen bei hiesigen Löhnen und ohne staatliche Geldspritze? „Nein“, entgegnet Braun, „das werden keine Commodities sein, sondern Arzneien im höheren Preissegment.“

 

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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