Münchner Sicherheitskonferenz - Olaf Scholz formuliert neue Agenda

Die Sicherheitskonferenz in München steht voll unter dem Eindruck der Ukrainekrise. Bundeskanzler Olaf Scholz nahm an diesem Samstag seinen Auftritt zum Anlass, um eine neue sicherheitspolitische Agenda zu definieren. Die EU-Kommissionspräsidentin will derweil die Union unabhängig machen von russischen Energielieferungen.

Bundeskanzler Olaf Scholz bei seiner Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Der erste Auftritt von Olaf Scholz als Bundeskanzler bei der Münchner Sicherheitskonferenz war geprägt durch ein klares Bekenntnis zum westlichen Verteidigungsbündnis, zur EU – und zu den Werten Demokratie, Menschenrechte und Selbstbestimmungsrecht der Völker. Natürlich lag der Fokus des Kanzlers – wie überhaupt der gesamten Sicherheitskonferenz – auf der aktuellen Russland-Ukraine-Krise, und Scholz nahm dies zum Anlass, um vier wesentliche Punkte zu einer Neuverortung der Nato und der Europäischen Union zu formulieren. „In Europa droht wieder Krieg“, leitete er seine Worte an diesem Samstagvormittag in München ein; der Aufmarsch von mehr als 100.00 russischen Soldaten im ukrainischen und belarussischen Grenzgebiet sei „durch nichts gerechtfertigt“. Zwar sei man von westlicher Seite aus bereit zu verhandeln, aber es gelte zu differenzieren zwischen „unhaltbaren Forderungen“ einerseits und andererseits „legitimen Sicherheitsinteressen“ auf der russischen Seite.

Die vier Punkte für ein neues Verständnis von EU und Nato bestehen für Scholz zum ersten aus einem breiteren Verständnis von Sicherheit insgesamt; dieses müsse auch Aspekte wie Gesundheit, Klima und Cyberspace umfassen. Es gelte, neue Bedrohungsformen in den Blick zu nehmen, so Scholz, der sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich für eine besser ausgestattete Bundeswehr aussprach – dies sei man den Verbündeten schuldig. Als zweiten Punkt nannte er eine nüchterne „Analyse der Welt um uns herum“, und dass man sich künftig auf unterschiedliche globale Machtzentren einzustellen habe. Hierbei nahm er insbesondere China und Indien in den Blick, deren wirtschaftlicher und geopolitischer Wiederaufstieg völlig legitim sei, gleichwohl aber nicht dazu führen dürfe, dass universelle Regeln beiseitegeschoben würden. „Kein Land darf der Hinterhof eines anderen sein“, sagte Scholz, der für diesen Satz spontanen Applaus aus dem Publikum erhielt.

Mehr europäische Souveränität

Der dritte Punkt ist für den Bundeskanzler das Streben nach mehr europäischer Souveränität in Sicherheitsfragen; entsprechende Fähigkeiten müssten innerhalb der EU gebündelt werden. Dass hierfür die Länder des westlichen Balkan möglichst rasch in die Union aufgenommen werden sollten, machte Scholz an dieser Stelle sehr deutlich. Europa müsse nicht nur seine gemeinsamen strategischen Ziele definieren, sondern in die Lage versetzt werden, diese auch zu erreichen. Dazu brauche es eine aktive europäische Diplomatie – etwa gegenüber Iran, in dessen Richtung der Kanzler eine unmissverständliche Warnung wegen des fortschreitenden Atomprogramms aussprach. Punkt vier schließlich bestand in einem Appell an den transatlantischen Zusammenhalt: „Let us stick together!“

In einer anschließenden Fragerunde zeigte sich Scholz aufgeräumt und für seine Verhältnisse relativ auskunftsfreudig. Ob es noch Spielräume zur Deeskalation in Sachen Ukraine gebe, wollte ein Teilnehmer etwa wissen. Die Antwort: Der russische Truppenaufmarsch sei eindeutig, eine Invasion der Ostukraine jederzeit möglich – gleichwohl sei ein solches Szenario noch abwendbar. Deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine stünden Rüstungsexportvorschriften entgegen; in diesem Zusammenhang erinnerte der Kanzler jedoch daran, dass die Bundesrepublik der Ukraine in der Vergangenheit die mit Abstand größten Finanzhilfen geleistet habe – was hinter verschlossenen Türen von der ukrainischen Seite anerkannt werde und Scholz zufolge durchaus auch einmal öffentlich artikuliert werden könne. Diese Bemerkung war ein klarer Seitenhieb auf den ukrainischen Botschafter Melnyk, der Deutschland wegen seiner restriktiven Haltung in Sachen Rüstungsexport zuletzt massiv kritisiert hatte.

Eher ausweichend zeigte sich der Bundeskanzler bei der Frage, ob die Ukraine der EU und der Nato beitreten könne und solle. Dies stehe derzeit nicht auf der Tagesordnung, auch wenn die Union und das Verteidigungsbündnis grundsätzlich offen für neue Mitglieder seien. Von der Nato gehe jedenfalls keine Gefahr aus, weil es sich um ein reines Verteidigungsbündnis handele.

„Gesetze des Stärkeren“

Vor dem Auftritt von Scholz waren noch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg zu Gast auf der großen Bühne der Münchener Sicherheitskonferenz. Von der Leyen sprach davon, dass im Falle einer Eskalation der Situation an der ukrainischen Grenze die internationale Ordnung „neu definiert“ würde. China und Russland wollten die „Gesetze des Stärkeren“ durchsetzen, die EU müsse zu entsprechenden Reaktionen bereit sein. Mit Blick auf Russland drohte sie für den Fall einer Invasion der Ostukraine mit Sanktionen im Energie- und Hochtechnologiesektor, Moskau werde in diesem Fall einen hohen wirtschaftlichen Preis zahlen.

Die EU müsse Unabhängigkeit von russischen Energieträgern erlangen; sollte die Lage jetzt eskalieren, drohten Europa in diesem Winter gleichwohl keine Engpässe. Das Hauptaugenmerk der Kommissionspräsidentin lag eindeutig auf einer künftigen Diversifikation der europäischen Energieversorgung, um nicht von Russland abhängig zu sein. Mit Blick auf die Ukraine merkte von der Leyen an, diese sei zwar keine „perfekte Demokratie“, aber immerhin auf gutem Wege dorthin. Das Land erfahre die „geschlossene“ Unterstützung der EU.

Der Ende des Jahres aus seinem Amt scheidende Nato-Generalsekretär bezeichnete das Risiko eines Krieges als „sehr real“, die russische Truppenkonzentration in den Grenzgebieten werde entgegen anderslautender Beteuerungen Moskaus derzeit fortgeführt. Dennoch sei die Nato zu Verhandlungen bereit. Stoltenberg sagte, bei der aktuellen Krise gehe es um mehr als um die Ukraine; vielmehr versuche Moskau, die Geschichte in Richtung der Zeiten des Kalten Krieges zurückzudrehen. Den neu hinzugekommenen Nato-Staaten, die einst dem Warschauer Pakt angehört hatten, versprach Stoltenberg volle Rückendeckung: „Es gibt keine Nato-Länder erster und zweiter Klasse.“ Er stellte klar, dass das Bündnis nur der Verteidigung diene und insofern keine Bedrohung Russlands darstelle. Die derzeitige Eskalation von russischer Seite führe dazu, dass Moskau „mehr Nato und eine stärkere Nato“ bekomme.

Heusgen statt Ischinger

Die Münchner Sicherheitskonferenz, von Bayerns Ministerpräsident Markus Söder am Samstagvormittag ironisch als bündnispolitisches „Speeddating“ bezeichnet, findet dieses Jahr wieder in Präsenz statt – allerdings vor reduziertem Publikum und weitgehend ohne das sonst übliche Rahmenprogramm. Es ist die letzte dieser Veranstaltungen unter der Ägide Wolfgang Ischingers, der die Konferenz seit 2009 leitet und gegen den soeben Vorwürfe wegen unlauteren Geschäftsgebarens erhoben wurden. Vom nächsten Jahr an übernimmt seine Funktion der langjährige außenpolitische Berater Angela Merkels, Christoph Heusgen.

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