DGB-Chef Reiner Hoffmann - „Ohne sozialen Zusammenhalt fliegt uns der Laden um die Ohren“

Digitale Eliten auf der einen, Arbeitslose und Armut auf der anderen Seite – im Interview warnt DGB-Chef Reiner Hoffmann vor einer Spaltung der Gesellschaft. Gläserne Arbeitnehmer zu verhindern, sei heute eine der größten Herausforderungen der Gewerkschaften

Wozu noch Gewerkschaften? / picture alliance
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Autoreninfo

Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Herr Hoffmann, ist es mit dem 1. Mai wie mit Weihnachten oder Ostern – jeder nimmt den Feiertag gern, kümmert sich aber kaum um die Inhalte?
Ich glaube, das gilt leider tatsächlich für alle Feiertage. Die historische Wucht dahinter ist meist nicht sehr präsent.

Was ist die historische Wucht hinter dem 1. Mai?
Es ist beeindruckend, wie damals am 1. Mai 1886 aus einer Arbeiterversammlung auf dem Haymarket in Chicago eine weltweite soziale Bewegung wurde. Die Welle streikender Arbeiter schwappte anschließend nach Großbritannien, dem Ursprungsland der Industrialisierung über. Der Widerstand gegen die damals neu entstandene Industrieproduktion mit heute unvorstellbaren harten und miesen Arbeitsbedingungen nahm ihren Anfang. Die Menschen haben gemerkt, dass solidarisches Handeln etwas gegen 16-Stunden-Tage und Kinderarbeit ausrichten kann.

Also ein Gedenktag für eine brutale Zeit, die wir längst überwunden haben?
Das liegt daran, dass wir in den vergangenen 150 Jahren unendlich viel erreicht haben. Man stelle sich vor, all die Errungenschaften der Gewerkschaften gäbe es nicht, wie den Acht-Stundentag, bezahlter Urlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Dann würde jeder merken, Gewerkschaften sind heute genauso wichtig wie damals.

Oder eben nicht, weil es uns heute besser geht. Die meisten Leute haben heute einen anständigen Arbeitsvertrag.
In der Tat arbeiten in Deutschland 70 bis 80 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ordentlichen Beschäftigungsverhältnissen. Sie bekommen einen ordentlichen Lohn und haben halbwegs vernünftige Arbeitsbedingungen. Aber sowohl in der Industrie, als auch im Dienstleistungsbereich haben die digitalen Innovationen unsere Art zu arbeiten rasant verändert. In den nächsten Jahren wird diese Entwicklung sich noch beschleunigen.

Arbeitnehmer wünschen sich immer häufiger individuelle Lösungen für ihren Job. Gewerkschaften wirken da mit ihren allgemeinen Ansätzen oft etwas aus der Zeit gefallen.
Richtig ist, dass wir bereits seit Jahrzehnten eine Individualisierung und damit eine Pluralisierung von Lebensstilen erleben. Das hat auch mit dem erreichten Wohlstand zu tun. Da passt es nicht, starre Arbeitszeiten wie etwa den Acht-Stunden-Tag, an fünf Tagen die Woche, von 9 Uhr bis 17 Uhr für alle zu fordern. Nicht nur, weil die Wirtschaft dies aufgrund von Globalisierung verlangt, sondern auch weil Menschen ganz unterschiedliche Bedürfnisse, Vorstellungen und Interessen an der Gestaltung ihrer Arbeitszeit haben. Das ist eine Herausforderung für Gewerkschaften. Dem haben wir uns in den vergangenen Jahren aber gestellt. Das wird nicht immer sichtbar in der Öffentlichkeit, aber es gibt inzwischen sehr viele individuelle Arbeitszeitmöglichkeiten für Beschäftigte in der großen Vielfalt der Tarifverträge.

Dennoch haben Sie Nachwuchsprobleme. Auch soziales Engagement verlagert sich ins Netz. Können die Jungen mit den seit Jahrzehnten immer gleichen Bildern von Trillerpfeifen und roten Gewerkschaftsfähnchen nichts mehr anfangen?
Wir sind mit fast sechs Millionen Mitgliedern immer noch die größte politische Organisation in Deutschland. Aber es stellt sich die Frage, ob unsere Formen der Auseinandersetzung noch zeitgemäß unter den veränderten Rahmenbedingungen sind. Wir haben Nachholbedarf, gerade was die Kommunikation angeht. Wir müssen heute in den sozialen Medien anders kommunizieren, als wir das früher ganz simpel per Pressemitteilung gemacht haben. Das fängt schon bei der Sprache an. Wir müssen unser Gewerkschaftsdeutsch in eine jüngere Sprache übersetzen und konkret formulieren, was wir wofür und für wen machen. Damit haben wir aber angefangen.

Warum kommt das offenbar aber noch nicht an?
Auch Gewerkschaften sind lernende Organisationen. Es liegt auch in der Natur der Sache, dass Gewerkschaften in der medialen Berichterstattung dann vorkommen, wenn es kracht, also wenn wir in Tarifauseinandersetzungen sind. Das ist auch nach wie vor unser wichtigstes Mittel: Wir müssen, um unsere Ziele zu erreichen, streikfähig sein. Die Arbeitgeber müssen wissen, wenn sie sich mit uns nicht einigen können, droht Gefahr. Wir müssen so stark sein, einen Betrieb lahmlegen zu können. Dann kommt es eben zu den klassischen Bildern. Das sieht zwar aus wie „Täglich grüßt das Murmeltier“, ist aber nach wie vor wirkungsvoll. Denken Sie an den Streik bei den Erzieherinnen 2015, nur als Beispiel.

DGB-Chef Reiner Hoffmann

Gerade im Dienstleistungsbereich scheint es mit der Wirkung nicht so gut auszusehen.
Ich war neulich in Bad Hersfeld bei Amazon. Seit mehr als zehn Jahren sind die in Deutschland am Markt und haben nach wie vor mit Gewerkschaften und Betriebsräten nichts am Hut. Stattdessen werden die Arbeitszeiten der Mitarbeiter erfasst. Sogenannte Inaktivitätszeiten werden mit Abmahnungen geahndet. Im Zweifelsfall werden die Leute sogar rausgeschmissen. Amazon weigert sich beharrlich, mit uns Tarifverträge abzuschließen. Es ist wahnsinnig schwer, gegen den eigenen Arbeitgeber zu streiken. Sinnvolle Streiks bekommen wir nur dann hin, wenn sich eine Mehrheit der Menschen, die bei Amazon arbeiten, organisieren.

Wie behindert Amazon das?
Amazon bietet weitestgehend nur befristete Arbeitsverträgen an. Das ist ein enormes Druckmittel. Wer streikt, muss davon ausgehen, dass sein Arbeitsvertrag nicht verlängert wird. Zudem ist die Struktur von Amazon unglaublich perfide. Ganz bewusst geht das Unternehmen in strukturschwache Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit und Leuten, die nicht sehr hoch qualifiziert sind. Die Chance auf Arbeit ist begrüßenswert, aber nicht, wenn die Bedingungen derart beschissen sind.

Arbeitszeiterfassung dient im besten Fall der Prozessoptimierung. Zugleich drohen Arbeitnehmer gläsern zu werden. Lange wurde vor dem Überwachungsstaat gewarnt. Überwacht uns stattdessen längst die Wirtschaft – privat und im Job?
Das ist tatsächlich ein Problem der Digitalisierung. Wir haben völlig neue Datenerhebungen in riesigem Ausmaß. Überwachung hat weniger mehr mit klassischen Tonträgern oder Videokameras zu tun, sondern mit Datenerfassungen, die jeden Klick und jeden Tastendruck verfolgen, analysieren und nachvollziehbar machen. Diese Art der Überwachung konnte man sich vor 30 oder 40 Jahren kaum vorstellen. Damals protestierte man in Deutschland wegen einer Volkszählung, heute geben wir freizügig jederzeit unsere Daten im Internet preis.

Hinterfragen wir Überwachung am Arbeitsplatz nicht, weil das privat längst normal geworden ist?
Das kann durchaus passieren. Darum ist es gut, dass Ende Mai endlich die europäische Datenschutzgrundverordnung in Kraft tritt. Datenschutz ist längst kein nationales Thema mehr. Das muss mindestens europäisch angegangen werden. Doch das alleine reicht nicht. Wir brauchen darüber hinaus einen spezifischen Arbeitnehmerdatenschutz. Es ist ein Unterschied, ob etwa ein Kardiologe wichtige Gesundheitsdaten seines Herzpatienten erfasst und diese gegebenenfalls mit anderen Ärzten austauscht. Hier kann Datenaustausch sogar lebensrettend sein. Gefährlich wird es, wenn diese Daten Arbeitgebern zugänglich gemacht werden. Die schauen dann da rein und denken sich, jemand mit Herz-Kreislaufproblemen stellen wir nicht ein.

Sie wollen zwischen guten und schlechten Daten unterscheiden?
Wir müssen alle lernen, die Errungenschaften zu nutzen, ohne sie zu missbrauchen. Wir dürfen den gläsernen Arbeitnehmer, der minutiös rund um die Uhr erfasst und vermessen wird, niemals zulassen. Wozu noch Gewerkschaften? Das werde ich oft gefragt. Hier wird sehr deutlich, wozu wir gebraucht werden. Das informationelle Selbstbestimmungsrecht muss selbstverständlich auch im Arbeitsbereich gelten. Das wird eine der größten Herausforderungen unserer Zeit.

Nicht nur staatliche Institutionen haben bei der Digitalisierung Nachholbedarf und benötigen Expertenwissen. Wie holen sich Gewerkschaften dieses Wissen?
Zum einen qualifizieren wir unsere Leute selbst. Zum anderen arbeiten wir eng mit Wissenschaftlern zusammen, wie etwa der Hans-Böckler-Stiftung. Mit der haben wir in letzten zwei Jahren eine Expertenkommission geleitet und 54 Denkanstöße zur „Arbeit der Zukunft“ formuliert. Auch hier spielen Daten eine große Rolle. Wir sprechen außerdem mit jungen Menschen, die in Startups arbeiten, mit Arbeitgebervertretern und mit Politikern. Unser Interesse ist immer: Wie gelingt es uns, die Chancen der Digitalisierung zu nutzen? Wie verhindern wir, dass künftig Maschinen und Roboter die Taktung für die Beschäftigten vorgeben? Denn das ist nicht unsere Wertevorstellung. Wir wollen den Menschen in den Mittelpunkt stellen.

Wo müssen Politiker und Arbeitgeber für Zukunft der Arbeit im digitalen Zeitalter dazulernen?
Es geht um viel mehr als nur um den Breitbandausbau. Wir müssen endlich stärker investieren, vor allem in die Bildung unserer Kinder. Das fängt bei maroden Schultoiletten an und geht bei Bildungsinhalten weiter. Sie können noch so motivierte Lehrer mit tollen Konzepten für Inklusion und Integration haben. Wenn die Ausstattung nicht stimmt, wird das nicht funktionieren. An Schulen, wo die Kacheln von den Toilettenwänden fallen, wollen Sie Ihre Kinder nicht schicken.

Auch die Wirtschaft muss endlich auf unsere seit Jahrzehnten bestehenden Forderungen eingehen, die Fortbildung der Mitarbeiter nicht als Kostenfaktor, sondern als Investition in die Zukunft der Mitarbeiter und damit auch der Betriebe zu sehen. Unternehmen dürfen nicht mehr nur für sich selbst handeln, sondern müssen gesamtwirtschaftlich denken.

Das klingt fortschrittlich. Aber haben es nicht auch die in Deutschland und Europa starken Gewerkschaften zu verantworten, dass wir, anders als die USA, heute keine großen Digitalkonzerne vorweisen können? Gerade die starren Arbeitsgesetze, so ein häufiger Vorwurf, würden digitale Startups sehr bremsen.
Bisher haben wir es tatsächlich nicht geschafft, bei den Plattformgiganten in Europa mitzuhalten. Da waren wir immer zu kleinteilig aufgestellt. Das ist aber ein Hinweis darauf, dass Europa in diesem Bereich stärker zusammenarbeiten muss. Was wir im Silicon Valley erleben ist nicht nur, dass sie keine Tarifverträge und Betriebsräte kennen. Dort wird auch nichts mehr produziert. Dort gibt es keine Industrie mehr und das spaltet die Gesellschaft – großer Reichtum und digitale Eliten auf der einen Seite, Arbeitslose und Armut auf der anderen Seite. Das wollen wir hier in Europa nicht.

Einer unserer Vorteile ist, dass wir nach wie vor über eine hohe industrielle Wertschöpfung verfügen. Es geht darum, dass wir die Arbeitnehmermitbestimmung als Innovationstreiber nutzen. 180.000 Betriebsräte in Deutschland – in allen Branchen – gestalten jeden Tag aufs Neue die Arbeitsbedingungen der Leute mit. Die haben doch ein natürliches Interesse daran, dass ihre Unternehmen zukunftsfähig sind. Es geht schließlich um ihre Arbeitsplätze.

Sind Sie sicher, dass Mitbestimmung ein Wettbewerbsvorteil gegenüber us-amerikanischen Unternehmen ist?
Mit Arbeitnehmermitbestimmung können Sie langfristig zukunftsfähig gestalten. Wir sehen immer mehr, dass die Wild-West-Zeit der großen Digitalkonzerne vorbeigeht. Sei das bezüglich der Steuergesetze, des Wettbewerbsrechts, des Datenschutzes und auch des Arbeitnehmerschutzes. Mit unserer europäischen Expertise auf diesen Gebieten haben wir langfristig einen Vorteil. Diese Mitbestimmung war eines der zentralen Themen, auf die ich auf einer Reise ins Silicon Valley immer wieder angesprochen wurde. Es geht nicht nur darum, Marktkapitalisierung an der Börse zu schaffen, sondern um reale Werte in den realen Leben von Menschen. Der Fahrdienst Uber hat eine Marktkapitalisierung von 50 Milliarden Dollar. Da steckt aber keine Fabrik dahinter, sondern es sind zigtausende Fahrer – aber kaum Mitarbeiter mit einem echten Arbeitsvertrag. Das halte ich für eine Blase, die schnell platzen kann.

Wie optimistisch sind Sie noch bezüglich der Globalisierung und Digitalisierung?
Wenn wir vernünftige Bedingungen für die Menschen erreichen, trägt das erheblich zum sozialen Zusammenhalt in den Gesellschaften bei. Achten wir darauf nicht, fliegt uns der Laden irgendwann um die Ohren. Es ist doch interessant, dass sich auf dem jährlichen Wirtschaftstreffen in Davos die CEOs Sorgen machen über die Zukunftsfähigkeit des digitalen Kapitalismus. Die wissen mittlerweile, dass einige Regeln doch nicht so verkehrt sind. Ich bin sicher, dass wir vernünftige Spielregeln brauchen, damit Protektionismus und Nationalismus nicht übermächtig werden. Globalisierung und Digitalisierung sind nicht des Teufels. Aber wir müssen sie vernünftig gestalten, damit alle mitgenommen werden. Wo die Spaltungen größer werden, kommen sonst Populisten, Nationalisten und Protektionisten an die Macht.

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