Querdenker auf Telegram - Tötet nicht den Messenger!

Die Bundesregierung erhöht im Kampf gegen Hass und Hetze den Druck auf den Messenger-Dienst Telegram. Am Ende könnte sogar eine Blockade des Dienstes stehen. Die Maßnahmen sollten wohlüberlegt sein. Will Deutschland sich mit Iran, China oder Russland in eine Reihe stellen, wo Telegram von Oppositionsgruppen genutzt wird? Und „Querdenken“ an sich ist schließlich kein Verbrechen.

Das Logo des Messenger-Dienstes Telegram auf einem Smartphone / dpa
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Drücke ich auf das Telegram-Symbol auf meinem Handy, erscheinen dort Gruppen aus unterschiedlichen Ländern: Da ist „Nexta Live“ aus Belarus mit fast einer Million Mitgliedern, der wichtigste Kommunikationskanal der Oppositionsbewegung, die sich dort gegen den Diktator Alexander Lukaschenko organisiert. Da ist „Nawalny“ mit 250.000 Abonnenten, ein Kanal, über den das Umfeld des inhaftierten russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny Kontakt zu seinen Unterstützern hält.

Und da sind Gruppen wie die „Freien Sachsen“ mit über 100.000 Abonnenten, in denen zu Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung aufgerufen wird. „Mittlerweile hat die Bundespolizei mehr Truppen in Sachsen stationiert als vor 40 Jahren die Sowjetarmee“, schreibt da ein „Jörg Dornau“, die Administratoren der Seite kommentieren: „Damals wie heute: Besatzer raus aus Sachsen!“ Daneben existiert eine Vielzahl von „Querdenker“-Kanälen unterschiedlichster Couleur, auch dezidiert linke wie „Chat Freie Linke Zukunft“, allerdings nur mit knapp 2000 Mitgliedern.

Von Minsk bis Meißen

Seltsam, aber wahr: Die Tonlage in den belarussischen oder russischen Oppositionskanälen ähnelt derjenigen, die in den deutschen Querdenker-Kanälen jeglicher Couleur zu finden ist. Videos von Demonstrationen gegen das Regime werden bejubelt, zu neuen Demos aufgerufen. Die Mitglieder mokieren sich in mal humorvoller, mal aggressiver Form über die Staatsvertreter. Der Unterschied: Belarus ist eine tatsächliche Diktatur, Russland ein autoritärer Staat mit einer politisch abhängigen Rechtssprechung. In der Selbstwahrnehmung der Menschen, die in den Telegram-Kanälen unterwegs sind, scheint es jedoch kaum einen Unterschied zu geben zwischen Russland, Belarus und Deutschland – der „Corona-Diktatur“ sei dank.

Seit seiner Gründung hat sich der Messenger-Dienst Telegram in vielen Ländern zu einem Medium mit 500 Millionen Usern entwickelt, das gerne von Menschen genutzt wird, die gegen die Regierung ihres Landes agieren – und die kein Vertrauen in die von amerikanischen Großkonzernen kontrollierten Apps wie Whatsapp oder den Facebook-Messenger haben. Telegram wurde 2013 von dem russischen IT-Unternehmer Pavel Durov gegründet, der zuvor sehr erfolgreich mit seinem sozialen Netzwerk VK den postsowjetischen Raum dominiert hatte, aber nach politischen Protesten zunehmend unter Druck des Kremls geraten war.

Telegram – Alternative zu Whatsapp und Facebook

Telegram gründete Durov aus diesem Grund außerhalb Russlands. Ein Impressum wird auf der Webseite nicht angegeben, Journalisten haben als Firmensitz allerdings eine Adresse in Dubai identifiziert. Auch das Funktionsprinzip ist nun ein anderes als das eines klassischen sozialen Netzwerks: Konzentration auf mobile Geräte, starke Verschlüsselung, gleichzeitige Funktion eines Messenger-Dienstes und eines „sozialen Netzwerks“ – in den „Kanälen“ finden sich zum Teil Millionen von Mitgliedern und teilen dort Fotos, Videos, Aufrufe zu Demonstrationen und Diskussionsbeiträge. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen zudem: Der Dienst funktioniert auch dann noch, wenn Staaten versuchen, Proteste einzudämmen, indem sie das Internet einschränken.

In Belarus war der Messenger deshalb zentral für die Proteste. Wie zentral, das zeigt die Reaktion des belarussischen Staates: Der erließ nach den mit Gewalt niedergeschlagenen Massenprotesten ein Gesetz, nach dem ganze Telegram-Kanäle als extremistisch eingestuft werden können. Schon die Mitgliedschaft in den Kanälen ist seitdem strafbar. Geschadet hat es der Popularität des Dienstes nicht. Dasselbe gilt für den Iran: Dort nutzen bei einer Bevölkerung von 85 Millionen Menschen 55 Millionen Telegram – und die letzten großen Proteste 2018 wurden über den Dienst organisiert.

Durov gibt sich verantwortungsbewusst

Gründer Pavel Durov zelebriert den Ruf seines Dienstes als Hort der Freiheit und des Protests. Und versucht gleichzeitig immer wieder zu demonstrieren, dass er sich seiner Verantwortung bewusst sei: Auf Drängen der iranischen Regierung etwa ließ er einen Kanal abschalten, in dem zu Gewalt aufgerufen worden war. Nach dem Sturm des Kapitols in den USA vor einem Jahr verkündete Durov auf seinem Kanal, man sei dort gegen Kanäle vorgegangen, die Gewalt befürwortet hätten: „Telegram begrüßt friedliche Debatten und Protest, aber unsere Nutzungsbedingungen verbieten ausdrücklich die Verbreitung öffentlicher Aufrufe zur Gewalt.“

Von einer rigiden Moderation durch Telegram selbst ist in Deutschland bislang nur wenig zu merken. Im Juni verlor dort zwar Attila Hildmann seinen Kanal mit etwa 100.000 Mitgliedern, aber neben Hildmann existiert eine ganze Reihe weiterer Kanäle, in denen munter über die Diktatur in Deutschland und ihren Sturz gefaselt wird.

Polizei fährt Streife auf Telegram

Was tun? Das Justizministerium hat schon im April einen Brief an Telegram geschickt, in dem es den Dienst dazu anhält, die Vorgaben des „Netzwerkdurchsetzungsgesetzes“ umzusetzen. Das würde bedeuten, dass Telegram ebenso wie Facebook, Twitter und YouTube „offensichtlich rechtswidrige Inhalte innerhalb von 24 Stunden“ entfernen muss – was einen erheblichen organisatorischen und finanziellen Aufwand für das Unternehmen bedeutet. Telegram ignorierte das Schreiben und erhielt daraufhin millionenschwere Bußgeldbescheide. Mit der Löschung des Hildmann-Kanals glaubte Durov womöglich, die Wogen glätten zu können. Aber am Prinzip der faktischen Verantwortungslosigkeit hat sich wenig geändert.

Der Polizei bleibt vorerst nichts anderes übrig, als auf Telegram selbst „auf Streife“ zu gehen – so wie es ihnen Journalisten vorgemacht haben. Die heutigen Durchsuchungen in Sachsen im Zusammenhang mit konkreten Plänen zum Mord an Ministerpräsident Michael Kretschmer folgten nach Telegram-Recherchen des ZDF-Magazins Frontal.

Querdenken ist kein Verbrechen

Die neue Innenministerin Nancy Faeser hat nun angekündigt, den Druck auf Telegram erhöhen zu wollen. Sollte Telegram nicht kooperieren, wird als letzte Option das „Geoblocking“, also das Blockieren des Dienstes in Deutschland, nicht mehr ausgeschlossen. Im Kampf gegen gewaltorientierte Extremisten, die sich über Telegram verabreden, sollte der Staat aber auf die Verhältnismäßigkeit seiner Maßnahmen achten.

Zum einen, weil ein zu hartes Vorgehen im Ausland als Ausdruck der Doppelmoral gedeutet werden könnte: Iran, China oder Russland werden es sich nicht nehmen lassen, die Causa als Beispiel für die Einschränkung der Meinungsfreiheit im angeblich so demokratischen Westen propagandistisch auszuschlachten.

Zum anderen: Auch wenn der Mehrheitsgesellschaft nicht gefällt, was da auf Telegram alles geredet und geschrieben wird: Ein Großteil der Aussagen, und seien sie noch so krude, ist von der in Artikel 5 des Grundgesetzes garantierten Meinungsfreiheit gedeckt. Querdenken an sich ist keine Straftat.

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